Kultur # 68 (WWW =)

 

Kultur # 68

WWW = 
Wahnhafte Waffenbesitzerin Wegmuss
Wetterfühliger Walter Wohnungslos
Wildfremde Wurst Wegstoßen
Wachsbleicher Wagnerianer Weint
Wochenlang Weinflaschen Wegbringen
Warum Wunder Weggehen
Wuchtige Wunde Wässert
Wenn Werbegeschenke Wehtun
Windbeutel Wertschätzend Weiterreichen
Will Wieder Wackeldackel
Weiteres Waldgebiet Wegrutscht
Westmitteldeutscher Wahnsinn Wiederhergestellt
Winzige Wahrheiten Wehtun
Wilde Wesen Woppeln
Wadenstrümpfe Wenig Waschen
Wie Werdegang Würgen
Weissagende Waldfeen Wachrütteln
Wunderschöne Welt Wollen

 

 

Alltag # 104 ( Marie war im Supermarkt…)

Alltag # 104

Marie war im nahegelegenen Supermarkt. Sie hat den Besuch lange hinausgezögert. Sie geht nicht gerne einkaufen. Steht sie in einem Supermarkt, nimmt sie sich jedesmal vor, ihn so schnell wie möglich wieder zu verlassen. Meistens gelingt ihr das aber nicht und sie verliert sich zwischen den Regalen. Denn ständig muss eine Auswahl gegroffen werden. Immer muss etwas irgendetwas anderem vorgezogen werden. Verschiedene Kategorien kämpfen miteinander. Die Menge mit dem Preis. Der Preis mit dem Label. Und umgekehrt. Marie ist jedesmal verblüfft, wie viel Zeit zwischen den Supermarktregalen wohnt. Und wie bereitwillig sie sich in sie hineinfallen lässt. Oft muss sie ihre Gedanken dann gewaltsam weiterziehen, wie über Schleifpapier, damit ihre Hand überhaupt einmal etwas in den Einkaufskorb legt. Aber heute hat sie den Einkauf ohne große Zeitverzögerung hinter sich gebracht. Sie spürt noch immer die Erleichterung darüber. Ein gutes Gefühl. Sie stellt die Einkaufstüten in der Küche ab und geht ins Bad. Dreht den Wasserhahn auf, greift nach der Seife und schiebt sie zwischen den Handflächen hin und her. Sie legt die Seife zurück und verteilt das Wasserseifengemisch zwischen ihren Handflächen, den Fingern und den Fingerzwischenräumen. Marie genießt das glitschige Gleiten von Haut an Haut und wiederholt es noch ein paar Mal, obwohl die Hände schon sauber sind. Denn in letzter Zeit kommt so ein Kontakt nur noch mit Seifenwasser zustande, was sie manchmal – aber nicht immer – bedauert. Sie hält die Gliedmaßen unter den Wasserstrahl, eine dunkelgraue Brühe tropft auf die weiße Keramikoberfläche des Waschbeckens. Sie trocknet sich die Hände ab und geht zurück in die Küche, zu den Tüten. Heute hat sie Eier, Avocados, Butter, Schokolade, Tee, Orangen und Karotten gekauft. Alles, was auf ihrer Einkaufsliste stand, hat sie nach Hause geschleppt. Alles ist gut gegangen. Fast. Nur