Alltag # 116 (Sebastian Schwämme..)

Alltag # 116

Die Schwämme, die Sebastian in seinem Haushalt benutzt, durchlaufen immer drei Stadien. Zuerst verwendet er sie nur in der Küche. Für den Abwasch, die Arbeitsoberflächen und den Küchentisch. Sobald sie anfangen zu riechen, sind sie für das Bad zuständig. Und wenn die harte Unterseite des Schaumstoffs dann anfängt zerfranst auszusehen, entsorgt er sie. Der Schwamm, den er jetzt in der Hand hält, ist schon in der zweiten Phase. Sebastian drückt Scheuermilch auf die Seite mit dem Hartvlies und beugt sich über das Waschbecken. Er wählt den größten eingetrockneten Zahnpasta Klecks und schrubbt mit den rauen Fasern über die kleine Erhebung. Nach ein paar Wischbewegungen beendet er den Vorgang. Die Anhaftung ist aufgelöst. Beim nächsten Minihaufen geht er wieder so vor. Greift mit dem Schwamm ein und löst die Verbindung auf. Eine Verbindung, die schon seit vielen Tagen existiert. Über all diese Verbindungen weiß Sebastian so gut wie gar nichts. Vielleicht haben sich die Zahnpasta und die Keramik darüber gefreut, zueinander gefunden zu haben. Denn diese Kleckse wurden nicht in den Abfluss hineingetrieben, keiner von ihnen wurde hinuntergespült und so musste die allglatte Oberfläche des Waschbeckens, an der sonst alles abprallt, einmal nicht allein zurückbleiben. Vielleicht sind das alles glückliche Verbindungen, die er da gerade auflöst. Sebastian weiß es nicht. Er weiß nur, dass zwei Dinge zusammengefunden haben. Und dass alleine das schon ein Kunststück ist. Sebastian drückt den Schwamm auf eine andere Stelle im Becken und stört den nächsten Zusammenhalt. Peu á peu verschwinden so alle Kleckse. Nach wenigen Minuten findet Sebastian keinen mehr. Um aber wirklich sicher zu sein, dass er nichts übersehen hat, inspiziert er das Becken noch einmal. Sein Blick gleitet langsam von oben nach unten und von links nach rechts. Sebastian stellt zufrieden fest: Es gibt keine Unebenheiten mehr. Er drückt den Schwamm unter dem laufenden Wasser aus und wischt die Scheuermilchrückstände mit frischem Wasser von der Keramikoberfläche. Danach reibt er die Keramikoberfläche noch mit einem Tuch trocken und betrachtet das Ergebnis. Das Waschbecken ist strahlend weiß und makellos. Der neu eingetretene Glanz beglückt ihn. Es hebt immer seine Stimmung, wenn nur schon an einer Stelle etwas perfekt ist. Trotzdem wird er heute nicht mehr machen. Es liegt ihm fern, das ganze Bad zu putzen, so zu werden wie seine Mutter. Seine Mutter hat viel vom einwandfreien Erscheinungsbild der Oberflächen gehalten. Seine Mutter war auch Jahr ein Jahr aus für das Erscheinungsbild der Oberflächen zuständig. Sebastian konnte nie genau sagen, ob seine Mutter sich mit den schönen reinlichen Oberflächen über vieles nur hinwegtäuschen oder auch hinwegtrösten wollte.

 

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Alltag # 112 (Nachholtag…)

