Lebensentwürfe # 38 (Sebastians Namensschild…)

Lebensentwürfe # 38

Sebastians Namensschild wurde überklebt. Das neben seiner Wohnungstür. Er ist vor zwanzig Jahren hier eingezogen. Nicht, dass er explizit in diese Wohnung wollte, aber auf die Schnelle hatte er nichts anderes gefunden. Dass er so lange geblieben ist, erstaunt ihn heute noch. Nach dem Einzug hatte er seinen Nachnamen auf ein Stück Papier gekritzelt, es zurechtgeschnitten und neben die Wohnungstür geklebt. Mit Uhu auf ein dafür vorgefertigtes Brett, auf dem sich auch der Klingelknopf befindet. Sein Papierstreifen war ähnlich schmal wie die Spruchbänder der Fortune Cookies. Das mit dem langen dünnen Streifen hatte er absichtlich so gemacht. Er wollte einen Trick anwenden. Sich selbst auf einem Streifen eines Fortune Cookies sehen. Wenigstens für seine Augen sollte sein Name wie eine positive Prophezeiung aussehen. Er mochte seinen Nachnamen nicht. Es war ihm immer noch nicht recht, dass er den gleichen Namen trägt wie sein Vater. Es war wegen der Art des Vaters und der Geschichte die er mit ihm hat. Die Buchstaben hat er mit einem rotem Filzstift auf das Papier geschrieben, weil er vieles lieber mag, wenn es farbig ist. Auch seinen Namen fand er in rot erträglicher. Die Intensität des Rots blich über die Jahre aus, aber die einzelnen Buchstaben waren immer noch gut zu sehen. Der Klebstoff hielt auch durch. Aber dann geschah etwas. Vor ungefähr einem Jahr. Über Nacht. Als Sebastian eines morgens seine Wohnung verließ, musste er feststellen, dass sein Name auf einmal fünf mal so groß war, wie noch am Tag zuvor. Nun zeigte er sich in tiefstem Schwarz auf einem strahlend weißen Etikett. Auf einem sieben mal zehn Zentimeter großen selbstklebendem Stück Papier mit abgerundeten Ecken. Als Sebastian das sah, dachte er als erstes, die Hausverwaltung hätte das veranlasst. Dass sie sich im Hausflur mehr Vereinheitlichung wünscht. Dann ging er los, um alle anderen Schilder im Haus zu inspizieren. Er lief die Stockwerk hoch und runter und sah sich neben jeder Wohnungstür das dazugehörige Namensschild an. Aber nur seines war überklebt und hatte dieses große Format. Alle anderen wirkten unverändert und auch nicht wie frisch aus dem Drucker kommend. Sebastian empfand die neuen Buchstaben als zu aufdringlich. Das ganze Schild als zu pompös. Es passte ihm nicht, dass sein Name nun jedem so ins Auge sprang. Auch war er in bold ausgedruckt, was ihm auch nicht behagte. Dieses Hervorgehobene. Aber er ließ das Etikett an seinem Klingelbrett. Er dachte, dass sich in den nächsten Tagen klären würde, wie es dort hingekommen war. Aber es tauchten keine Hinweise auf. Nach zwei Wochen vergaß Sebastian die ganze Sache. Auch deswegen, weil er nicht mehr hinsah. Er wich den Großbuchstaben aus. Bis es rund ein Jahr