Wünsche # 48
Jetzt klopf doch schon an meine Tür. Sie wird aufgehen.
Ich stelle mir vor, man hebt mich auf wie einen kleinen seltenen Käfer und sagt dann viel Schönes über mich, bestaunt mich jeden Tag aufs Neue und freut sich darüber, was für ein schönes Vorkommsel ich doch bin. Solange bis ich wirklich genug davon habe.
Noch mal schnell mit jemandem zwischenschlafen, bevor die nächste Reklamefrequenz anfängt, die Kirchturmuhr zur vollen Stunde schlägt, der Sommer vorbei ist, das Jahr zu Ende geht oder ich den Abflug mache.
Gingen wir als Familie essen, war das mit meiner Mutter immer so eine Sache. Wir machten an den Wochenenden mit unseren Fahrrädern oft Tagesausflüge und kehrten dann zu Mittag irgendwo ein. Meine Mutter durfte aussuchen, in welchem Restaurant wir speisen würden. Meistens wählte sie eines, das ihren ästhetischen Vorlieben entsprach. Aber nie landete etwas auf ihrem Teller, was sie glücklich gemacht hätte. Mein Vater war an solchen Tagen spendabel, ihm war wichtig, dass wir zufriedene Gesichter machten. Aber meiner Mutter gelang es nicht, sich selbst zufrieden zu stellen. Mein Vater, meine Schwester und ich waren schon längst soweit, eine Bestellung aufzugeben, aber meine Mutter hielt noch die Speisekarte fest. Die Bedienung war schon mehrmals am Tisch und musste unverrichteter Dinge wieder abziehen, denn meine Mutter schwankte noch zwischen diversen Gerichten. Meine Mutter war gefangen. Nie konnte ich herausfinden oder begreifen, worum es da ging. Es musste um etwas Zähes gehen, um etwas, das sich nicht leicht auflösen ließ. Stand das Gericht vor ihr, war schon nach dem ersten Bissen klar, dass sie sich für das falsche entschieden hatte. Kurz angebunden sagte sie: „Ich hätte doch etwas anderes nehmen sollen!“ Danach schwenkte sie ihre Gabel nach links oder nach rechts, je nachdem wo mein Vater saß, besuchte seinen Teller und sagte: „Dein Essen schmeckt aber gut!“ und sah traurig aus. Da meine Schwester und ich schon vorher wussten, wie das ablaufen wird, ermahnten wir sie oft und sagten: „Aber Mama, das schmeckt dir doch gar nicht! Bestell dir doch etwas anderes!“ Unsere Mutter entgegnete dann nur: „Aber heute will ich halt mal das!“ und schon ging es wieder schief. Meine Mutter hatte es nicht geschafft, dieses Verhalten aufzulösen. Bis zu ihrem Tod blieb es an ihr haften.
Er schiebt das Telefon zurück in seine Hosentasche und spürt, wie sich seine Laune verschlechtert. Mit seinen fünfundsiebzig Jahren beißt er jetzt die Zähne zusammen wie ein trotziges Kind. Dass er mit dem Druck seinen Zähnen schadet, ist ihm bewusst. Trotzdem will er den Kiefer nicht locker lassen. Er will den Zähnen weiterhin den Druck zumuten. Er hat Sebastians Nachricht zur Kenntnis genommen. Er denkt sich, dass er doch genug Lebenserfahrung hat, auch mit jungen Leuten. Aber das hilft ihm jetzt herzlich wenig. Sein Ärger lässt sich nicht so einfach aus seinem Körper hebeln, wie man einen Nagel aus der Wand zieht. Außerdem spürt er ihn nicht nur an einer Stelle, sondern im ganzen Körper. Der Ärger füllt ihn aus, wie schmutzige Wäsche die Trommel einer Waschmaschine. Ich habe mir doch Mühe gegeben, sagt er sich, und schiebt die Ärmel seines dunkelgrauen Pullovers hoch. Erst den linken und dann den rechten, beide bis über die Ellenbogen. Ihm ist nach kühler Luft auf der Haut. Sogar an den Computer hat er sich gesetzt und im Internet nachgesehen, was kulturell gerade so geboten wird. Es dauerte bis er sich da zurecht gefunden hatte. Bestimmt saß er mehr als eine Stunde vor dem Bildschirm auf der Suche nach einem guten Vorschlag. Er wollte etwas finden, was seinen Sohn interessiert. Und weil er wußte, dass Sebastian sich für Literatur begeistern kann, schlug er die Ausstellung von Anna Louise Karsch in Halberstadt vor. Genau das Richtige für einen Vater-Sohn-Ausflug. Er war sich sicher, dass Sebastian sich über den Vorschlag freuen würde. Etwas über eine relativ unbekannte Dichterin zu erfahren, ist doch genau sein Ding. All das waren seine Gedanken. Es gab gar keine Zweifel. Deshalb hatte er für übermorgen auch ein Mietauto reserviert. Aber nun ist die Grenze da. Zack. Sebastian hat den Schlagbaum nach unten sausen lassen. Und dafür hat es nur eine Textnachricht gebraucht. »Ich komme nicht mit.« Vier Worte und schon war die Sache für ihn erledigt. Das zu tippen hat ihn vielleicht fünf Sekunden gekostete. Mehr Zeit musste er dafür nicht investieren. Fünf Sekunden und schon ist das Treffen ins Wasser gefallen.
