Kultur # 65 (LKA=…)

 

Kultur # 65

LKA= 
Leichtsinnig Komfort Ablehnen
Lasziver Kopfgeburt Anheimfallen
Lukrativen Krimskrams Abstoßen
Lässig Kuschelschulter Anbieten
Lahmem Kraftfahrzeug Ausweichen
Lautstark Knutschfleck Androhen 
Langlebigen Kummer Abwimmeln
Liebenswerte Karin Auszeichnen
Lebenslang Küchenzeile Abwischen 
Locker Krokodil Ausweiden
Langgestreckten Körper Ausschnüffeln
Lustlos Konflikt Austragen
Lauwarmen Kaugummi Ausspucken
Lebensrettende Kontakte Aufschreiben

 

 

Alltag # 98 (Marie soll sich umsetzen…)

Alltag # 98

Marie steht am Fenster, sieht vom dritten Stock auf den verschneiten Gehweg hinunter und beobachtet, wie ein Mann Kieselsteine ausstreut. Sie genießt den Anblick seiner schwungvollen Armbewegungen. Der letzte Sonntag fällt ihr ein, der Nachmittag bei Tanja. Dort hat sie auch oft aus dem Fenster geschaut, über die Terasse in den Gemeinschaftsgarten, um sich an dem vielen Weiß zu erfreuen. Sie mag diese sanfte Macht, die einfach alles ohne Unterschied zudecken darf. Tanja hatte ein paar Freunde zu sich ins Atelier eingeladen. Es gab Glühwein, Kaffee, Tee und Kuchen. Als Marie gegen drei Uhr ankam, war alles in bester Ordnung, sie fühlte sich wohl in ihrer Haut. Von der U-Bahnstation bis zu Tanjas Hausnummer summte sie eine erfundene Melodie. Tanjas Freunde saßen bereits um einen großen Holztisch und es schien so, als hätten sie mit dem Kuchenessen noch auf Marie gewartet. Neben Jacob war noch ein Platz frei. Marie hing ihren Dufflecoat über die Stuhllehne und sah sich nach einer Tasse um. Sie griff am Ende des Tisches nach einer blauen Emaille-Tasse, ließ sich von Tanja Glühwein eingießen und setzte sich. Gleich danach kündigte Tanja an, die Kuchen anzuschneiden, aber es lag kein langes Messer auf dem Tisch. Marie wollte Tanja entlasten und sagte: »Bleib sitzen, ich gehe eines holen.« Als sie sich von ihrem Stuhl erhob, rief Jacob quer über den Tisch: »Hey Peter, magst du dich zu mir setzen?« Peter nickte. Dass Jacob dieser Wechsel freute, konnte jeder an seinem Gesicht ablesen. Marie blieb kurz stehen, zuckte mit den Schultern und dachte, umso besser, jetzt kann ich neben Tanja sitzen. Die Kuchen schmeckten köstlich und der Nachmittag ging fröhlich und entspannt weiter. Die Tassen und Gläser klirrten und es dudelte das Lied von Nina Simone: Feeling Good, das Jacob laut mitsang. Inzwischen hatte sich im Atelier der angenehme Duft von geschälten Mandarinen ausgebreitet und Marie genoß immer noch den Blick nach draußen. Ganz besonders die weißen Polster, die sich in den Bäumen und an den Astgabelungen anhäuften. Aber als sie dann am Abend wieder zu Hause war und den Abend Revue passieren ließ, war da nur noch Jacobs Satz, an den sie sich am meisten erinnerte. Alles andere entglitt ihr langsam, konnte sie bald schon nicht mehr abrufen. Und heute, drei Tage später hallen seine Worte immer noch in ihrem Kopf nach und mit ihnen ein tief sitzendes unangenehmes Gefühl. Marie hält den Satz fest. Sie braucht ihn noch. Sie will ihn Jacob vorhalten, noch lange. Sie will ihn nicht freisprechen. Auch wenn sie gerne anders wäre und wünschte, solche Sätze würden sie nicht so erschüttern.

 

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Alltag # 99 ( Gefühle für verstorbene Freundin)

Alltag # 99

Ich habe immer noch die gleichen Gefühle für meine verstorbene Freundin, obwohl sie schon lange nicht mehr hier ist. Nichts von dem, was mich an sie bindet, hat sich gelöst, gelöscht, getilgt oder verändert. Keines meiner Gefühle hat sich in Luft aufgelöst. Kein einziges Gefühl hat sich so verabschiedet, dass es nicht wieder zu kommen braucht. Die Gefühle wollen immer noch gefühlt werden. Auch heute wieder.

 

Alltag # 100 ( Sebastian will Kopf in Schoß legen..)