später abends an seiner Tür klingelte. Sebastian erwartete niemanden und war sich nicht sicher, ob er öffnen sollte. Aber da er gerade nicht aus der Dusche kam oder in Unterwäsche war, entschied er sich die Tür zu öffnen. Manchmal benötigen Nachbarn etwas von ihm, fragen nach einer Zwiebel oder ob er für einen Abend einen Stuhl entbehren kann. Auch solche Nachbarn, die er vorher noch nie im Haus gesehen hatte. Als er die Tür öffnete, stand der Nachbar von oben vor ihm. Er kannte ihn kaum, erinnerte sich auch nicht an seinen Namen, nur daran, dass er schon mehrere Jahre hier wohnte und an seine in sich gekehrte Haltung. Sah er ihn im Treppenhaus, hielt er seinen Kopf gesenkt. Er stieg nur mit zu Boden gerichteten Augen die Treppen rauf oder runter. Sebastian grüßte ihn trotzdem. Obwohl er sich nie sicher war, ob der Nachbar das wollte. Dieser hob aber jedesmal seinen Kopf und grüßte zurück. Persönliches tauschten sie nie aus. Auch nichts Unverfängliches. Der Mann hatte meistens Kleidung an, die an das Militär erinnerte. Camouflage Hosen mit vielen Seitentaschen und dazugehörige Jacken mit ebenso vielen Zusatztaschen. Ein paar Mal nahm Sebastian für ihn Pakete entgegen, kühlschrankgroße Pakete aber das war auch schon alles an Kontakt, den er über die Jahre mit ihm hatte. An dem Abend hatte der Nachbar das erste Mal ohne ersichtlichen Grund geklingelt. Er sagte: »Ich möchte mich noch von Ihnen verabschieden. Ich ziehe um, in eine größere Wohnung und in einen anderen Stadtteil. In den nächsten Tagen werde ich nur noch Kleinigkeiten abholen. Den größten Teil habe ich schon weggebracht.« Sebastian wunderte sich über die plötzliche Mitteilsamkeit seines Nachbarn, freute sich aber auch über seine Verbindlichkeit. Sebastian wünschte ihm viel Glück in der neuen Wohnung und war schon dabei, die Tür wieder zu schließen, als der Nachbar ihn plötzlich anlächelte. Das freundliche Lächeln hatte einen Beigeschmack, den Sebastian nicht einordnen konnte. »Wie haben Sie das denn gefunden, dass ich Ihnen Ihr Namensschild verschönert habe? Ich habe das Schild für Sie gemacht. Beim täglichen Hochgehen hat es mich immer gestört, dass Ihr Name so klein war. Das gefiel mir nicht! Ich wusste nur nicht, ob Ihnen als Schriftbild Helvetica oder Times besser gefallen würde, habe mich dann aber für Times entschieden. In bold sieht die besser aus, finde ich. Schlanker. Das wollte ich Ihnen noch sagen, bevor ich ganz weg bin!« Sebastian war verdutzt und wusste nicht genau wie er darauf reagieren sollte. Schließlich bedankte er sich einfach nur bei ihm für seinen Einsatz und wünschte ihm noch einmal alles Gute. Den Nachbarn sah er danach nicht wieder. Aber von da an mochte Sebastian diese großen fetten schwarzen Buchstaben. Und auch Sebastian mochte Times lieber als Helvetica.

