Alltag # 112 (Nachholtag…)

Alltag # 112

Sebastian hat Mittagspause. Heute ist Nachholtag. Um ihn noch mehr genießen zu können, will er draußen sitzen. Es ist schon warm genug dafür. Er entscheidet sich für das Lokal, das nicht weit von seinem Büro entfernt ist. Er setzt sich an einen kleinen Tisch mit zwei Stühlen. Die Markise über dem Tisch ist heruntergefahren. Das stört ihn. Er würde lieber in der Sonne sitzen. Kurz überlegt er, wieder aufzustehen und nach einem Lokal zu suchen, bei dem die Tische von der Sonne beschienen sind, bleibt dann aber doch sitzen. Sein Hungergefühl rät ihm das. Die Speisekarte steckt in einem Holzblock. Bevor er sie herauszieht, wird er die Blumen anfassen. Neben der Speisekarte steht eine kleine weiße Keramikvase und darin haben drei Blumen ihr Zuhause gefunden. Er streckt seine Finger nach ihnen aus. Er will wissen, ob sie echt sind. Sie sind es nicht. Etwas aufzudecken, befriedigt ihn. Das hat etwas mit seiner Jugend zu tun. Kam ihm als Jugendlicher etwas ungereimt vor, hat er auch versucht, das aufzudecken. Zum Beispiel behaupteten seine Eltern, dass die Hosen, die er trug, keine Hosen seien und die, die sie trugen schon. Dabei hatten auch seine Hosen einen Reisverschluß, einen Bund mit Gürtelschlaufen und lange Beine, nur andere Muster und prägnante Farben. Als Jugendlicher waren ihm seine Eltern in vielen Dingen suspekt. So suspekt, wie ihm künstliche Blumen heute suspekt sind. Sie haben nichts mit dem Leben zu tun. Er greift nach der Speisekarte und schlägt sie auf. Er weiß schon ungefähr, was er an diesem Nachholtag bestellen wird. Nachholtage hat er vor einem Jahr für sich eingeführt. Als kleiner Junge hätte er gerne mehr Berührungen gehabt, mehr Ansprachen, mehr liebevolle Blicke. Aber das konnte er sich nicht bestellen. Es ist wie mit dem Wetter. Es ist schlichtweg nicht möglich, sich für die nächsten Wochen, Monate oder Jahre ein schönes Wetter zu bestellen. Das schöne Wetter kann einfach ausbleiben. Auch über einen längeren Zeitraum hinweg. Und für ein Kind kann auch Vieles ausbleiben, auch über einen langen Zeitraum hinweg. Deshalb hat er jetzt die Nachholtage eingeführt. Sebastian freut sich immer noch über seine Idee. Er wird seine Mittagspause für das Nachholen nutzen und seinen Magen dafür hergeben. Er überspringt die Seite mit den Salaten. Bei Ruccola, Feld- oder Eisbergsalat ist zu viel Müssen dabei. Und heute will er nicht müssen, heute will er haben. Vor allem Fett. Fett macht ihn glücklich. Als Mayonnaise, als Butter oder als etwas, das mit viel Käse überbacken ist. Oder ein Fisch mit einer öligen Haut. Oder ein Braten mit einer Kruste. Heute erlaubt er sich zuzugreifen, reinzuhauen. Je fettiger, umso besser. Sein Mund füllt sich schon mit Speichel. Nach dem Essen wird sein Magen schmerzen. Aber auch das wird gut sein. Das Gefühl, dass viel für ihn da ist, berührt ihn so, dass das dann keine Rolle mehr spielt. Bestimmt er einen Tag zum Nachholtag, achtet er darauf, dass er immer gleich und auf der Stelle so viel bekommt, dass es mehr als ausreichend ist. Er möchte Fülle spüren. Ohne Grenzen. Sebastian klappt die Speisekarte zu und winkt breit lächelnd den Kellner herbei.

 

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