Kultur # 71 (JPG= …)

 

Kultur # 71

JPG =
Jugendlicher Provoziert Grundlos
Jäger Prokrastiniert Gelegentlich
Jäh Philosophen Geknutscht
Jodler Parken Gebührenfrei
Junge Pflanzen Getröstet
Jakob Psychoanalysiert Gerne
Jupitergroße Perle Gesichert
Job Platzt Gerade
Jürgen Plagt Glücklichsein
Jährliche Panik Genügt 
Jasager Plötzlich Gestorben
Jenseits Prüft Gegenwärtigsein
Jens Pausenlos Gestrig
Joggen Passt Gerade
Jammern Plötzlich Gelingt 
Jutebeutel Panisch Gesucht
Juliane Prügelt Geschenketisch

 

 

Lebensentwürfe # 43 ( Sebastian /Smartphone/Annika…)

Lebensentwürfe # 43

Sebastian ist gut im Ignorieren. Sein Smartphone hat ihn schon vor ewiger Zeit darauf hingewiesen, dass ein Softwareupdate zur Verfügung steht. Er aber geht dieser Information aus dem Weg. Tut jeden Tag einfach so, als würde er den roten Punkt in der oberen rechten Ecke nicht sehen. Er kann einfach jahrelang genau das nicht tun, was das Gerät von ihm verlangt. Aber inzwischen bricht sein Smartphone selbstständig Gespräche ab, schließt unerwartet geöffnete Apps oder öffnet sie nicht mehr. Deshalb hat er sich für heute, Samstag Vormittag, vorgenommen, nicht die Wohnung sauber zu machen, sondern das Smartphone auf Vordermann zu bringen. Neben ihm steht eine Schale Cantuccini und eine Tasse Cappuccino. Er liegt auf dem Sofa, hat die Beine von sich gestreckt und hält das Telefon startklar in der Hand. Er drückt auf Einstellungen, dann auf Softwareupdate und erfährt, dass der Speicherplatz für das Softwareupdate nicht reicht. Er weiß, dass er mit diesem Telefon schon an die zehntausend Aufnahmen gemacht hat. In den letzten acht Jahren, so lange hat er das Telefon schon, haben sich also bestimmt viele Aufnahmen angesammelt, auf die er gut verzichten kann. Er greift nach einem Cantuccini, tunkt es ein und legt los. Das Löschen geht ihm leicht von der Hand. Fotos von Zugabfahrtszeiten, Screenshots von Kinofilmen, die er sich gerne angesehen hätte, landen schnell im Papierkorb. Auch die ewig gleich langweiligen Fotos von Bäumen, die er während unterschiedlicher Spaziergänge gemacht hatte. Ein Baum in Blüte. Noch ein Baum in Blüte. Ein Busch in Blüte. Eine Ente am Ufer. Ein See mit der Spieglung eines Baums. Ein Schwan. Sebastian drückt auf löschen, löschen, löschen. An nichts davon möchte er noch einmal erinnert werden. Erfreut macht er weiter. Diese Art von Lüftung tut ihm gut. Es fühlt sich an wie ein Ausmisten. Vollgestopfte Regale leeren sich wie von selbst. Vergnügt löscht er massenweise Screenshots von Wanderschuhen, die in eine engere Auswahl gekommen wären, wenn er sich die Fotos noch einmal angeschaut hätte. Er löscht ein Foto von einer Markensonnenbrille und hält inne. Vor ihm ist ein Foto von Annika. Er hat schon lange nicht mehr an sie gedacht. Nun ist die ganze Geschichte wieder da. Schlagartig da. Ihr Gesicht füllt nicht nur den Bildschirm aus, sondern auch wieder sein Herz. Er kann Annika spüren, sie fast schon riechen. Er hat sie immer gerne gerochen. Sie roch nach Wasser und Haut. Nie nach Parfüm. Künstliche Gerüche beunruhigen ihn meistens. Vor allem am Hals oder im Gesicht. Da bekommt er schnell das Gefühl, jemand möchte etwas übertünchen oder nicht preisgeben. Wozu, fragt er sich, sind missglückte Liebesgeschichten gut, wenn sie doch nur wieder zu Ende gehen? Er sieht sich das nächste Foto an. Er hält sie im Arm. Auch bei ihnen war das so. Nicht sie hält ihn im Arm, sondern er sie. Auf dem nächsten Foto grinsen sie beide um die Wette. Ihre Beine und ihre kurzen Hosen sind voller Schlamm. Damals lebte Annika in Stettin. Ob sie das heute noch tut, weiß er nicht. Damals hatte er sie für ein verlängertes Wochenende besucht. An einem dieser Nachmittage gab es Starkregen. Zuerst wollten sie gleich rausgehen. Einfach mal wieder von oben bis unten nass werden. Spüren, wie Haare Wasser aufsaugen. Wie sich all ihre Kleidungstücke