Alltag # 112

Sebastian hat Mittagspause. Heute ist Nachholtag. Um ihn noch mehr genießen zu können, will er draußen sitzen. Es ist schon warm genug dafür. Er entscheidet sich für das Lokal, das nicht weit von seinem Büro entfernt ist. Er setzt sich an einen kleinen Tisch mit zwei Stühlen. Die Markise über dem Tisch ist heruntergefahren. Das stört ihn. Er würde lieber in der Sonne sitzen. Kurz überlegt er, wieder aufzustehen und nach einem Lokal zu suchen, bei dem die Tische von der Sonne beschienen sind, bleibt dann aber doch sitzen. Sein Hungergefühl rät ihm das. Die Speisekarte steckt in einem Holzblock. Bevor er sie herauszieht, wird er die Blumen anfassen. Neben der Speisekarte steht eine kleine weiße Keramikvase und darin haben drei Blumen ihr Zuhause gefunden. Er streckt seine Finger nach ihnen aus. Er will wissen, ob sie echt sind. Sie sind es nicht. Etwas aufzudecken, befriedigt ihn. Das hat etwas mit seiner Jugend zu tun. Kam ihm als Jugendlicher etwas ungereimt vor, hat er auch versucht, das aufzudecken. Zum Beispiel behaupteten seine Eltern, dass die Hosen, die er trug, keine Hosen seien und die, die sie trugen schon. Dabei hatten auch seine Hosen einen Reisverschluß, einen Bund mit Gürtelschlaufen und lange Beine, nur andere Muster und prägnante Farben. Als Jugendlicher waren ihm seine Eltern in vielen Dingen suspekt. So suspekt, wie ihm künstliche Blumen heute suspekt sind. Sie haben nichts mit dem Leben zu tun. Er greift nach der Speisekarte und schlägt sie auf. Er weiß schon ungefähr, was er an diesem Nachholtag bestellen wird. Nachholtage hat er vor einem Jahr für sich eingeführt. Als kleiner Junge hätte er gerne mehr Berührungen gehabt, mehr Ansprachen, mehr liebevolle Blicke. Aber das konnte er sich nicht bestellen. Es ist wie mit dem Wetter. Es ist schlichtweg nicht möglich, sich für die nächsten Wochen, Monate oder Jahre ein schönes Wetter zu bestellen. Das schöne Wetter kann einfach ausbleiben. Auch über einen längeren Zeitraum hinweg. Und für ein Kind kann auch Vieles ausbleiben, auch über einen langen Zeitraum hinweg. Deshalb hat er jetzt die Nachholtage eingeführt. Sebastian freut sich immer noch über seine Idee. Er wird seine Mittagspause für das Nachholen nutzen und seinen Magen dafür hergeben. Er überspringt die Seite mit den Salaten. Bei Ruccola, Feld- oder Eisbergsalat ist zu viel Müssen dabei. Und heute will er nicht müssen, heute will er haben. Vor allem Fett. Fett macht ihn glücklich. Als Mayonnaise, als Butter oder als etwas, das mit viel Käse überbacken ist. Oder ein Fisch mit einer öligen Haut. Oder ein Braten mit einer Kruste. Heute erlaubt er sich zuzugreifen, reinzuhauen. Je fettiger, umso besser. Sein Mund füllt sich schon mit Speichel. Nach dem Essen wird sein Magen schmerzen. Aber auch das wird gut sein. Das Gefühl, dass viel für ihn da ist, berührt ihn so, dass das dann keine Rolle mehr spielt. Bestimmt er einen Tag zum Nachholtag, achtet er darauf, dass er immer gleich und auf der Stelle so viel bekommt, dass es mehr als ausreichend ist. Er möchte Fülle spüren. Ohne Grenzen. Sebastian klappt die Speisekarte zu und winkt breit lächelnd den Kellner herbei.

 

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Alltag # 114 ( Marie Tsipouro Experiment…)

