Kultur # 70 ( EEG= …)

 

Kultur # 70

EEG =  
Eintagsfliege Ertrinkt Geräuschlos 
Erich Erzürnt Gott 
Effektivitätsdenken Entspricht Günther
Elvira Evakuiert Griesnockerl
Elefant Erträgt Grapschen
Ehegelübde Erzeugt Grübeleien
Effekthascherei Erregt Gemüter
Einige Eltern Gaffen
Erschrockenes Erdferkel Guckt 
Elegantes Einstecktuch Goutieren
Ein Ei Großziehen
Eilig Esel Grüßen
Emils Entwicklungsunfähige Gehässigkeit
Ewigen Erwartungsdruck Gegenübertreten
Erzieherin Erduldet Geschmacklosigkeit
Endlich Eierlikör Gebunkert
Erstaunlich Emotionslose Gesellschaft
Empörung Einzigartig Glüht
Einmalig Eingeplante Grausamkeit
Einwandfrei Eingeübte Großzügigkeit
Einseitig Entgleistes Glück
Entwaffnend Entspannte Gesichter
Einfach Endlos Glucksen

 

 

Alltag # 112 (Nachholtag…)

Alltag # 112

Sebastian hat Mittagspause. Heute ist Nachholtag. Um ihn noch mehr genießen zu können, will er draußen sitzen. Es ist schon warm genug dafür. Er entscheidet sich für das Lokal, das nicht weit von seinem Büro entfernt ist. Er setzt sich an einen kleinen Tisch mit zwei Stühlen. Die Markise über dem Tisch ist heruntergefahren. Das stört ihn. Er würde lieber in der Sonne sitzen. Kurz überlegt er, wieder aufzustehen und nach einem Lokal zu suchen, bei dem die Tische von der Sonne beschienen sind, bleibt dann aber doch sitzen. Sein Hungergefühl rät ihm das. Die Speisekarte steckt in einem Holzblock. Bevor er sie herauszieht, wird er die Blumen anfassen. Neben der Speisekarte steht eine kleine weiße Keramikvase und darin haben drei Blumen ihr Zuhause gefunden. Er streckt seine Finger nach ihnen aus. Er will wissen, ob sie echt sind. Sie sind es nicht. Etwas aufzudecken, befriedigt ihn. Das hat etwas mit seiner Jugend zu tun. Kam ihm als Jugendlicher etwas ungereimt vor, hat er auch versucht, das aufzudecken. Zum Beispiel behaupteten seine Eltern, dass die Hosen, die er trug, keine Hosen seien und die, die sie trugen schon. Dabei hatten auch seine Hosen einen Reisverschluß, einen Bund mit Gürtelschlaufen und lange Beine, nur andere Muster und prägnante Farben. Als Jugendlicher waren ihm seine Eltern in vielen Dingen suspekt. So suspekt, wie ihm künstliche Blumen heute suspekt sind. Sie haben nichts mit dem Leben zu tun. Er greift nach der Speisekarte und schlägt sie auf. Er weiß schon ungefähr, was er an diesem Nachholtag bestellen wird. Nachholtage hat er vor einem Jahr für sich eingeführt. Als kleiner Junge hätte er gerne mehr Berührungen gehabt, mehr Ansprachen, mehr liebevolle Blicke. Aber das konnte er sich nicht bestellen. Es ist wie mit dem Wetter. Es ist schlichtweg nicht möglich, sich für die nächsten Wochen, Monate oder Jahre ein schönes Wetter zu bestellen. Das schöne Wetter kann einfach ausbleiben. Auch über einen längeren Zeitraum hinweg. Und für ein Kind kann auch Vieles ausbleiben, auch über einen langen Zeitraum hinweg. Deshalb hat er jetzt die Nachholtage eingeführt. Sebastian freut sich immer noch über seine Idee. Er wird seine Mittagspause für das Nachholen nutzen und seinen Magen dafür hergeben. Er überspringt die Seite mit den Salaten. Bei Ruccola, Feld- oder Eisbergsalat ist zu viel Müssen dabei. Und heute will er nicht müssen, heute will er haben. Vor allem Fett. Fett macht ihn glücklich. Als Mayonnaise, als Butter oder als etwas, das mit viel Käse überbacken ist. Oder ein Fisch mit einer öligen Haut. Oder ein Braten mit einer Kruste. Heute erlaubt er sich zuzugreifen, reinzuhauen. Je fettiger, umso besser. Sein Mund füllt sich schon mit Speichel. Nach dem Essen wird sein Magen schmerzen. Aber auch das wird gut sein. Das Gefühl, dass viel für ihn da ist, berührt ihn so, dass das dann keine Rolle mehr spielt. Bestimmt er einen Tag zum Nachholtag, achtet er darauf, dass er immer gleich und auf der Stelle so viel bekommt, dass es mehr als ausreichend ist. Er möchte Fülle spüren. Ohne Grenzen. Sebastian klappt die Speisekarte zu und winkt breit lächelnd den Kellner herbei.