bis hin zur Unterhose ein bisschen so fühlen können wie trockenes Brot, dass in eine Suppe getunkt wird. Dann entschieden sie aber, mit dem Rausgehen doch zu warten. Wegen ihrer Leidenschaft für Gerüche. Sie wollten all die Sommerdüfte erschnuppern, die der Regen mit seinen Tropfen auf Blumen und Gewächse freischüttelt. Der Himmel hatte in so kurzer Zeit so viel Wasser entlassen, dass der Boden die Feuchtigkeit nicht vollständig hat aufnehmen können. Auf einem leicht abwärts führenden Weg sind sie beide hintereinander ausgerutscht und im Schlamm gelandet. Er wischt weiter. Das nächste Foto zeigt Annika neben einer blauen Vespa. Das war ein paar Wochen später. Annika ist braungebrannt. Sie haben beide viel Sonne getankt. Fuhren an Strände und an Seen. Während der Fahrt hatte sie ihre Oberschenkel immer fest gegen seine gepresst. Er wischt weiter. Ein Selfie mit Fisch. Das war ein Monat später. Er hat auf dem Wochenmarkt Fisch gekauft und hält ihn zusammen mit seinem Gesicht vor die Kamera. Der Fisch war für das Geburtstagsessen gedacht. Er legt das Telefon zur Seite. Mehr Fotos von dieser Zeit erträgt er jetzt nicht. Damals hat er sich gewünscht, seinen Geburtstag bei und mit ihr zu feiern. Und dann wollte sie wissen, auf welcher Straße er sich gerade befindet. Er war unterwegs, um Lebensmittel für das Geburtstagsessen zu kaufen, das wusste sie. Sie hatte ihn nur angerufen, um ihn zu fragen, wo er jetzt gerade sei. Einfach so. Ihm kam das albern vor, da er nicht in der Nähe eines Straßenschilds stand, kein polnisch konnte, und sich von ihr auch nicht kontrollieren lassen wollte. Er hatte erst vor zehn Minuten ihr Haus verlassen. Also hat er es ihr nicht gesagt. Danach weigerte sie sich, mit ihm seinen Geburtstag zu feiern, ließ ihn allein in ihrer Wohnung zurück und fuhr zu ihrer Schwester. Ihre Geschenke hatte sie ihm dagelassen, ihre Zeit und ihren Körper nicht. Damals war er zornig. Fuhr nach Hause und warf dann gleich die Seife weg, die sie ihm zum Geburtstag geschenkt und auch die Socken, die sie für ihn gestrickt hatte. Er stöhnt auf. Töne in den Raum hinein zu entlassen hilft ihm nicht nur beim Sex. Jetzt hilft es ihm auch dabei, seinen Unmut in den Raum zu tragen. Wenigstens kommen jetzt Laute heraus, denkt er. Die, die er damals nicht herausbekommen hat. Er hatte den ganzen Unmut einfach für sich behalten. Immer noch glaubt er daran, dass ihm etwas erspart bleibt, wenn er nichts tut. Er hat einfach seine Stacheln aufgestellt und ist dabei geblieben. Ist fünf Jahre lang still geblieben. Komplett verstummt. Hat ihr gegenüber keinen Ton mehr von sich gegeben. Wieder ein Abbruch, den er nicht hat überbrücken können. Sebastian bemerkt, dass noch mehr Töne aus ihm heraus wollen. Er lässt sie zu. Es sind dunkle Töne. Sie erschrecken ihn. Da ist etwas, das aus seiner Seele will. Er nimmt das Telefon doch wieder in die Hand und versucht die Aufnahmen von Annika zu löschen. Er schafft es nicht. Nicht jetzt. Er legt das Telefon wieder zur Seite, greift nach dem Henkel seiner Kaffeetasse und nimmt einen Schluck. Heute wird er mit dem Löschen nicht weiterkommen, das spürt er. Auch andere Fotos mag er nun nicht mehr löschen. Das Löschen hat jetzt eine andere Bedeutung bekommen. Es kommt ihm vor, als würde er seinem Leben dadurch noch mehr Löcher zufügen. Das will er nicht. Er versucht seine Schultern zu entspannen, schaut aus dem Fenster und betrachtet den großen Baum. Jedes Jahr treibt er aufs Neue Blätter aus sich heraus. Lauter kleine Geburten sind das. Hunderte. Tausende. Zehntausende. Sebastian lässt seinen Blick bei den Blättern verweilen. Der Anblick der Blätter beruhigt ihn. Sie schenken ihm etwas. Zeigen ihm, was sie können. Sie können Löcher füllen. Luftlöcher. Jedes Jahr aufs Neue. Schön sieht das aus. Nun greift Sebastian doch noch einmal nach dem Telefon und schießt ein paar Fotos von dem Baum.