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Lebensentwürfe # 34 (Katze spirituelles Zentrum..)

Lebensentwürfe # 34

Auf einer kleinen griechischen Insel befindet sich am Rand eines Dorfes ein großes Haus mit vielen Zimmern. Eine Frau aus Holland hat es gemietet und ein spirituelles Zentrum daraus gemacht. Einen Ort für Touristen. Dort werden außer Übernachtungen auch Kurse und geführte Tagesausflüge angeboten. Das Zentrum ist von Mai bis Oktober geöffnet und dann sechs Monate lang geschlossen. Über den Winter wohnt niemand dort. Auch die Chefin kehrt dann nach Holland zurück. Sie betreibt das Zentrum schon seit vielen Jahren. Eine ihrer Hausregeln ist das Verbot, während des Aufenthalts wilde Katzen zu füttern. Die Chefin weiss, dass deren Überlebenschancen gegen null gehen, sobald das Zentrum winterfest gemacht worden ist. Denn nicht nur das Zentrum macht die Schotten dicht, sondern auch alle Cafés, alle Restaurants, alle Geschäfte und auch der einzige Supermarkt in der Gegend. Ohne Zugang zur nächsten Stadt ist man aufgeschmissen. Deshalb stehen dann auch die meisten Häuser leer.
Fast immer halten sich ihre Gäste an diese Regel. Nur dieses Jahr setzte sich eine Frau darüber hinweg. Sie hatte Mitleid mit einem jungen abgemagerten Kätzchen und gab ihr jeden Tag Milch und manchmal auch Fisch. Sie stellte die Schüssel so geschickt auf, dass die Chefin es nicht mitbekam. Als sie eine Woche später abreiste, übernahm ein anderer Gast die Fütterung. Und so kam es, dass das kleine Kätzchen groß und stark und anschmiegsam wurde. Und dann dämmerte es auch der Chefin, denn die Katze hielt sich fast nur noch auf der Terrasse auf. Dort ließ sie sich gerne streicheln, auch von mehreren Gästen gleichzeitig. Und so wurde die Katze doch noch zur offiziellen Hauskatze des Zentrums. Weitere Touristen kamen und gingen aber sie blieb und ließ sich weiter füttern und streicheln. Aber dann nahte der besagte Zeitpunkt, von dem die Chefin schon früh gewarnt hatte. Es war Ende Oktober und in drei Tagen würde das Haus in seinen jährlichen Winterschlaf fallen. Nun sorgten sich die verbliebenen Gäste um die Katze. Sie wollten sicherstellen, dass sie überlebt. Eine Besucherin hätte sie gerne nach London mitgenommen. Aber sie lebte dort mit ihrem Bruder zusammen und der hatte eine Katzenhaarallergie. Eine andere Frau rief in Tierheimen an und fand heraus, dass sie alle überfüllt waren und keine Katzen mehr aufnahmen. Auch keine Hunde mehr. Eine andere Besucherin schlug vor, die Katze mit nach Deutschland zu nehmen und in ihrem Bekannten- und Freundeskreis herumzufragen. Aber ihr Mann war dagegen. Er wollte nicht, dass seine Frau so viel Verantwortung übernimmt. Sie sei doch gerade deswegen in das Zentrum gekommen, um sich mal weniger aufzubürden. Ein anderer Mann bot an, in Dänemark einen Tierarzt anzurufen, mit dem er befreundet war, er könnte herausfinden wie schlecht die Überlebenschancen der Katze wirklich sind. Sein Vorschlag wurde als albern abgetan. Viel Zeit blieb ihnen nicht mehr. Am nächsten Tag beschlossen sie, Geld für die Katze zu sammeln. Sie waren überzeugt, dass das zu etwas führen wird. Dass das die ersehnte Lösung ist. Es kamen zweihundertvierzig Euro zusammen. Aber keiner wusste so recht, wie das Geld eingesetzt werden sollte, um die Katze zu retten. Um das herauszufinden, versammelten sie sich auf der Terrasse. Während sie miteinander beratschlagten, kam ein Hund auf das Gelände. Sie kannten ihn. Meistens lag er auf dem Parkplatz vor dem angesagten Café. Jeder von ihnen wusste, dass ein junges Ehepaar aus London ihn auf der Insel ausgesetzt hatte, dass sie einfach ohne ihn zurückgeflogen waren. Seither streunte er herum und machte immer einen friedlichen Eindruck. Deswegen dachten sie sich auch nichts weiter. Die Katze schon. Sie machte einen Buckel und fauchte. Der Hund lief ihr entgegen, sprang sie an und biss mehrmals zu. Eine Frau lief entsetzt hin und verjagte den Hund. Die Katze schüttelte sich mehrmals und ging weiter. Kein Blut war zu sehen. Alle waren beruhigt. Zehn Minuten später lag sie tot auf der Terrasse. An der Stelle, an der sie jeden Tag ihre Mahlzeiten eingenommen hat. Die Gäste begruben sie gemeinsam unter einem Baum. Danach griffen sie in den Spendentopf und holten sich das Geld zurück, dass sie hineingeworfen hatten.

 

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Lebensentwürfe # 36 (Sebastians Mutter stirbt…)