das mit dem Brot ist nicht so abgelaufen, wie sie das wollte. Marie mag runde Brote. Brote, die einen an übergroße Busen erinnern. Die mit einem knusprigen Rand und einem hellen fluffigen Inneren. Die kauft sie gerne und ein solches wollte sie auch heute kaufen, als sie im Backshop stand. Aber als der Verkäufer sie dann gefragt hatte, was es denn sein dürfe, sagte sie: Das Angebot der Woche. Dabei mag sie keine Kastenbrote. Und das Angebot der Woche ist ein Kastenbrot. Und solche Brote lösen bei ihr keine Glücksgefühl aus. Sie mag die Form nicht. Mag nicht, dass diese Brote seitlich so eingeengt, in eine Form gezwängt werden. Und den Geschmack mag sie dann schon aus Prinzip nicht. Dass ihr der Satz überhaupt so leicht über die Lippen kam, hat sie selbst überrascht. Als sie in der Schlange stand und darauf wartete, bis sie an die Reihe kam, sah sie sich das auf dem Tresen aufgestellte Schild an. Lange. Es hat ihr gefallen, dass ein Brot mit so ausdrucksstarken und wohlwollenden Worten angepriesen wurde. Auch, dass für alle sichtbar war, dass da etwas angepriesen wurde. Und dann war da noch dieses kleine rote »x«. Das Angebot der Woche war günstiger, als die anderen Brote. Und auf einmal dachte sie sich, auch sie müsse sparen und die Gelegenheit nutzen. Manchmal überkam sie die Angst vor einer Altersarmut. Und kleine rote x-se erinnerten sie daran. Und jetzt wird sie vier Tage lang ein rechteckiges Brot essen müssen, weil sie sich vierzig Cent hat sparen wollen. Ein sinnloses Sparen. Der Ärger über den Fehlkauf wird vorbeigehen, das weiß sie. In ein paar Tagen wird sie sich nicht mehr daran erinnern. Auch von dem Brot wird dann nichts mehr übrig sein. Ihr Magen wird alles transformiert haben. Aber etwas anderes wird noch da sein. Das auf dem Tresen aufgestellte Schild hatte bei ihr noch etwas ausgelöst. Eine Wunschvorstellung ist aufgetaucht und hat sie beflügelt. Sie möchte das Schild austauschen und ein anderes hinstellen. Sie will das Angebot der Woche sein. Auf dem Tresen im Backshop sollte ein Schild von ihr stehen. Sie sollte angepriesen werden. Sie will diejenige sein, über die jemand dann sagen kann: Mit Marie habe ich mir soviel sparen können. Seit sie da ist, muss ich nicht mehr alleine frühstücken, habe ich nachts einen warmen weichen Körper neben mir liegen, aufmunternde Worte, wenn ich nicht weiter weiß und leuchtende Augen, in die ich blicken kann. Ich bin so froh, dass ich sie mitgenommen habe. Das ganze Zeug mit der Einsamkeit kann ich mir jetzt sparen.