 

"

Lebensentwürfe # 44 ( Mutter loswerden Übung…)

Lebensentwürfe # 44

Marie hat schon oft versucht, sich von ihrer Mutter zu trennen. Gelungen ist ihr das bisher noch nicht. Als ihre Mutter noch einen Körper hatte – Marie ist überzeugt, dass es ihre Mutter auch noch ohne Körper gibt – kam sie mit diesem Körper öfter Mal angereist, um Marie in der Großstadt zu besuchen. Stand der Mutterkörper dann vor ihrer Tür, ließ Marie ihn jedesmal herein. Deshalb steht auch immer noch auf ihrem Wunschzettel: mehr Distanz zur Mutter haben. Marie hat sich nie an den Kontakt mit ihrer Mutter gewöhnen können. Ihre Mutter hatte die Fähigkeit, Dinge gut klarzustellen. Da kannte ihre Mutter kein Pardon. Wenn es sein musste, hat sie zum Beispiel einfach mal so Maries Lieblingskleidungsstücke verbrannt, damit die Machtverhältnisse wieder eindeutig sind. Marie war dabei, als ihre Mutter starb. Sie hat mit eigenen Augen gesehen, wie leblos der Mutterkörper geworden ist. Seit der Körper ihrer Mutter tot ist, kann Marie mit Sicherheit sagen, dass der Spuk vorbei ist, aber das Mutterprogramm läuft auch ohne Updates weiter. Früher fühlte sich Marie in Anwesenheit ihrer Mutter verloren. Jetzt fühlt sie sich in der Welt verloren. Letzte Woche hat Maries Therapeutin zu ihr gesagt, Marie solle eine Übung machen. Die Therapeutin unterstützt Marie in dem Wunsch, Prägungen abzuschütteln. Marie soll sich hinlegen, die Augen schließen und sich vorstellen, wie sie ihre Mutter los wird. Dabei dürfe sie nichts unversucht lassen. Sie könne Waffen verwenden, Zauberer herbeiwünschen, Menschen bestechen. Alles was sich gut anfühle, dürfe sie tun. Es gäbe keine Schuld. Es ginge auch nicht um Moral. Nur darum, sich Erleichterung zu verschaffen. Marie hat zugestimmt, die Übung zu machen. Aber in den letzten Tagen war ihr nie danach. Heute ist es anders. Heute hat sie die nötige Kraft. Marie legt sich auf das Sofa, deckt sich zu, schließt die Augen und besorgt ihrer Mutter gleich mal eine andere Tochter. Noch besser: gleich mehrere andere Töchter. Ihre Mutter darf sie alle verschleißen. Und sobald sie verschliessen sind, bekommt sie neue. Aber ihre Mutter lässt sich nicht auf die anderen Töchter ein. Spielt das Spiel nicht mit. Energetisch tut sich nichts. Marie beschließt, dass ihre Mutter ab jetzt immer glücklich sein kann. Dass ihr nun alle Wünsche erfüllt werden, damit sie so glücklich wie noch nie sein kann. Marie spürt keine Veränderung. Nur, dass ihre Mutter auch nicht am Glücklichsein interessiert ist. Sie bleibt unglücklich. Marie schickt ihre Mutter zu Jesus, zu dem sie immer gebetet hat. Er soll ihre Mutter behandeln. Maries Mutter lässt Jesus Wirkmöglichkeiten nicht zu. Jesus kann nicht weiter helfen. Angestrengt überlegt Marie weiter. Sie hat eine weitere Idee. Sie lässt ihre Mutter schrumpfen, sie vor ihren Augen kleiner werden. Kleiner und kleiner und noch kleiner. Nun ist Maries Mutter ein Kirschkern. Marie atmet auf. Erleichterung tritt ein. Marie