Alltag # 110 ( Orangen ansehen… dann verspeisen.)

Alltag # 110

Marie greift in die Einkaufstasche aus Papier. Sie war im Supermarkt und hat schon fast alle Lebensmittel im Vorratsschrank verstaut. Auf dem Boden der Papiertasche liegt nur noch das Netz mit den Orangen. Zwei Kilo. Marie hat die Zitrusfrüchte für ihre Augen gekauft. Maries Augen sind in Not. Seit Tagen schon. Mehr als es ihren Mund nach einem frischen Aroma verlangt, verlangt es ihre Augen nach Farben. Das Grau des Himmels, das der Jahreszeit geschuldet ist, unterbricht sich nicht mehr. Es bleibt einfach weiterhin beständig grau. Genauso grau wie die Resopaloberfläche ihres Küchentisches. Auch sie behält ihre Farbe beständig bei. Tag für Tag und Woche für Woche. Marie verdrängt den Gedanken an das graue Resopal, das sie im Winter so deprimierend und düster findet und legt das Netz mit den Orangen auf die Arbeitsfläche. Zumindest jetzt hat sie etwas in ihrer Nähe, das von der Sonne angestrahlt worden ist. Stundenlang. Tagelang. Wochenlang. Die Sonnenstrahlen haben dazu beigetragen, dass diese schöne Farbe entstanden ist. Marie wirft einen Blick durch das Netz und ist von der Leuchtkraft beeindruckt. Angestrahlt zu werden tut einfach gut, man kann es den Orangen ansehen. Marie steckt die Zeigefinger und die Daumen in das engmaschige Netz und zerrt die Verpackung auseinander. Die rot gefärbten Plastikfasern schneiden ihr tief ins Fleisch, zerreißen lassen sie sich von Maries Kraft aber nicht. Marie gibt auf und holt eine Schere. Sie schneidet das Netz ein Stück weit auf und zwängt die erste Orange durch den Schlitz. Das kommt ihr jetzt wie ein Geburtsvorgang vor und sie sich wie eine Hebamme. Sie holt die anderen auch noch heraus und legt sie in eine himmelblaue Keramikschale. Marie trägt die Keramikschale zum Küchentisch und setzt sich zu ihnen. Dass die Früchte so kugelrund sind, berührt sie. Sie sehen aus wie kleine Sonnen. Klitzekleine Minisonnen, die nicht größer werden können. Nie so groß, dass sie eine Erde mit Wärme versorgen können. Aber Marie können sie versorgen. Ihre Augen atmen auf. Ihre Seele auch. Marie hat vor, die Orangen erst einmal nur anzuschauen. Ein paar Tage lang und jeden Tag mehrmals. Zu sehen, dass etwas eine so schön Ausstrahlung haben kann, während es nur passiv daliegt, wird ihr gut tun. Für ein paar Minuten wird sich das Leben leichter anfühlen. Aber für die Orangen wird noch eine andere Zeit kommen. Der Aufenthalt in der Keramikschale wird für sie nur ein Übergang, ein Zwischenstopp sein. Denn in ein paar Tagen wird es Marie nach dem frischen Aroma verlangen. Und auch wenn die Orangen das nicht gebucht haben, wird ihre Reise in Maries Mund enden. Dort werden die Minisonnen untergehen. In ein paar Tagen wird sich Maries Mund öffnen, werden ihre Zähne zubeißen und ihre Zunge alles nach hinten schieben, die Speiseröhre hinunter drücken. Genau so wird es ablaufen. Die Orangen werden im Dunklen enden müssen. Dort wird es noch dunkler sein als in der grauen Jahreszeit. Das wird Marie ihnen nicht ersparen können.

 

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