Lebensentwürfe # 36

Sebastians Vater ist am Telefon und will, dass Sebastian sofort kommt. Es ist das erste Mal, dass Sebastian während er die Stimme seines Vaters hört, keinen Widerwillen gegen ihn aufbringen kann. Und das, obwohl sein Vater ihm wieder nichts freistellt. Wieder darf nicht er entscheiden, ob er kommen will oder nicht. Es wird einfach von ihm verlangt. Genauso wie früher. Hatte er sich widersetzt, musste er danach die Bestrafungen aushalten. Aber dieses Mal rebelliert Sebastian nicht. Dieses Mal stimmt er einfach zu und tut das, was von ihm gefordert wird. Er bucht den nächsten Flug, packt ein paar Sachen und verlässt die Wohnung. Drei Stunden später holt ihn sein Vater vom Flughafen ab und schon steht er im Flur seines Elternhauses. In dem Haus, in dem er aufgewachsen ist. Er stellt seine Reisetasche an der Garderobe ab, die ihm verhasst ist. Es sind fünf messingfarbene Haken in Reih und Glied. Jeder Haken hat unten zwei kleine Häkchen und einen großen, der mit Schwung nach oben ragt und verziert ist. An allen hängen aufgepolsterte Kleiderbügel, mit rotem Samt bezogen und mit goldenen Bordüren bestückt. Für Sebastian ist das nach wie vor kein Ort für Mäntel und Jacken, sondern einer für ungute Erinnerungen. Er hat keine davon vergessen. Auch nach so vielen Jahren noch nicht. Das, was er dort auf dem Boden erlebt und aushalten musste, hat ihm den Glauben an die Welt verdorben. Prompt meldet sich sein Magen. Sebastian wendet seinen Blick von der Garderobe ab und sieht seinen Vater an. Er möchte ihn etwas fragen. Noch bevor er seine Frage ganz ausgesprochen hat, bemerkt er schon, wie er wieder zu einem kleinen Jungen wird. Zu jemanden, der immer erst fragen muss, bevor er etwas machen darf. Auch sein Tonfall hat sich verändert. Seine Stimme klingt jetzt gepresst oder verbogen. Jedenfalls so, als würde er ihr nicht genügend Luft zur Verfügung stellen. Sebastian möchte von seinem Vater wissen, ob er seine Schuhe ausziehen soll und ob es Hausschuhe für ihn gibt. Sein Vater antwortet nicht. Er zuckt nur mit den Schultern. Dass er sich auch uneindeutig verhalten kann, ist für Sebastian neu. Er vermutet, das liegt an den Umständen. Seine Mutter liegt im Sterben. Sebastian lässt die Schuhe an, mit ihnen fühlt er sich stärker. Er drückt den Türgriff nach unten und geht ins Wohnzimmer. Fast wirkt alles wie immer. Wieder stechen ihm als erstes die weißen Gardinen ins Auge. Die Stores. Er mochte sie nie anfassen. Das Gespinst aus Plastik, das angebracht worden ist, damit niemand von draußen hereinsehen kann. Er betritt den teuren Perserteppich, wegen den Straßenschuhen nicht ohne Schuldgefühle. Sein Vater setzt sich auf das cremefarbene Sofa zu seinen Enkelkindern und zu Sebastians Geschwistern. Ein paar Meter weiter steht ein gemietetes Pflegebett. Sebastian nimmt einen neuen Geruch wahr. Einen Körpergeruch. Er kennt ihn noch nicht. Es riecht süß-säuerlich, pilzig. Sebastian überprüft, ob er etwas fühlt. Aber da ist nichts. Es tauchen keine Gefühle auf. Er betrachtet seine Mutter, wie sie in diesem Bett liegt. Ihr Körper sieht zerbrechlich aus. Äußerst schwach. Sie hat noch mehr abgenommen. Vor ein paar Monaten hat der Vater darauf bestanden, alleine mit dem Arzt zu sprechen. Und dem Arzt hat er dann verboten, seiner Mutter die vollständige Diagnose zu nennen. Ihr zu erzählen, womit zu rechnen ist. Und wie bald schon. Auch Sebastian hatte er untersagt, der