Alltag # 114

Marie plant ein Experiment. Dafür braucht sie Eiswürfel. Sie drückt ein paar davon in eine kleine Schale und verfrachtet den Rest zurück in das Tiefkühlfach ihres Kühlschranks. Sie greift nach einer Flasche und jetzt fehlt nur noch ein Glas und dann kann sie sich auf den Weg machen. Sie will zur schwarzen Halskette. In der Flasche ist Tsipouro, die griechische Variante von Grappa. Aus Frankreich, wo sie gerade war, hat sie keinen Schnaps mitgebracht. Nur neue Gefühlslagen. Also muss jetzt der Tsipouro für ihr Experiment herhalten. Marie war wegen Miriam in Frankreich. Miriam hat sich dort mit ein paar Freunden ein Haus gekauft. Es steht am Rand eines schönen Dorfes und hat einen großen Garten. Dass sie dort war, kommt ihr schon so weit weg vor. Aber etwas beschäftigt sie noch. Lässt sie nicht los. Raoul. Sie hat ihn dort kennengelernt. Beide haben sie beim Renovieren des Hauses mitgeholfen. Gleich am Anfang gefiel ihr, dass sich Raoul wie ein Hütehund verhielt. Saßen sie abends um den Tisch, war er stets darauf bedacht, dass sich alle wohl fühlten. Das gelang ihm auch. Er kochte für alle. Bezog alle ein. Er mochte es nicht, wenn die Gruppe auseinander fiel und jeder etwas nur für sich machte. Auch hatte ihr gleich gefallen, dass Raoul so viel mit seinen Augen ausdrücken konnte. Er brauchte ihr keine Komplimente zu machen oder einen Arm um ihre Schultern zu legen. Ein Blick von ihm genügte und sie wusste, in welche Richtung er ihre Begegnung schubsen wollte. Aber am allermeisten mochte sie, dass er so ausdauernd interessiert war, ihr das Lippenbalsam von den Lippen zu küssen. Nach zehn Tagen musste sie abreisen. Als er sie mit seinem Auto zum Bahnhof gebracht hatte und sie auf ihren Zug warteten, holte er ein Geschenk für sie heraus. Sie riss das Papier noch am Bahnhof auf. Es war eine Halskette. Schwarze Kugeln an einer Schnur aufgefädelt und einzeln aneinander geknotet. Für sie waren das lackierte Holzkugeln. Raoul meinte aber, dass es Kerne einer Frucht und dass sie von Natur aus so groß und schwarz seien. Angezogen reicht ihr die Kette bis zum Bauchnabel. Aber schon im Zug hatte sie sie wieder abgenommen. Sie trägt keinen Schmuck. Nicht am Hals, nicht an den Ohren und auch nicht an den Armgelenken. Raoul hatte das wohl nicht bemerkt oder wollte diese Tatsache bewusst übergehen. Schmuck ist für Marie, wie so vieles andere auch, nur etwas, das sie noch zusätzlich mit sich herumschleppen muss. Etwas, das zum Gewicht ihres Körpers dazu kommt. Den Pfunden ihres Körpers entkommt sie nicht so schnell, aber dem Gewicht eines Schmuckstücks schon. Solche Extras kann sie ablegen. Marie mag es, wenn ihre Arme, ihre Ohren und ihr Hals frei sind. Sie will dort nichts spüren müssen. Dort soll sich nichts an ihr reiben oder sich an ihr erwärmen können. Das muss nicht sein. Marie erreicht den Schreibtisch und stellt die Utensilien, die sie für den Versuch benötigt, ab. Als sie aus Frankreich zurück kam, hat sie die Kette gleich auf ihren Schreibtisch gelegt. Dort sitzt sie jeden Tag. Sie hat sein Geschenk zu einem kleinen Häufchen aufgetürmt. Gerade liegt es neben ihrem Laptop. Marie befördert ein paar Eiswürfel von der Schale in ihr Glas und wirft erneut einen Blick auf die Kette. Raoul hat sie noch nicht bei allen Lichtverhältnissen gesehen, seine Kette schon. Die hat sie schon bei Tageslicht gesehen, bei Glühbirnenlicht, in der Dämmung, bei Gewitter, bei Regen und bei Sonnenschein. Und einmal hat sie sie auch schon mit der Taschenlampe ihres Telefons angestrahlt. Sie wollte sich die Oberfläche ganz genau ansehen und war dann enttäuscht, dass sie nichts Spezielles darauf hat entdecken können. Der Name der Frucht ist ihr entfallen. Das bedauert sie. Sie hätte ihn gerne gegoogelt. Sie hätte gerne gewusst, wie eine Frucht aussieht, die so große Kerne produzieren kann. Marie öffnet die Flasche Tsipouro und erinnert sich daran, wie froh sie darüber war, dass Raoul ihr etwas geschenkt hatte, das keinen Anfang und kein Ende hat. Die Kette ist einfach ein in sich geschlossener Kreis, der in der Mitte offen ist. Das ist doch eine ideale Grundlage für eine Beziehung, denkt sie, wenn etwas gleichzeitig immer offen und immer geschlossen sein kann. Aber noch kann alles zu Grunde gehen. Sie kann noch alles zu Grunde richten. Sie ist eine Spezialistin dafür. Denn noch ist ihre Geschichte klein. Ein kleines Pflänzchen mit wenig Wurzeln. Es braucht nicht viel Kraft und schon hat man es ausgerissen. Hat sie es ausgerissen. Marie hat sich vorgenommen, Raoul zu antworten. Heute. Sie möchte auf seine SMS reagieren. Die Kette hat sie auf ihren Schreibtisch gelegt, um ihr nah sein zu können. Aber Raoul antwortet sie schon seit über zwei Wochen nicht. Ketten nah zu sein, ist einfach, denkt sie, und versteht nicht genau, was sie vor Raoul verstecken möchte. Er hat sie nur gefragt, wann sie sich wiedersehen. Marie gießt sich Tsipouro ein. Sie hofft, dass der Alkohol ihr Schweigen unterbrechen wird, damit sie in ihr Telefon tippen kann, was sie fühlt oder nicht fühlen möchte. Marie schüttet die ersten zwanzig Millimeter hinunter. Sie schmecken gut. Die Zunge und der Hals brennen angenehm. Weiter gehts. Marie legt eine Hand auf die Kette und kippt mit der anderen das zweite Glas hinunter. In einer Stunde wird sie hoffentlich Antworten parat haben.

