Alltag # 68 (Marie und geschlossene Türen…)

Alltag # 68

Marie öffnet die Tür zur Küche. Sie öffnet sie aber nur soweit, dass sie, ohne ihren Körper verdrehen zu müssen, eintreten kann. Nachdem der Übergang vom Flur in die Küche bewerkstelligt ist, schließt sie die Tür gleich wieder. Die Küchenwärme darf nicht in den Flur abhauen. Sie muss sich in der Küche stauen. Seit Tagen versucht sie sich das mit dem Türschließen einzubläuen. Marie nimmt eine kleine Porzellanschüssel aus dem Regal und geht Richtung Tisch. Die Tüte mit den Schoko-Zimt-Mandeln liegt dort. Sie hatte sie bereits heute Vormittag für die Kaffeepause am Nachmittag dorthin gelegt. Diesen Winter werden sich die Heizkosten erhöhen. Im Sommer hatte die Hausverwaltung sie schon darum gebeten, die Nebenkosten anpassen zu dürfen und ihr nahegelegt, dem zuzustimmen. Ich kann das bezahlen, denkt sie, und ich kann mich den neu gegebenen Umständen anpassen. Die Küchentür wird also zu bleiben. Heute. Morgen und überhaupt bleiben diesen Winter alle Türen zu.
Marie hält nicht viel von Glaubenssätzen, aber einen sagt sie sich nun doch auf: Ich kann mit Wärme haushalten. Ich kann mit Wärme haushalten. Sie murmelt diese Worte weiter vor sich hin und versucht dabei zu verdrängen, dass sie geschlossene Türen nicht leiden kann. Türen schließen nicht nur Zimmer ab, sondern isolieren jeden Raum vom anderen Raum. Aber sie trennen nicht nur Räume voneinander, sie verlangsamen auch noch Fluchtwege. Meine Fluchtwege, denkt Marie, und spürt einen Stich in der Herzgegend. Sie verengt beide Augen zu Schlitzen und schaut die Tür an, so böse es nur geht. Besinnt sich dann aber doch wieder und denkt, der Fluchtweg ist ja noch da. Die Tür kann jederzeit geöffnet werden. Marie geht zum nächsten Tagesordnungspunkt über, der Pause, die sie schon seit ein paar Minuten einleiten möchte. Sie stellt die Schale ab, greift nach der Packung Schoko-Zimt-Mandeln, entfernt eine goldene Klammer aus Pappe und Draht, reißt oben die mehrmals umgeschlagene und miteinander verklebte Plastikfolie auf, hält die Packung hoch, kippt sie und lässt Mandeln im Schokoladenschlafrock heraus purzeln. Marie freut sich auf den bevorstehenden Genuss. Sie setzt sich und greift nach einem Schokokügelchen. Ein schwerer Seufzer entschlüpft ihr. Sie legt das Schokoteilchen wieder zurück und starrt erneut auf die geschlossene Tür. Die Beunruhigung ist wieder da. Und was, wenn sich hinter der Küchentür inzwischen etwas verändert hat. Und was, wenn da schon kein Raum mehr ist, sondern nur noch ein Abgrund. Dann wären alle Fluchtwege abgeschnitten. Maries Hoffnung auf eine entspannte Pause schwindet. Sie steht auf, öffnet die Küchentür und denkt, Kälte zu spüren ist nicht das Schlimmste.

 

 

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Kultur # 48 (Mach mal positive Geräsuche… )

 

Kultur # 48

Ein Junge setzt sich auf eine Schaukel. Es kostet ihn Kraft in Schwung zu kommen. Seine Beine sind noch zu kurz um sich vom Boden abstoßen zu können. Er holt mit den Füssen und den Unterschenkeln aus, um in Schwung zu kommen und gibt dabei komische Pressgeräusche von sich. Die Mutter sitzt auf einer Bank. Sie sieht ihn genervt an und sagt: »Jetzt mach doch auch mal positive Geräusche!«

 

 

 

Du # 35 ( Kühlschranktür nur einmal öffnen)

Du # 35

»Nachdem wir schon ein halbes Jahr zusammen waren, wollte ich auch mal ihre Eltern kennenlernen. Beziehungsweise die Mutter. Den Vater gab es ja nicht mehr. Damals hatte ich noch ein Auto. Einen alten Renault. Im Sommer sind wir dann gemeinsam runtergefahren. Die Fahrt dauerte mit zwei großen Pausen fast zehn Stunden. Und obwohl ich vom Fahren müde war, konnte ich in der ersten Nacht nicht gut einschlafen und bin auch am Morgen früh aufgewacht. Aber dann dachte ich mir, bevor ich mich nochmal auf die Seite drehe und versuche weiter zu schlafen, könnte ich auch aufstehen und für alle Frühstück machen. Ich gebe es zu, irgendwie wollte ich auch als sympathischer Schwiegersohn rüberkommen. Also habe ich geduscht, bin in die Küche marschiert und war da aber gar nicht allein. Die Mutter war auch schon da. Ich sagte ihr, dass sie heute nichts tun müsse, denn ich würde das Frühstück zubereiten und später dann auch noch für uns kochen. Zuerst habe ich den Käse aus dem Kühlschrank geholt und ein paar Tomaten, damit beides Zimmertemperatur annehmen konnte. Danach habe ich die Teller, die Tassen und das Besteck auf den Tisch verteilt. Den Käse auf einem Holzbrett ausgelegt und die Butter aus dem Kühlschrank geholt. Die habe ich dann auf einen Kuchenteller getan, damit insgesamt alles schön aussieht. Dann bin ich wieder zum Kühlschrank, ich wollte auch noch Eier machen. Da stand die Mutter auf, kam zu mir und sagte: „Also wir überlegen uns vorher immer ganz genau, was wir aus dem Kühlschrank brauchen und dann machen wir die Tür nur ein einziges Mal auf! Denn das kostet auch Geld!“ Bestimmt wollte ich mich dafür nicht entschuldigen, aber vielleicht habe ich es trotzdem getan. Ich weiß es nicht mehr. Das Ganze liegt schon so viele Jahre zurück. Aber das mit dem Kühlschrank habe ich nicht vergessen, das hat sich mir eingeprägt. Daran erinnere ich mich noch, als wäre es erst gestern gewesen. Besuchen fahren wollte ich die Mutter danach nicht mehr. Aber jetzt denke ich wieder an sie. Und das fast jeden Tag. Auch wenn ich mich dafür schäme, denke ich es trotzdem: Die sparsame Mutter lebt noch und ihre Tochter seit einem Monat und zwei Tagen nicht mehr!«

 

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Alltag # 70 ( Sebastian findet es so einfach das Fenster zu öffnen)

Alltag # 70

Sebastian öffnet die Tür zur Küche und bemerkt, die Luft ist verbraucht. Die Art und Weise, wie er sie in seiner Nase riecht, ist ähnlich wie abgestandenes Bier auf seiner Zunge schmeckt. Ekelhaft. Aber gleichzeitig freut er sich, dass da etwas ist, wofür er sofort eine Lösung parat hat. Nicht wie sonst. Er weiß was zu tun ist. Ohne darüber nachzudenken. Es ist so einfach. Er muss nur das Fenster öffnen. Und dafür braucht er weder schwere Maschinen, noch eine Gehaltserhöhung, noch muss er dafür ein Seminar belegen oder sich vorher mit jemand absprechen. Es kostet ihn nur einen einzigen Handgriff und schon kann die Erneuerung stattfinden. Alt und verbraucht ändert sich zu neu und unverbraucht. Das begeistert ihn. Sein Körper fühlt sich gleich etwas leichter an.