Mutter die Wahrheit zu sagen. Aber das Unvermeidbare schläft nicht. Seine Mutter hatte es auch so herausgefunden. Aber offen darüber gesprochen wurde seitdem trotzdem nicht. Auf ihrer Stirn haben sich mehr Altersflecken ausgebreitet. Sie wirken wie aus der Tiefe entlassene dunkle Tropfen. Ihr Mund steht offen. Die Lippen sind rissig. Sein Vater hatte ihm bereits am Telefon gesagt, dass seine Mutter nicht mehr isst und nicht mehr spricht. Sie würde nur ab und zu noch ein Wort hauchen. Sebastian setzt sich auf den Stuhl, der schon neben ihrem Bett steht. Seine Mutter schlägt die Augen auf, sieht ihn an und haucht ein Wort. Einen Namen. Es ist nicht seiner. Das Gehirn hat ihr diesen Zugriff versagt. Es ist der von einem Enkel. Sebastian übergeht das. Er weiß, dass es dieses Mal keine Absicht war. Er weiß, dass sie ihn erkennt. Sebastian will seiner Mutter länger in die Augen sehen. Dafür muss er sich vorbereiten. Schon als Kind fiel es ihm schwer, Augenkontakt mit ihr zu halten. Er versteift seinen Rücken. Anspannung hilft ihm. Gibt ihm ein Gefühl von Sicherheit. Er sieht wieder hin. Dieses Mal genauer. Die Augen seiner Mutter strahlen. Das überrascht ihn. Aber es ist eindeutig. Das Strahlen gilt ihm. Es überrascht ihn wirklich. Er kann sich nicht erinnern, schon einmal von ihr so angesehen worden zu sein. Da ist Wärme in ihren Augen. Er hat mit etwas anderem gerechnet. Er kennt ihren kalten abschätzigen Blick. Manchmal auch den verachtenden. Seine Mutter stöhnt, verzieht ihr Gesicht und deutet auf ihren Bauch. Es wird nach der Pflegekraft gerufen. Sein Vater hat vor einem Monat eine engagiert. Sie legt der Mutter eine Tablette auf die Zunge und führt einen Strohhalm an ihren Mund. Es dauert lange, bis seine Mutter den klebrig wirkenden Saft hochziehen und die Tablette schlucken kann. Die Pflegekraft hält ihr geduldig das Glas hin. Danach schlägt sie die Bettdecke zurück, zieht sich Einweghandschuhe an und nimmt der Mutter die Windel ab. Sebastian wendet seinen Blick nicht ab. Die Schamhaare seiner Mutter sind grau. Und dann ist da aber auch noch etwas. Unter den dünnen grauen Strähnen ist ein dunkles kreisförmiges Muttermal zu sehen. Ein Schönheitspunkt. Er hat ihn an der gleichen Stelle. Diese exakte Übereinstimmung verwirrt ihn. Er wusste nichts davon. Wie kann das sein, dass etwas so genau vererbt werden kann. Er ist von etwas berührt und weiß nicht genau von was. Vom Schicksalhaften vielleicht. Seine Mutter wird mit Feuchttüchern gereinigt. Eine neue Windel wird ihr umgelegt und ein frischer Schlafanzug angezogen. Einer aus Nicki. Er blickt seiner Mutter erneut in die Augen und wieder strahlt sie ihn an. Aber da erkennt er auch noch etwas anderes in ihrem Blick. Er weiß, was es ist. Es ist fast schon ein Betteln. Sie möchte, dass er ihr vergibt. Sebastian bleibt stumm. Es hätte früher geschehen müssen. Das mit dem Reden. Und alles andere auch. In ihm wohnt immer noch so viel Groll. Schon seit langem bemüht sich Sebastian, mit dem Geschehenem fertig zu werden. Ohne sie. Aber auch das bleibt unausgesprochen. Seine Mutter weiß nichts von seinen vielen Bemühungen.