 

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Abgehört # 46 (George Michael…)

Abgehört # 46

Andrew Ridgeley: »George (Michael) ließ alle Szenen aus seinen Videos herausschneiden, in denen ihm seine Haare nicht gefielen. Da war er erbarmungslos und das war etwas, was mich wirklich genervt hat, diese Eitelkeit. George machte immer ein Riesentheater um seine Haare, er verbrauchte so viel Haarspray, dass das Ozonloch darauf zurückzuführen ist.«

 

Alltag # 114 ( Marie Tsipouro Experiment…)

Alltag # 114

Marie plant ein Experiment. Dafür braucht sie Eiswürfel. Sie drückt ein paar davon in eine kleine Schale und verfrachtet den Rest zurück in das Tiefkühlfach ihres Kühlschranks. Sie greift nach einer Flasche und jetzt fehlt nur noch ein Glas und dann kann sie sich auf den Weg machen. Sie will zur schwarzen Halskette. In der Flasche ist Tsipouro, die griechische Variante von Grappa. Aus Frankreich, wo sie gerade war, hat sie keinen Schnaps mitgebracht. Nur neue Gefühlslagen. Also muss jetzt der Tsipouro für ihr Experiment herhalten. Marie war wegen Miriam in Frankreich. Miriam hat sich dort mit ein paar Freunden ein Haus gekauft. Es steht am Rand eines schönen Dorfes und hat einen großen Garten. Dass sie dort war, kommt ihr schon so weit weg vor. Aber etwas beschäftigt sie noch. Lässt sie nicht los. Raoul. Sie hat ihn dort kennengelernt. Beide haben sie beim Renovieren des Hauses mitgeholfen. Gleich am Anfang gefiel ihr, dass sich Raoul wie ein Hütehund verhielt. Saßen sie abends um den Tisch, war er stets darauf bedacht, dass sich alle wohl fühlten. Das gelang ihm auch. Er kochte für alle. Bezog alle ein. Er mochte es nicht, wenn die Gruppe auseinander fiel und jeder etwas nur für sich machte. Auch hatte ihr gleich gefallen, dass Raoul so viel mit seinen Augen ausdrücken konnte. Er brauchte ihr keine Komplimente zu machen oder einen Arm um ihre Schultern zu legen. Ein Blick von ihm genügte und sie wusste, in welche Richtung er ihre Begegnung schubsen wollte. Aber am allermeisten mochte sie, dass er so ausdauernd interessiert war, ihr das Lippenbalsam von den Lippen zu küssen. Nach zehn Tagen musste sie abreisen. Als er sie mit seinem Auto zum Bahnhof gebracht hatte und sie auf ihren Zug warteten, holte er ein Geschenk für sie heraus. Sie riss das Papier noch am Bahnhof auf. Es war eine Halskette. Schwarze Kugeln an einer Schnur aufgefädelt und einzeln aneinander geknotet. Für sie waren das lackierte Holzkugeln. Raoul meinte aber, dass es Kerne einer Frucht und dass sie von Natur aus so groß und schwarz seien. Angezogen reicht ihr die Kette bis zum Bauchnabel. Aber schon im Zug hatte sie sie wieder abgenommen. Sie trägt keinen Schmuck. Nicht am Hals, nicht an den Ohren und auch nicht an den Armgelenken. Raoul hatte das wohl nicht bemerkt oder wollte diese Tatsache bewusst übergehen. Schmuck ist für Marie, wie so vieles andere auch, nur etwas, das sie noch zusätzlich mit sich