 

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Alltag # 106 ( Sebastian wird krank…)

Alltag # 106

Sebastian liest Zeitung. Nach ein paar Minuten stellt er fest, dass er nicht mehr weiß, was er gerade gelesen hat. Die Worte haben keine Haftkraft entwickelt. Seine Gedanken sind woanders. Bei Johannes. Monatelang schleppt er nun schon etwas mit sich herum. Er möchte mit Johannes nicht mehr auf das Musikfestival fahren. Heute werde ich ihm das sagen, denkt er sich. Sebastian liest den letzten Absatz des Artikels noch einmal durch, blättert um und versucht es mit einem anderen Artikel. Nach dem Zeitunglesen werde ich ihn anrufen und ihm absagen, denkt er sich. Heute werde ich das einfach hinter mich bringen. Bestimmt schaffe ich das. Sebastian liest weiter, aber jetzt meldet sich sein Körper. Etwas stimmt mit ihm nicht. Sebastian kann nicht sagen was. Vielleicht, denkt er sich, brauche ich nur ein Glas Wasser. Bestimmt bin ich bloß dehydriert. Er schiebt die Zeitung weg und steht auf. Schlagartig bildet sich Schweiß auf der Stirn und seine Ohren fühlen sich wie in Flammen stehend an. Wie früher, wenn sie wegen den Mädchen, die ihm gefallen hatten, feuerrot angelaufen sind. Sebastian fasst sich ans linke Ohr. Der mit Haut überzogene Knorpel glüht und in beiden Gehörgängen rauscht es. So als würde er sich unter Wasser neben einem Schiffsmotor aufhalten. All das kennt er so nicht. Es stresst ihn. Nun ist auch ein Schmerz zu spüren. Er hat keine eindeutigen Grenzen, ist an den Seiten ausgefranst. Das Epizentrum scheint aber im Bauchraum zu sitzen. Dort trommelt es dumpf. Sebastian will ins Bad. Sich im Spiegel ansehen. Im Flur hält er sich mit einer Hand an der Wand fest. Die Füße heben sich nicht mehr so leicht. Sind entkräftet. Er passt sich ihnen an. Geht langsam. Schleicht. Kommt vorwärts. Zwei Meter kommen ihm ewig lang vor. Die Haut in seinem Gesicht fühlt sich kalt an, auch der Schweiß. Er wischt sich den nassen Film mit dem Handrücken aus der Stirn. Erreicht das Bad, drückt die Tür auf. Der Spiegel muss warten. Er klappt den Toilettendeckel hoch und erbricht sich. Er stützt seine Hände auf seinen Knien ab, bekommt mehr Stabilität, erbricht sich erneut und dann noch einmal und dann noch einmal. Sein Hals brennt. Magensäure haftet am Gewebe der Speiseröhre und versucht gerade die Speiseröhre zu verdauen. Sebastian wäscht sich die Hände, lässt Wasser in den Handteller laufen und schlürft in kleinen Schlucken Wasser in sich hinein. Er will den ekelhaften Geschmack im Mund und das Brennen im Hals loswerden. Er sieht in den Spiegel. Was ihn am meisten erschreckt: Seine Lippen sind kreideweiß und seine Haare klatschnass. Ihm fällt ein, dass es in seiner Wohnung kein weiteres Wesen gibt. Keine Geliebte, kein Kind und keinen Hund. Nichts, was jetzt aus der Tür laufen und Hilfe holen könnte. Wäre das jetzt nur ein Film, könnte er mit der Fernbedienung ein paar Minuten vorspulen. Er stützt sich mit den Händen am Waschbecken ab. Er will Zeit gewinnen. Kaum haben die Hände die Keramik berührt, braut sich im Magen schon wieder Druck auf. Sebastian dreht sich zur Seite und schafft es gerade noch so, seinen Mund erst über der Toilettenschüssel zu öffnen. Und schon würgt sein Körper einen weiteren Schwall hervor. Flüssigkeit vermischt mit Unverdautem. Auch das Leitungswasser von gerade eben ist mit dabei. Sebastian kehrt zum Waschbecken zurück und versucht sich an etwas angenehmes zu erinnern. Er denkt an die Spatzen, die er heute Vormittag gehört aber nicht gesehen hat. Ihr Tönen hatte ihn getröstet. Das tun Spatzenlaute bei ihm immer. Auch wenn es gar nichts zu trösten gibt, trösten sie ihn. Ein dumpfer Schmerz schüttet ihn zu. Löscht seinen Gedankenfluss aus. Neuer Schweiß bildet sich. Tropfen laufen vom Haaransatz über seine Stirn und verfangen sich in seinen Augenbrauen. Er wischt sie mit dem Ärmel seines Hemdes ab. Etwas funktioniert also doch noch, denkt er sich. Die Ausschüttung von Schweiß. Der Körper sucht noch nach Lösungen und lässt dabei ganz pragmatisch sein Programm ablaufen. Bestimmt würde das, was ihm jetzt gerade widerfährt, genau so in einem Schulbuch stehen. Sebastian fühlt Schwindel. Eventuell, denkt er sich, werde ich gleich umfallen. Wahrscheinlich ist das auch eine Lösung. Johannes muss ich heute nicht mehr anrufen. Mein Körper hat mich zum Glück außer Gefecht gesetzt. Der Körper ist schlau, sagt er sich noch, und dann sagt er sich erst einmal nichts mehr. Er sinkt zu Boden und richtet sich dort ein neues Zuhause ein. Vorübergehend.

 

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