Marie fährt mit jeder Hand in einen Wanderschuh, beugt sich über den Abfalleimer und klopft die Schuhe an der Unterkante gegeneinander. Trockene Erdpartikel fallen aus den Gummiprofilen. Sie wiederholt den Vorgang. Nach vier bis fünf Stößen bröckelt nichts mehr heraus. Marie stellt die Schuhe ab, geht zum Korb mit dem Altpapier, zieht eine Zeitung heraus, klappt sie auseinander, stellt die Schuhe darauf ab und betrachtet das Leder. Ein paar Stellen weisen tiefe Striemen auf. Sie stammen vom Querfeldeinlaufen. Vom sich Durchschlagen. Das war Sebastians Vorschlag. Marie bleibt beim Wandern lieber auf dem Weg. Zu wissen, dass jeder Weg irgendwo hinführt, erleichtert sie. Auch kann sie die Zeit in der Natur mehr genießen, wenn sie nicht auf jeden Schritt acht geben muss. Sobald sie aufpassen muss, wo genau sie hintritt, belastet sie das. Trotzdem hatte sie Sebastians Vorschlag zugestimmt. Denn er bevorzugte das Gegenteil. Sebastian folgt nicht gerne einem Weg. Bei ihm kann plötzlich das Gefühl entstehen, dass ein Weg nur dazu da ist, ihm etwas vorzuschreiben. Hat sich das Gefühl erst einmal bei ihm eingeschlichen, kann es passieren, dass er die Lust am Wandern verliert. Und am Samstag war es dann genau so. Sebastian fühlte sich seiner Freiheit beraubt, begann zu seufzen und hörte gar nicht mehr damit auf. Also stimmte Marie zu, in den Wald einzubiegen und zu schauen, wohin sie das führt. Sebastians Freude war groß. Nun lag etwas Unerwartetes vor ihnen. Das beflügelte ihn und er bekam gute Laune. Marie betrachtet die aufgerissenen Stellen im Leder. Gleich wird sie die Schuhe einfetten und hoffen, dass das Fett das Leder wieder glätten wird. Dafür braucht sie nur die Dose mit der Schuhcreme und einen alten Lappen. Zur Vorbereitung stopft sie schon mal die langen Schnürsenkel ins Schuhinnere. Dass wir vom Weg abgewichen sind, denkt Marie, war nicht unbedingt das Problem. Aber nach einer Stunde hatten sie die Orientierung verloren und die Telefone hatten keinen Empfang. Als es dann auch noch dunkel wurde, hatte Marie das so gestresst, dass sie laut geworden war. Sebastian wurde immer stiller. Am Ende hatte er gar nicht mehr gesprochen. Marie öffnet eine Schachtel, kramt nach der Dose mit der farblosen Schuhcreme, greift nach einem Lappen, kehrt in die Küche zurück, kniet sich auf den Boden, nimmt mit dem alten Lappen farbloses Fett auf und verteilt es auf die Striemen der Wanderschuhe. Auf ihre Anrufe hat Sebastian seit zwei Tagen nicht mehr geantwortet.
Sebastian legt die Schere zur Seite und faltet den Teil des Papiers, den er nicht mehr brauchen wird, wieder zusammen. Er wickelt seine Geschenke immer im gleichen Stil ein. Ungefähr alle fünf Jahre kommt es dann wieder zu einer Veränderung, aber im Moment ist es noch das silberne Seidenpapier. Er hat es auf Vorrat gekauft. Zehn Packungen mit je drei Bögen. Dazu noch fünf Rollen neongelbes japanisches Klebeband. Eines, das man leicht wieder abziehen kann. Und dieses Washi-Tape gibt dem äußeren Erscheinungsbild dann noch das gewisse Etwas. Sebastian zieht das Preisschild von dem kleinen Zierteller ab, schlägt ihn in Luftpolsterfolie ein, legt ihn gut gepolstert auf das zurecht geschnittene Stück Seidenpapier und hält inne. Da ist es wieder. Er kann es spüren. Ein ganz konkretes Bedürfnis macht sich in seinem Körper breit. Es taucht immer dann auf, wenn er ein liebevoll ausgewähltes Geschenk einpackt.