Alltag # 100

Sebastian stand seit fünfzehn Minuten am Bahnsteig. Heute musste er mit der Regionalbahn nach Hause fahren. Er beschloss jetzt schon, sich in ein Viererabteil zu setzen. Dort steht immer die ganze Breite der Fensterscheibe zur Verfügung, nicht so, wie bei den Zweiersitzreihen. Auch wollte er sich nach einem leeren Abteil umsehen. Laut App hatte er gute Chancen eines zu ergattern. Der Zug war nicht ausgelastet. In einem leeren Abteil brauchte er keine Gespräche mit anhören, musste er kein lautes Kauen oder Schmatzen hören, keine Körpergerüche ertragen und auch keine künstlich hinzugefügten Düfte. Leere bedeutete für ihn Erleichterung. Immer öfter versuchte er Glück als Ausbleiben von Zumutungen zu verstehen. Der Zug kam geräuschvoll an. Als Sebastian zur nächstgelegenen Tür ging, war er der einzige, der dort einstieg. Nach einer Minute erreichte er schon die ersten sich gegenüberliegenden Viererabteile. In dem einen saß eine Frau, im anderen standen zwei große Koffer zwischen den Sitzen, die nicht in der oberen Ablagefläche Platz gehabt hatten. Sebastian schickte sich an weiterzugehen, zögerte aber und hörte sich sagen: »Sind die Plätze neben Ihnen noch frei?« Die Frau, die um vieles älter war als er, lächelte ihn an und nickte. Sie trug dunkle kurze struppige Haare, was sie politisch engagiert wirken ließ. Sie saß am Fenster und hatte ihre Beine bis zum anderen Sitz ausgestreckt. Deshalb wählte Sebastian den Platz am Gang. Sie sollte nicht wegen ihm ihre Beinfreiheit einbüßen müssen. Er verstaute sein Gepäck in der oberen Ablage, setzte sich und kramte in seinem Stoffbeutel nach der Papiertüte von der Bäckereikette. In ihr war eine Serviette und eine Butterbrezel. Sebastian hätte der Frau auch gerne eine angeboten. Aus purem Eigennutz. Seit Tagen fühlte er sich verloren, konnte nicht mehr richtig unterscheiden, was ihm noch etwas bedeutete und was nichts mehr. Er wusste nicht mehr, wo ein Ja hingehörte und wo ein Nein. Wo er Grenzen zu setzen hatte und wo es darum ging sie aufzuweichen. Er beobachtete die Frau aus den Augenwinkeln. Sie strahlte eine tiefe Zufriedenheit aus und ihre Hüften waren breit und gut gepolstert. Er verspürte den Wunsch, seinen Kopf in ihren Schoß zu legen. Er stellte sich vor, wie sie ihm dann etwas aus ihrem Leben erzählte und ihm dabei ab und zu über die Haare streicht. Dann müsste er nichts mehr wissen. Nichts mehr unter Beweis stellen. Bräuchte nichts mehr vorweisen, keinen Humor, keine Intelligenz, keinen durchtrainierten Körper. Er müsste nur da sein. Die Frau drehte ihren Kopf zum Fenster und betrachtete den vorbei rauschenden Wald. Heimlich beobachtete er sie weiter. Es war noch zu hell, als dass ihn eine Spiegelung in der Fensterscheibe hätte verraten können. Die Gesichtszüge der Frau waren weich, ihre Konzentration auf den Wald gerichtet. Sebastian wünschte sich jemanden herbei, der wusste, wie man eine Nabelschnur zwischen ihm und der Frau installieren konnte. Dann würde sich sein Dasein sicherer anfühlen. Er bedauerte, dass er heute weder Bonbons noch einen Apfel in seinen Stoffbeutel gelegt hatte. Er konnte der Frau nichts anbieten. Ihr Telefon klingelte. Sie nahm das Gespräch an. Die Person mit der sie sprach war ihr vertraut, das konnte er hören. Es musste jemand sein, der ihr nahe stand. Sebastian wollte ihr auch nahe stehen. Er wollte so viel von ihr. Von ihr hören, dass alles doch noch gut werden würde. In den Arm genommen werden und wie ein Wasserfall auf sie einreden, so als hätte er noch nie jemanden irgendetwas von sich erzählt. Er wollte auch, dass sie zuhörte, als hätte vor ihr noch nie jemand das tragen können, was er zu sagen hatte. Auch wollte er auf einer Straße auf sie losstürmen können und sehen, wie sie ihre Arme öffnete, um ihn willkommen zu heißen. Er war sich sicher, dass diese Frau Kraft spenden konnte ohne dabei selbst welche zu verlieren. Er wusste nicht, ob er seinem Kopf in ihrem Schoß legen dürfte. Aber er wusste, dass dann Ruhe in seinem Kopf einkehren würde. Sein Kopf würde aufhören ihm vom vielen Grübeln wehzutun. Vom Hin- und Herwälzen der Gedanken, die kein Ende nahmen. Die Frau beendete ihr Telefongespräch und schob das Telefon zurück in die Hosentasche. Sebastian räusperte sich und sagte: »Ich würde gerne meine Brezel mit Ihnen teilen, bitte nehmen Sie die Hälfte an!«

 

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Und # 51 (Tränen bieten mir an …)

Und # 51

Tränen bieten mir an, mit Überflutung alles zu reinigen. Was für eine optimistische Haltung.