herumschleppen muss. Etwas, das zum Gewicht ihres Körpers dazu kommt. Den Pfunden ihres Körpers entkommt sie nicht so schnell, aber dem Gewicht eines Schmuckstücks schon. Solche Extras kann sie ablegen. Marie mag es, wenn ihre Arme, ihre Ohren und ihr Hals frei sind. Sie will dort nichts spüren müssen. Dort soll sich nichts an ihr reiben oder sich an ihr erwärmen können. Das muss nicht sein. Marie erreicht den Schreibtisch und stellt die Utensilien, die sie für den Versuch benötigt, ab. Als sie aus Frankreich zurück kam, hat sie die Kette gleich auf ihren Schreibtisch gelegt. Dort sitzt sie jeden Tag. Sie hat sein Geschenk zu einem kleinen Häufchen aufgetürmt. Gerade liegt es neben ihrem Laptop. Marie befördert ein paar Eiswürfel von der Schale in ihr Glas und wirft erneut einen Blick auf die Kette. Raoul hat sie noch nicht bei allen Lichtverhältnissen gesehen, seine Kette schon. Die hat sie schon bei Tageslicht gesehen, bei Glühbirnenlicht, in der Dämmung, bei Gewitter, bei Regen und bei Sonnenschein. Und einmal hat sie sie auch schon mit der Taschenlampe ihres Telefons angestrahlt. Sie wollte sich die Oberfläche ganz genau ansehen und war dann enttäuscht, dass sie nichts Spezielles darauf hat entdecken können. Der Name der Frucht ist ihr entfallen. Das bedauert sie. Sie hätte ihn gerne gegoogelt. Sie hätte gerne gewusst, wie eine Frucht aussieht, die so große Kerne produzieren kann. Marie öffnet die Flasche Tsipouro und erinnert sich daran, wie froh sie darüber war, dass Raoul ihr etwas geschenkt hatte, das keinen Anfang und kein Ende hat. Die Kette ist einfach ein in sich geschlossener Kreis, der in der Mitte offen ist. Das ist doch eine ideale Grundlage für eine Beziehung, denkt sie, wenn etwas gleichzeitig immer offen und immer geschlossen sein kann. Aber noch kann alles zu Grunde gehen. Sie kann noch alles zu Grunde richten. Sie ist eine Spezialistin dafür. Denn noch ist ihre Geschichte klein. Ein kleines Pflänzchen mit wenig Wurzeln. Es braucht nicht viel Kraft und schon hat man es ausgerissen. Hat sie es ausgerissen. Marie hat sich vorgenommen, Raoul zu antworten. Heute. Sie möchte auf seine SMS reagieren. Die Kette hat sie auf ihren Schreibtisch gelegt, um ihr nah sein zu können. Aber Raoul antwortet sie schon seit über zwei Wochen nicht. Ketten nah zu sein, ist einfach, denkt sie, und versteht nicht genau, was sie vor Raoul verstecken möchte. Er hat sie nur gefragt, wann sie sich wiedersehen. Marie gießt sich Tsipouro ein. Sie hofft, dass der Alkohol ihr Schweigen unterbrechen wird, damit sie in ihr Telefon tippen kann, was sie fühlt oder nicht fühlen möchte. Marie schüttet die ersten zwanzig Millimeter hinunter. Sie schmecken gut. Die Zunge und der Hals brennen angenehm. Weiter gehts. Marie legt eine Hand auf die Kette und kippt mit der anderen das zweite Glas hinunter. In einer Stunde wird sie hoffentlich Antworten parat haben.

 

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