Alltag # 100 ( Sebastian will Kopf in Schoß legen..)

Alltag # 100

Sebastian stand seit fünfzehn Minuten am Bahnsteig. Heute musste er mit der Regionalbahn nach Hause fahren. Er beschloss jetzt schon, sich in ein Viererabteil zu setzen. Dort steht immer die ganze Breite der Fensterscheibe zur Verfügung, nicht so, wie bei den Zweiersitzreihen. Auch wollte er sich nach einem leeren Abteil umsehen. Laut App hatte er gute Chancen eines zu ergattern. Der Zug war nicht ausgelastet. In einem leeren Abteil brauchte er keine Gespräche mit anhören, musste er kein lautes Kauen oder Schmatzen hören, keine Körpergerüche ertragen und auch keine künstlich hinzugefügten Düfte. Leere bedeutete für ihn Erleichterung. Immer öfter versuchte er Glück als Ausbleiben von Zumutungen zu verstehen. Der Zug kam geräuschvoll an. Als Sebastian zur nächstgelegenen Tür ging, war er der einzige, der dort einstieg. Nach einer Minute erreichte er schon die ersten sich gegenüberliegenden Viererabteile. In dem einen saß eine Frau, im anderen standen zwei große Koffer zwischen den Sitzen, die nicht in der oberen Ablagefläche Platz gehabt hatten. Sebastian schickte sich an weiterzugehen, zögerte aber und hörte sich sagen: »Sind die Plätze neben Ihnen noch frei?« Die Frau, die um vieles älter war als er, lächelte ihn an und nickte. Sie trug dunkle kurze struppige Haare, was sie politisch engagiert wirken ließ. Sie saß am Fenster und hatte ihre Beine bis zum anderen Sitz ausgestreckt. Deshalb wählte Sebastian den Platz am Gang. Sie sollte nicht wegen ihm ihre Beinfreiheit einbüßen müssen. Er verstaute sein Gepäck in der oberen Ablage, setzte sich und kramte in seinem Stoffbeutel nach der Papiertüte von der Bäckereikette. In ihr war eine Serviette und eine Butterbrezel. Sebastian hätte der Frau auch gerne eine angeboten. Aus purem Eigennutz. Seit Tagen fühlte er sich verloren, konnte nicht mehr richtig unterscheiden, was ihm noch etwas bedeutete und was nichts mehr. Er wusste nicht mehr, wo ein Ja hingehörte und wo ein Nein. Wo er Grenzen zu setzen hatte und wo es darum ging sie aufzuweichen. Er beobachtete die Frau aus den Augenwinkeln. Sie strahlte eine tiefe Zufriedenheit aus und ihre Hüften waren breit und gut gepolstert. Er verspürte den Wunsch, seinen Kopf in ihren Schoß zu legen. Er stellte sich vor, wie sie ihm dann etwas aus ihrem Leben erzählte und ihm dabei ab und zu über die Haare streicht. Dann müsste er nichts mehr wissen. Nichts mehr unter Beweis stellen. Bräuchte nichts mehr vorweisen, keinen Humor, keine Intelligenz, keinen durchtrainierten Körper. Er müsste nur da sein. Die Frau drehte ihren Kopf zum Fenster und betrachtete den vorbei rauschenden Wald. Heimlich beobachtete er sie weiter. Es war noch zu hell, als dass ihn eine Spiegelung in der Fensterscheibe hätte verraten können. Die Gesichtszüge der Frau waren weich, ihre Konzentration auf den Wald gerichtet. Sebastian wünschte sich jemanden herbei, der wusste, wie man eine Nabelschnur zwischen ihm und der Frau installieren konnte. Dann würde sich sein Dasein sicherer anfühlen. Er bedauerte, dass er heute weder Bonbons noch einen Apfel in seinen Stoffbeutel gelegt hatte. Er konnte der Frau nichts anbieten. Ihr Telefon klingelte. Sie nahm das Gespräch an. Die Person mit der sie sprach war ihr vertraut, das konnte er hören. Es musste jemand sein, der ihr nahe stand. Sebastian wollte ihr auch nahe stehen. Er wollte so viel von ihr. Von ihr hören, dass alles doch noch gut werden würde. In den Arm genommen werden und wie ein Wasserfall auf sie einreden, so als hätte er noch nie jemanden irgendetwas von sich erzählt. Er wollte auch, dass sie zuhörte, als hätte vor ihr noch nie jemand das tragen können, was er zu sagen hatte. Auch wollte er auf einer Straße auf sie losstürmen können und sehen, wie sie ihre Arme öffnete, um ihn willkommen zu heißen. Er war sich sicher, dass diese Frau Kraft spenden konnte ohne dabei selbst welche zu verlieren. Er wusste nicht, ob er seinem Kopf in ihrem Schoß legen dürfte. Aber er wusste, dass dann Ruhe in seinem Kopf einkehren würde. Sein Kopf würde aufhören ihm vom vielen Grübeln wehzutun. Vom Hin- und Herwälzen der Gedanken, die kein Ende nahmen. Die Frau beendete ihr Telefongespräch und schob das Telefon zurück in die Hosentasche. Sebastian räusperte sich und sagte: »Ich würde gerne meine Brezel mit Ihnen teilen, bitte nehmen Sie die Hälfte an!«

 

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