Eine Nachbarin kommt und setzt sich ebenfalls ans Bett. Sie erzählt von früher und hält dabei der Mutter die Hand. Sie berichtet vom Tanzengehen, vom Skifahren und wie schön das alles mit ihr war. Auch streichelt sie der Mutter sanft übers Gesicht und sagt, dass ihr der Schlafanzug gut stehe. Sebastian möchte seine Mutter nicht berühren. Weder ihr Gesicht noch ihre Hand. Das Zuhören erschöpft die Mutter. Sie schließt die Augen und döst weg. Die Nachbarin verabschiedet sich, auch vom Vater. Sebastian möchte sich auch etwas ausruhen und geht ins Esszimmer. Dort ist alles wie immer. Reinlich und in einem Glasschrank, der auch heute von innen beleuchtet ist, stehen Unmengen an Kristallgläsern. Er legt sich auf die Eckbank. Im Liegen tauchen Erinnerungen auf und Angst. Seine Angst ist oft mächtig. So mächtig wie früher seine Mutter mächtig war. Die Angst hat ihn im Griff. Vieles ist immer noch so verknotet. Vor Jahren hatte Sebastian etwas aus dem Mund seiner Mutter gehört, aber nur einmal: dabei mag ich dich doch so gerne und magst du mich? Dieser Satz kam am Ende eines langen Vorwurfs und war wie ein Erpressungsversuch. Seine Mutter war davon ausgegangen, dass er es nicht fertig bringen würde, die Frage unbeantwortet zu lassen. Aber er schaffte es.
Zwei Stunden später wacht seine Mutter noch einmal auf. Sein Vater, seine Geschwister, seine Nichten und Neffen versammeln sich um das Pflegebett. Und dann ist sie hinüber geglitten. Es hat eine Stunde gedauert. Es hat kein Röcheln gegeben und auch keine Worte. Auch keine gehauchten. Alle Anwesenden haben nur ihren Atemzügen gelauscht bis keine mehr zu hören waren.
Jetzt, am nächsten Morgen, sitzen alle im Esszimmer und unterhalten sich. Jetzt will niemand mehr neben ihr sitzen. Im gleichen Raum mit einer Toten. Die Tür zum Flur ist zu. Die Tür zum Esszimmer auch. Sebastian hört verschiedene Stimmen durch die Tür. Nur er hält sich noch im Wohnzimmer auf. Bleibt hartnäckig am Bett seiner toten Mutter sitzen. Und jetzt greift er nach ihrer Hand. Sie ist eisig. Er ist sanft. Seine Wärme fließt in das erkaltete Fleisch. Ihre Finger werden warm, auch ihre Handfläche. Das erstaunt ihn. Und etwas anderes geht jetzt auch. Das Weinen. Er versteht, dass jetzt etwas zu Ende gegangen ist, das nicht besonders schön war. Etwas, dass nun auch nicht mehr schön werden kann. Nie mehr. Nichts kann noch hinzugefügt werden. Keine Worte. Keine Gesten. Keine Taten. Aus die Maus. Außer das Bedauern, das gibt es noch. Aber Wiedergutmachungen sind nun nicht mehr möglich. Keine einzige mehr. Sie haben sich verlaufen. Alle. Haben keine Zeit gefunden. Nicht zu ihm gefunden. Da wo sie hingehört hätten. Nun wird alles so bleiben, so unausgesprochen. Einer seiner Nasenflügel zittert und seine Hose saugt weiter salzige Tropfen auf. Und plötzlich geht jetzt noch etwas anderes. Er spricht. Er erzählt ihr das, was ihn geplagt hat, verletzt hat, gedemütigt hat. Die Antworten bleiben aus. Das ist wahrscheinlich ein Segen.
Jemand klingelt. Der Vater geht zur Haustür. Kurz darauf geht die Tür zum Wohnzimmer auf. Es sind die Bestatter. Einer von ihnen schüttelt Sebastian die Hand. Sie wenden sich der toten Mutter zu und fragen nach der Kleidung für den Sarg. Sebastian übernimmt das. Er holt aus dem Schlafzimmer seiner Eltern eine schwarze Hose, eine weiße Bluse und eine Jacke im Jackie Kennedy Stil. Eine mit goldenen Knöpfen. Zurück im Wohnzimmer hilft er den Bestattern beim Ent- und neu Einkleiden der Mutter. Seine Mutter wird in ein Tuch gehüllt und zu einem provisorischen Sarg getragen. Sebastian geht zu seiner Reisetasche, zieht ein Stofftier heraus und kehrt zum Sarg zurück. Er legt es seiner Mutter auf die Brust. Auf die Höhe ihres Herzens.