Gibt es einen Anlass für ein Geschenk, einen Geburtstag oder einen anderen Grund, der ein Geschenk erforderlich macht, möchte Sebastian nicht nur das Geschenk verschenken, sondern mit dazu auch gleich noch den Platz, den das Geschenk in der Wohnung einnehmen soll. Sebastian schluckt. Er sieht den Zettel schon vor seinem inneren Auge aufblitzen. Ein kleiner weißer Zettel, auf dem steht, wo sein Geschenk hingestellt, hingehängt, hingelegt oder dagegen gelehnt werden soll. Er will durch das Mitbestimmen des Platzes seinen Wert festlegen. Den Wert, den er für die andere Person hat. Das will er auf keinen Fall den Beschenkten überlassen.
Sebastian sitzt am Schreibtisch und klickt auf die gerade eingetroffene E-Mail. Endlich, denkt er, werden mir die notwendigen Informationen zugeschickt. Obwohl es für Sebastian ein Graus ist, mit Menschen in einem Kreis zu sitzen und etwas von sich Preis zu geben, konnte er sich im Juli einen Ruck geben und ein dreitägiges Seminar buchen. Es findet nur zweihundertfünfzig Kilometer von seinem Wohnort entfernt statt. Also machbar. Als er sich vor vier Monaten dafür angemeldet hat, hat er sich in seinem Kalender auch gleich die Tage dafür blockiert. Sebastian will etwas in Angriff nehmen, ins Auge fassen. Er will sich seinem Ausweichen stellen. Sebastian findet, dass so vieles in seinem Leben belanglos, gleichförmig, stupide und schal ist. Und er will noch nicht aufgeben mehr zu wollen! Diese Stagnation, die die Lebensfreude auf der Strecke lässt, lässt sich doch ändern! Das Seminar wird mein Rohrverstopfungsreiniger sein, denkt Sebastian. Es wird mich durchpusten. Mich befreien. Die Leiterin, die auf ihrer Webseite ein äußerst sympathisches Video veröffentlicht hat, wird dafür die richtigen Worte haben. Sie ist geschult, erfahren und kann emotionale Abläufe durchschauen. Sebastian geht davon aus, dass sie bei ihm etwas bewirken wird und auch davon, dass das Seminar bei ihm etwas auslösen wird. In der Natur wird auch ständig etwas ausgelöst. Zum Beispiel lösen dort Temperaturen etwas aus. Eine Temperatur löst Regen aus, eine andere Schnee und wieder eine andere die Schneeschmelze. Also warum sollte so ein Seminar nichts bei mir auslösen können! Außerdem ist es auch mal an der Zeit, das etwas angestoßen, aufgestoßen, entlarvt wird. Es soll und wird und muss auch mal voran gehen. Sebastian spürt, wie sich sein Brustkorb weitet. Sich die Muskulatur in seinem Nacken entspannt. Auch seine Augen. Sebastian findet, dass er die richtige Entscheidung getroffen hat. Ich habe zugelassen, dass etwas geschehen kann. Sebastian ist mit sich zufrieden, atmet tief durch, unterbricht seine Gedanken, schaut zurück auf den Bildschirm und konzentriert sich auf die vor ihm stehenden Zeilen. Man solle das Geld für das Seminar in bar mitbringen, steht da. Weiter liest er, dass man vor Ort nicht mit Karte bezahlen kann. Sebastian findet aber keine Information darüber, ob er schon bezahlt hat. Er kann sich nicht mehr daran erinnern, ob er den Betrag bereits vor ein paar Monaten überwiesen hat. Er denkt schon, aber eine schriftliche Betätigung wäre ihm lieber. Sebastian sucht in seinem Eingangspostfach nach weiteren E-Mails, die das Seminar betreffen. Er findet aber nur eine einzige weitere E-Mail und die bestätigt nur, dass er sich angemeldet hat und mehr nicht. Sebastian seufzt und beschließt nachher seine Kontoauszüge zu durchforsten. Weiter steht da, man solle bequeme Kleidung mitbringen und eine Decke. Aus Energiespaargründen wird es so sein, dass der Raum nicht, wie sonst üblich, so gut beheizt werden kann. Mein Weekender wird mit einer warme Decke bereits voll sein, denkt Sebastian, und erinnert sich daran, dass er auch noch kein Hotel gebucht hat. Er sucht in der E-Mail nach der Adresse des Veranstaltungsortes, um eine möglichst nah gelegene Unterkunft zu finden. Auch benötigt er noch die Seminarzeiten, um entscheiden zu können, wann genau er losfahren muss, um pünktlich vor Ort zu sein. Aber weder die Adresse des Veranstaltungsorts wird in dem Schreiben erwähnt, noch steht da etwas über die Seminarzeiten. Sebastian schnauft. Auf einmal kommt ihm alles so umständlich vor. Beschwerlich. Nicht mehr der Mühe wert. Auch befürchtet er, in einem schrecklich eingerichteten Hotelzimmer übernachten zu müssen und während des Seminars nur ungesundes Zeug essen zu können und, dass er keinen von den anderen Teilnehmern sympathisch finden wird. Die Freude etwas in Gang gebracht zu haben schmilzt ihm unter den Fingern weg.