 

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Alltag # 108 ( Marie will kugeln…)

Alltag # 108

Marie bedauert, dass sie sich gleich mit ihren Beinen vorwärts bewegen muss. Sie sitzt bei Anna auf dem Sofa und will zu Marcel hinüber. Aber sie möchte nicht die Muskeln anspannen, sich hochdrücken, gerade hinstellen und diszipliniert zu ihm hinüber gehen. Mit ihrem Glas in der Hand, das schon wieder leer ist. Sie möchte sich jetzt rund machen und vom Sofa kugeln. Sich kugelnd vorwärts bewegen. Die Vorstellung muntert sie auf. Sie könnte sich einfach von Anna wegkugeln, hinüber zu Marcel. Bei ihm ist die Weinflasche. Er gießt sich auch gerade selbst welchen ein. Und die Tüte Chips ist auch bei ihm. Und später, in ein oder zwei Stunden könnte sie Annas Wohnung auch einmal anders verlassen als gehend. Sie könnte nach Hause kugeln. Die Treppe hinunter, den Bürgersteig entlang, in die U-Bahn hinein und wieder hinaus und morgen auch gleich noch zur Arbeit. Und auf dem Weg zur Arbeit gäbe es plötzlich auch noch andere Mitkugler. Über Nacht wäre bei vielen das Bedürfnis entstanden, das nun nicht mehr zurückzuhalten ist. Auch die Tagesschau würde davon berichten müssen. Marie überlegt, ob sie das mit dem Kugeln Anna und Marcel vorschlagen soll. Entscheidet aber, dass es besser ist, es ihnen vorzumachen. Marie rollt sich ein. Gleich wird sie vom Sofa kugeln. Es muss einfach einmal etwas unterbrochen werden. Alltag. Normen. Routinen. Trivialitäten. Befangenheiten. Marie hat genug davon.

 

Alltag # 109 ( Sebastian will Väterliches…)

Alltag # 109

Begegnet Sebastian einem sympathischen Mann, überkommt ihn das Bedürfnis, ihn zu fragen, ob er für einige Stunden sein Vater sein will. Auch als erwachsener Mann möchte Sebastian jemanden in seiner Nähe haben, der stundenlang Väterliches an ihn hinverströmt. Jemand, der ihm ungefragt ausgiebig Zustimmung und Wärme spendet. Das wünscht er sich mehr als ein aktives Sexleben, einen hohen Kontostand, dichtere Haare oder einen Urlaub an der Algarve.

 

Alltag # 110 ( Orangen ansehen… dann verspeisen.)