 

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Lebensentwürfe # 33 (Mia und Marie Ostsee…)

Lebensentwürfe # 33

Mia war bei Marie zu Besuch, aber seit einer Stunde saßen sie im Zug Richtung Norden. Sie wollten ein paar Tage auf einer Miniinsel in der Ostsee verbringen. Sie freuten sich auf Frischluft, warme Sonnenstrahlen, die Weite des Meeres und Imbissbuden, die Fischbrötchen verkaufen. Bismarck. Matjes. Makrele. Brathering. Lachs. Sie wollten alle Sorten probieren und danach eine Rankingliste erstellen. Aber Mia wünschte sich noch ein bisschen mehr. Sie träumte davon, einem Mann begegnen zu können, der sie aus ihrer Ehe reißt. Gestern Abend hatte sie Marie deswegen schon gefragt, ob sie sich noch schnell ein Haarfärbemittel besorgen soll. Sie meinte, es wäre von Vorteil, wenn sie während der nächsten Tage schön aussehen könne. Zumindest so gut, wie sie es auf die Schnelle noch hinbekommen könne. Denn Mia war überzeugt, dass diese Begegnung nicht zustande kommen kann, wenn ihr grauer Haaransatz zu sehen ist. Marie sagte nur, das Schicksal sei nicht so kraftlos, dass es auf ein Haarfärbemittel angewiesen ist, um zuschlagen zu können. Mia ging dann kein Färbemittel holen. Angeblich nur, weil sie Maries Badezimmer für diese Sauerei nicht benutzen wollte. Und dann kam doch alles ganz anders. Zumindest für Marie. Nach einer zweistündigen Fahrt mit der Fähre kamen sie gegen acht Uhr im Hafen an und suchten dann gleich ihr kleines Apartment auf. Sie packten ihre Reisetaschen aus und planten den nächsten Tag. Auf der Insel gab es einen einzigen Bus, einen Elektrobus, der die Insel ein paar Mal am Tag rauf und runter fuhr. Mit ihm wollten sie bis zur Endhaltestelle mitfahren und dann sehen, was sich so ergeben würde. Sie gingen früh schlafen, standen früh auf und gingen als erstes zum Hafen. Marie blieb vor der Bushaltestelle stehen und sah auf den Plan. Als sie die passende Abfahrtszeit entdeckt hatte, stellte sich ein Mann neben sie. Er sprach Marie ohne Umwege an und ohne sie zu grüßen. Er begann einfach mit einem langen Satz. Marie drehte ihren Kopf zu ihm. Er schien von diesem Dorf zu sein. Er war um die dreißig, muskulös, um einiges größer als Marie und blond. Er trug einen zeitlosen Kurzhaarschnitt und eine blaue Latzhose. Marie sah in sein apartes Gesicht. Mit dem rechten Auge konnte er seinen Blick nicht kontrollieren, es kreiste wahllos hin und her, aber mit dem linken konnte er geradeaus sehen. Seine Worte waren schwer verständlich. Manche Silben sprach er sehr gedehnt, andere verschluckte er und manche Worte, die den Satz vervollständigt hätten, ließ er gleich ganz weg. Marie wollte sicher gehen, dass sie ihn verstanden hatte und wiederholte alles mit ihren Worten. Dabei sah sie ihm in das Auge, das stillhalten konnte. »Meinst du, dass jetzt kein Bus kommen wird, weil jetzt auch keine Fähre kommt? Dass hier auf der Insel überhaupt nur dann Busse fahren, wenn auch Fähren ankommen?« Er nickte. »Aber auf dem Busfahrplan steht, dass der nächste Bus in zehn Minuten kommt!« Der Mann schüttelte den Kopf und verschwand. Marie gefiel es, dass er die Informationen des Busfahrplans ignorierte. Er schien seine eigene Logik zu haben und die fand er spannender und Marie fand ihn spannender als den Busfahrplan. Marie schaute zu Mia hinüber und beobachtete sie. Sie fotografierte ein paar alte Fischerboote. Dann tauchte der Mann ohne Namen wieder auf. Aus seinem schwer verständlichen Redefluss konnte Marie entnehmen, dass er sich bei einem Freund nach dem Bus erkundigt hatte, und nun wisse, der Bus würde gleich kommen. Marie könne also hier stehen bleiben. Marie berührte diese Hilfsbereitschaft und sein Umgang mit Widersprüchen. Dass ihm das egal war, wie oft oder wie sehr er sich widersprach, lockerte alles gleich so auf. Er zeigte ihr damit, dass überhaupt und generell alles auch ganz einfach sein kann. Marie war ihm dafür dankbar. Nachdem sie einen langen Spaziergang zu einem Leuchtturm gemacht hatten, erreichten sie gegen Mittag ein Dorf. Als erstes machten sie eine Pause bei einer Eisdiele. Sie holten sich Eiscremebecher und setzten sich auf eine Bank. Marie löffelte kleine Portionen Karameleis auf ihren Holzspatel und Mia Himbeereis auf ihren. Ein wenig später tauchte der Mann ohne Namen wieder auf. Er unterhielt sich an einer Wegkreuzung mit einer jungen Frau und schien Mia und Marie nicht zu bemerken. Die junge Frau und er schienen sich zu kennen. Sie wirkten vertraut. Ein kleines Kätzchen kam an und schlich der Frau um die Fußknöchel. Sie hob es hoch und hielt es vor ihr Gesicht. Der Mann ohne Namen beugte sich vor und küsste das Fell des kleinen Kätzchens. Der Kuss sollte wohl durch das Fell des Kätzchens hindurchfließen und auf der anderen Seite bei der jungen Frau landen. Die junge Frau hatte das Spiel verstanden und drückte ihre Wange in das Fell des Kätzchens. Und dann küsste sie das Fell der Katze auf ihrer Seite und der Mann ohne Namen drückte seine Wange in das Fell der Katze. Danach verabschiedete sich die junge Frau von ihm und sagte mehrmals: »Dann bis Samstag!