steckt die Mutter in die Hosentasche. Jetzt kann sie jeden Tag sehen, dass ihre Mutter nur ein geschrumpftes Etwas ist. Die Erleichterung bleibt nicht. Marie legt die Kirschkernmutter in eine Gefriertruhe. Aber das reicht auch nicht. Marie zaubert eine Maschine herbei. Der Kirschkern wird zu Staub zermalmt. Marie schüttet das Pulver in ein kleines Tütchen aus Pergamentpapier und wirft es ins Feuer. Marie atmet auf. Aber nicht für lange. Auch die Erleichterung bleibt nicht. Hat keinen dauerhaften Bestand. Marie beschließt abzuhauen. Die Erde zu verlassen. Sie will nicht mehr auf dem Planeten wohnen, auf dem auch ihre Mutter geboren worden ist. Marie schnippt sich mit den Fingern ein Raumfahrtzeug herbei. Marie möchte nicht alleine umziehen. Drei nette Wesen tauchen auf. Super starke Frauen, die kugelrund, weich und warm sind und nach Brot duften. Marie stellt zweihundert schwer bewaffnete Soldaten auf, die den Start sichern. Die Soldaten kontrollieren den Luftraum. Ihnen entgeht nichts. Mögliche Angriffe würden sie erkennen. Marie reicht das aber noch nicht. Sie legt den gesamten Flugverkehr lahm und schaltet dann auch noch den Strom ab. Sie möchte, dass es während ihrer Flucht auf der ganzen Welt keinen Strom gibt. Ihr Raumschiff soll nicht noch kurzfristig von Militärjets abgeschoßen werden können. Marie beschließt auch, dass ihre Mutter nie etwas über ihren neuen Heimatplaneten erfahren wird. Die Flucht gelingt. Marie erholt sich gut. Auf dem neuen Planeten gibt es schöne Moose, Tiere, Wälder, Flüsse und die drei Frauen, mit denen sie kuscheln und sich gut unterhalten kann. Aber nach einer gewissen Zeit spürt sie, dass ihre Mutter immer noch in ihren Zellen verankert ist. Dort einfach weiter wohnen geblieben ist. Immer noch gehören Maries Zellen nicht ausschließlich ihr. Zusätzlich erfährt Marie, dass ihre Mutter erneut inkarniert und auf der Suche nach Marie ist. Marie weiß, dass ihre Mutter durch die Zellen irgendwann eine Verbindung zu ihr herstellen kann. Egal wie weit Marie weg ist. Ihr altes Dilemma. Marie zaubert sich einen riesigen Magneten herbei. Er soll die Energie ihrer Mutter aus ihren Zellen ziehen. Und hinter dem Magneten wird sich ein schwarzes Loch befinden, dort wird die Mutterenergie hinein fallen und transformiert werden. Dann wird Marie auch von ihrer Mutter nicht mehr zu finden sein. Marie zaubert sich Schamanen herbei. Drei an der Zahl. Sie sollen sie bei dem Entzug begleiten. Den Schamanen macht der Prozess Angst. Sie halten das Vorhaben für zu gefährlich. Sie wissen nicht, ob Marie das, ohne Schaden zu nehmen, überleben kann. Sie wissen nicht, was genau dann aus Maries Zellen wird. Ob die Zellen noch ganz sein werden. Marie möchte die Übung abbrechen. Sie spürt eine große Erschöpfung und ein Verlangen nach Tee. Sie schlägt die Augen auf und streift sich die Haare aus dem Gesicht. Sie hat am Kopf geschwitzt. Eine Tasse Pfefferminztee mit Zitrone wird ihr jetzt gut tun. Etwas Harmloses, Gutmütiges.

 

"