Alltag # 110

Marie greift in die Einkaufstasche aus Papier. Sie war im Supermarkt und hat schon fast alle Lebensmittel im Vorratsschrank verstaut. Auf dem Boden der Papiertasche liegt nur noch das Netz mit den Orangen. Zwei Kilo. Marie hat die Zitrusfrüchte für ihre Augen gekauft. Maries Augen sind in Not. Seit Tagen schon. Mehr als es ihren Mund nach einem frischen Aroma verlangt, verlangt es ihre Augen nach Farben. Das Grau des Himmels, das der Jahreszeit geschuldet ist, unterbricht sich nicht mehr. Es bleibt einfach weiterhin beständig grau. Genauso grau wie die Resopaloberfläche ihres Küchentisches. Auch sie behält ihre Farbe beständig bei. Tag für Tag und Woche für Woche. Marie verdrängt den Gedanken an das graue Resopal, das sie im Winter so deprimierend und düster findet und legt das Netz mit den Orangen auf die Arbeitsfläche. Zumindest jetzt hat sie etwas in ihrer Nähe, das von der Sonne angestrahlt worden ist. Stundenlang. Tagelang. Wochenlang. Die Sonnenstrahlen haben dazu beigetragen, dass diese schöne Farbe entstanden ist. Marie wirft einen Blick durch das Netz und ist von der Leuchtkraft beeindruckt. Angestrahlt zu werden tut einfach gut, man kann es den Orangen ansehen. Marie steckt die Zeigefinger und die Daumen in das engmaschige Netz und zerrt die Verpackung auseinander. Die rot gefärbten Plastikfasern schneiden ihr tief ins Fleisch, zerreißen lassen sie sich von Maries Kraft aber nicht. Marie gibt auf und holt eine Schere. Sie schneidet das Netz ein Stück weit auf und zwängt die erste Orange durch den Schlitz. Das kommt ihr jetzt wie ein Geburtsvorgang vor und sie sich wie eine Hebamme. Sie holt die anderen auch noch heraus und legt sie in eine himmelblaue Keramikschale. Marie trägt die Keramikschale zum Küchentisch und setzt sich zu ihnen. Dass die Früchte so kugelrund sind, berührt sie. Sie sehen aus wie kleine Sonnen. Klitzekleine Minisonnen, die nicht größer werden können. Nie so groß, dass sie eine Erde mit Wärme versorgen können. Aber Marie können sie versorgen. Ihre Augen atmen auf. Ihre Seele auch. Marie hat vor, die Orangen erst einmal nur anzuschauen. Ein paar Tage lang und jeden Tag mehrmals. Zu sehen, dass etwas eine so schön Ausstrahlung haben kann, während es nur passiv daliegt, wird ihr gut tun. Für ein paar Minuten wird sich das Leben leichter anfühlen. Aber für die Orangen wird noch eine andere Zeit kommen. Der Aufenthalt in der Keramikschale wird für sie nur ein Übergang, ein Zwischenstopp sein. Denn in ein paar Tagen wird es Marie nach dem frischen Aroma verlangen. Und auch wenn die Orangen das nicht gebucht haben, wird ihre Reise in Maries Mund enden. Dort werden die Minisonnen untergehen. In ein paar Tagen wird sich Maries Mund öffnen, werden ihre Zähne zubeißen und ihre Zunge alles nach hinten schieben, die Speiseröhre hinunter drücken. Genau so wird es ablaufen. Die Orangen werden im Dunklen enden müssen. Dort wird es noch dunkler sein als in der grauen Jahreszeit. Das wird Marie ihnen nicht ersparen können.

 

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Alltag # 104 ( Marie war im Supermarkt…)