« Einen Tag später erfuhren Mia und Marie, was es mit diesem Samstag auf sich hatte. Sie waren in einem anderen Dorf auf der Suche nach Fischbrötchen und waren aus Versehen in ein verlassenes Industriegebiet geraten, als plötzlich der Mann ohne Namen mit dem Fahrrad auf sie zukam. Er musste sie schon vorher beobachtet haben. Denn sonst schien es niemanden hierher zu verschlagen. Er bremste, blieb abrupt vor ihnen stehen und lud sie ganz unvermittelt zu einer Party ein. Am Samstagabend gäbe es ein Fest im Dorf. Es berührte Marie, dass er sein Interesse so offen vor sie hinlegte, wie eine Katze jemandem eine Maus vor die Füße legte. Es kam ihr so vor, als könne der Mann bei ihr einen Glücksschalter bedienen, jederzeit alles leichter und heller machen. Sonst käme hier wahrscheinlich niemand auf die Idee zwei Touristinnen auf ein Dorffest einzuladen. Man hält hier die Touristen eher auf Distanz, es sei denn man kann mit ihnen Geld verdienen. Aber dem Mann ohne Namen waren solche Konventionen schnuppe. Marie erfreute sich mehr an ihm, als an der schönen Landschaft. Heidekraut, Fichten, Kiefern und der weiße Strand waren für sie zweitrangig. Er wollte sie dabei haben und das war großartig. Punkt. Mia und Marie bedauerten, dass sie für diesen Tag schon ihre Rückfahrt gebucht hatten. Viel lieber hätten sie ihm zugesagt. Hätten mit ihm das Tanzbein geschwungen. Der Mann radelte danach grußlos weg. Aber schon eine Stunde später sahen sie ihn wieder. Er kam die Hauptstraße entlang und stoppte vor dem Restaurant, in dem sie gerade Kaffee und Kuchen zu sich nahmen. Als er die paar Stufen, die zur Terrasse führten, hoch eilte, winkte ihm Marie erfreut zu. Er aber warf ihr keinen Blick zu und sagte nur: »Dich habe ich heute schon gesehen. Du interessierst mich jetzt gar nicht.« Seine Worte lösten bei Marie Heiterkeit aus. Sie musste lachen. Am Abend sahen sie den Mann ohne Namen dann noch einmal in dem Dorf, in dem sie wohnten, am Hafen. Er fuhr mit einem Motorboot aufs Meer hinaus und warf die Fischreste von einem Restaurant ins Wasser. An ihrem letzten Abend gingen sie deswegen noch einmal zum Hafen. Sie hofften, sie könnten mit ihm ein wenig aufs Meer hinausfahren. Als sie ankamen, war er schon da. Sie setzten sich auf eine Bank und der Mann ohne Namen fuhr mit dem Fahrrad herum. Marie grüßte ihn jedes Mal, wenn er bei ihnen vorbeikam. Das erste Mal schüttelte er bloß den Kopf und rief: »Nein, nein, nein!«. Und das zweite Mal, sagte er: »Ja, ja, ja.« und kam ein paar Minuten später zu Fuß in ihre Richtung gelaufen. Er blieb dann aber bei einem fest installierten Mülleimer stehen und tat so, als müsste er dort etwas kontrollieren oder vielleicht kontrollierte er dort auch wirklich etwas. Als Marie sich sicher war, dass er sie hören konnte, fragte sie ihn, ob sie heute mit ihm und dem Boot ein wenig aufs Meer hinausfahren könnten. Das würde sie sehr freuen. Der Mann ohne Namen kam näher, setzte sich neben Marie auf die Armlehne der Bank, sah Marie eindringlich an und sagte: »Aber warum hast du das denn nicht schon früher gesagt!« Seine Stimme war sanft. Alles war gut zu verstehen. Keine Silbe war verschluckt oder ausgelassen worden. »Du warst also heute schon draußen!«, fragte Marie. Er nickte. »Na dann«, sagte Marie, »machen wir das im nächsten Jahr!«. Der Mann ohne Namen verdrehte die Augen, eigentlich nur eines, das andere drehte sich ja schon von alleine und sagte: »Ich habe doch keine Ahnung, wo ich nächstes Jahr bin!« Marie fragte nach, ob er sich denn oft in dem anderen Dorf aufhalten würde, wo sie ihn bei dem Restaurant gesehen hatten. Ja, sagte er, er würde jeden Tag dorthin radeln, dort seien seine Chancen jemanden zu finden viel höher als hier.
Dieser Mann ohne Namen hat sich in Marie hinein geschlichen und wohnt jetzt bei ihr. Jede Erinnerung an ihn fühlt sich gut an. Ungefähr so, wie wenn sie ihre Hand auf einen warmen Laib Brot legt. Marie hätte sich eine letzte Begegnung gewünscht. Aber der Mann ohne Namen kam nicht zum Hafen, als ihre Fähre abfuhr. Das Leben ist so eigenartig, denkt Marie, manchmal spielt es einem etwas zu und dann liegt es nur an einem selbst, ob man mitspielt oder nicht.

 

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