Alltag # 104

Marie war im nahegelegenen Supermarkt. Sie hat den Besuch lange hinausgezögert. Sie geht nicht gerne einkaufen. Steht sie in einem Supermarkt, nimmt sie sich jedesmal vor, ihn so schnell wie möglich wieder zu verlassen. Meistens gelingt ihr das aber nicht und sie verliert sich zwischen den Regalen. Denn ständig muss eine Auswahl gegroffen werden. Immer muss etwas irgendetwas anderem vorgezogen werden. Verschiedene Kategorien kämpfen miteinander. Die Menge mit dem Preis. Der Preis mit dem Label. Und umgekehrt. Marie ist jedesmal verblüfft, wie viel Zeit zwischen den Supermarktregalen wohnt. Und wie bereitwillig sie sich in sie hineinfallen lässt. Oft muss sie ihre Gedanken dann gewaltsam weiterziehen, wie über Schleifpapier, damit ihre Hand überhaupt einmal etwas in den Einkaufskorb legt. Aber heute hat sie den Einkauf ohne große Zeitverzögerung hinter sich gebracht. Sie spürt noch immer die Erleichterung darüber. Ein gutes Gefühl. Sie stellt die Einkaufstüten in der Küche ab und geht ins Bad. Dreht den Wasserhahn auf, greift nach der Seife und schiebt sie zwischen den Handflächen hin und her. Sie legt die Seife zurück und verteilt das Wasserseifengemisch zwischen ihren Handflächen, den Fingern und den Fingerzwischenräumen. Marie genießt das glitschige Gleiten von Haut an Haut und wiederholt es noch ein paar Mal, obwohl die Hände schon sauber sind. Denn in letzter Zeit kommt so ein Kontakt nur noch mit Seifenwasser zustande, was sie manchmal – aber nicht immer – bedauert. Sie hält die Gliedmaßen unter den Wasserstrahl, eine dunkelgraue Brühe tropft auf die weiße Keramikoberfläche des Waschbeckens. Sie trocknet sich die Hände ab und geht zurück in die Küche, zu den Tüten. Heute hat sie Eier, Avocados, Butter, Schokolade, Tee, Orangen und Karotten gekauft. Alles, was auf ihrer Einkaufsliste stand, hat sie nach Hause geschleppt. Alles ist gut gegangen. Fast. Nur das mit dem Brot ist nicht so abgelaufen, wie sie das wollte. Marie mag runde Brote. Brote, die einen an übergroße Busen erinnern. Die mit einem knusprigen Rand und einem hellen fluffigen Inneren. Die kauft sie gerne und ein solches wollte sie auch heute kaufen, als sie im Backshop stand. Aber als der Verkäufer sie dann gefragt hatte, was es denn sein dürfe, sagte sie: Das Angebot der Woche. Dabei mag sie keine Kastenbrote. Und das Angebot der Woche ist ein Kastenbrot. Und solche Brote lösen bei ihr keine Glücksgefühl aus. Sie mag die Form nicht. Mag nicht, dass diese Brote seitlich so eingeengt, in eine Form gezwängt werden. Und den Geschmack mag sie dann schon aus Prinzip nicht. Dass ihr der Satz überhaupt so leicht über die Lippen kam, hat sie selbst überrascht. Als sie in der Schlange stand und darauf wartete, bis sie an die Reihe kam, sah sie sich das auf dem Tresen aufgestellte Schild an. Lange. Es hat ihr gefallen, dass ein Brot mit so ausdrucksstarken und wohlwollenden Worten angepriesen wurde. Auch, dass für alle sichtbar war, dass da etwas angepriesen wurde. Und dann war da noch dieses kleine rote »x«. Das Angebot der Woche war günstiger, als die anderen Brote. Und auf einmal dachte sie sich, auch sie müsse sparen und die Gelegenheit nutzen. Manchmal überkam sie die Angst vor einer Altersarmut. Und kleine rote x-se erinnerten sie daran. Und jetzt wird sie vier Tage lang ein rechteckiges Brot essen müssen, weil sie sich vierzig Cent hat sparen wollen. Ein sinnloses Sparen. Der Ärger über den Fehlkauf wird vorbeigehen, das weiß sie. In ein paar Tagen wird sie sich nicht mehr daran erinnern. Auch von dem Brot wird dann nichts mehr übrig sein. Ihr Magen wird alles transformiert haben. Aber etwas anderes wird noch da sein. Das auf dem Tresen aufgestellte Schild hatte bei ihr noch etwas ausgelöst. Eine Wunschvorstellung ist aufgetaucht und hat sie beflügelt. Sie möchte das Schild austauschen und ein anderes hinstellen. Sie will das Angebot der Woche sein. Auf dem Tresen im Backshop sollte ein Schild von ihr stehen. Sie sollte angepriesen werden. Sie will diejenige sein, über die jemand dann sagen kann: Mit Marie habe ich mir soviel sparen können. Seit sie da ist, muss ich nicht mehr alleine frühstücken, habe ich nachts einen warmen weichen Körper neben mir liegen, aufmunternde Worte, wenn ich nicht weiter weiß und leuchtende Augen, in die ich blicken kann. Ich bin so froh, dass ich sie mitgenommen habe. Das ganze Zeug mit der Einsamkeit kann ich mir jetzt sparen.

 

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