Lebensentwürfe # 24
Darauf warten, dass etwas zusammenbricht, um die befreiende Energie zu spüren, dass etwas entschieden ist. Zwangsläufig.
Darauf warten, dass etwas zusammenbricht, um die befreiende Energie zu spüren, dass etwas entschieden ist. Zwangsläufig.
Klaus: Ich identifiziere mich mit Gegenständen. Gegenstände sind Dinge, die sich sexuell gesehen immer im Exil befinden.
Das, was ich in meinem Leben verbessern könnte, liegt bereits in meinem Kopf. Hat sich dort bereits angesammelt. Aber diese Dinge rühren sich nicht. Und ich habe Angst, dass das so bleiben könnte.
Und mit jedem Blick aus dem Fenster trage ich mich fort.
Marie passt auf, dass ihr beim Gehen die zwei großen Löffel nicht aus den vollen Schüsseln kippen. Sie ist mit ihrem Ergebnis zufrieden. Ein Kilo Erdbeeren gewaschen, die Strünke entfernt, geviertelt, einen ganzen Becher Sahne geschlagen, Zucker hinzugefügt und verteilt. Wenn Sandra sagt: »Das schmeckt mir!«, kann Marie an der Art und Weise, wie Sandra das »m« schwingen lässt erkennen, welchen Genuss das Essen noch bei ihr auslöst. Tragen sich die Schallwellen, wie die Wellen eines ins Wasser geworfenen Steins, weit in den Raum hinein, bis über Maries Ohren hinaus, bedeutet das einen hohen Genussfaktor. Ist das »m« aber auch noch bis zum Nachbargrundstück zu hören, ergibt das ganze hundert von hundert Punkten. Marie sieht den Birnbaum an, der auf dem Nachbargrundstück in voller Blüte steht. Er trägt so viele Blüten, dass die grünen Blätter darunter nicht mehr zu sehen sind. Es sieht fast so aus, als würde er ein Kleid aus Zuckerwatte tragen. „Ganz in Weiß“, denkt Marie, und erinnert sich wieder an das Lied von Roy Black. „Es gibt nichts mehr was uns beide trennen kann“. Zum Birnbaum passt das Lied nicht, denkt Marie, und zu Sandra noch viel weniger. Marie geht weiter und erreicht den großen überdachten Stall mit den frei laufenden Hühnern. Noch ein paar Schritte und ich bin wieder bei ihr, denkt sie. Aber dass auch dieser Wunsch nun einer so offensichtlichen Endlichkeit unterworfen ist, bereitet ihr Schluckbeschwerden. Sie sucht nach einem anderen Gedanken. Ihr fällt nur ein: Ich mag sie so sehr. Aber das erleichtert ihr nichts.
Sie sieht beim Weitergehen nach unten und nimmt wahr, dass das Gras bei jedem ihrer Schritte nieder getreten wird. Es hat keine andere Möglichkeit, als das zuzulassen. Trotzdem wird es davon nicht zerstört, denkt Marie. Aber Sandra wird gerade zerstört und wir sprechen schon den ganzen Vormittag darüber. Wir wissen nicht woran genau das liegt. Doch die Neugierde, das Rätsel zu lösen, lässt nicht nach. Weder bei ihr noch bei mir. Als könnte einem ein tieferes Verständnis der Zusammenhänge etwas leichter machen. Einem alles leichter machen. Auch das Sterben.
Marie lächelt Sandra an und überreicht ihr die schönere der beiden Keramikschalen, die weiße. Im Inneren trägt sie blaue Linien, die wegen der Erdbeeren gerade nicht zu sehen sind. Im Zusammenlaufen ergeben sie Blütenblätter. Als Lüftelmalerei würde Marie diese Technik gern bezeichnen, auch wenn sie weiß, dass das nicht die richtige Bezeichnung ist. Aber für Sandra. Die zartblauen Blüten wirken leicht, schwebend, fast durchsichtig, so wie sie. Ein Polster hat sie im Rücken und ein weiteres unter dem Steißbein. Sonst wäre das Liegen nicht mehr erträglich. Die Knochen zeichnen sich schon ab. Ihre Haare frisiert sie nicht mehr. Sich das sparen zu können, erleichtert sie. Als wäre das Frisieren immer schon eine Last gewesen. Eine auf die man jetzt verzichten kann. Gestern hob sie ein Haarbüschel hoch, hielt es Marie entgegen, und sagte stolz: »Das lässt sich jetzt nicht mehr auflösen!« Marie hatte das streichholzschachtelgroße verfilzte Knäuel betrachtet und war erschrocken. Nicht, weil sie darin eine Vernachlässigung gesehen hätte, sondern weil sie nicht wusste, ob Sandra es absichtlich so formuliert hatte. Da war nun diese Sache. Erst vor ein paar Wochen hat sie davon erfahren. Und der Schreck darüber lässt nicht nach. Weder bei Sandra noch bei mir, denkt Marie.
Sandra hält die Schüssel mit beiden Händen: »Ich liebe Erdbeeren mit Sahne«. Sie stellt sie in ihren Schoß und strahlt hinein. Marie schleift ihren Liegestuhl über den Rasen, näher zu Sandra hin. Der Abstand von Liegestuhl zu Liegestuhl soll ihr das Sprechen und Hören nicht unnötig erschweren. Marie setzt sich, greift nach ihrer Schale, die sie auf dem Rasen zwischengeparkt hatte, und schaut zu Sandra hinüber. Sandra sagt: »Hau rein!« Sie trägt die orange Jacke, die Marie so an ihr mag. Sie ist aus Daunen. Man sieht nicht, wie ihr Körper darunter zergeht. Wegschmilzt. Das Fett immer zuerst. Danach die Muskeln. Auch das ist mir ein Rätsel, denkt Marie, wie gut Kleidung als Tarnung eingesetzt werden kann. Für alles Mögliche. Mit der Jacke sieht Sandra normal aus. So wie immer.
Sandras Liegestuhl steht unter dem Apfelbaum. Auch er blüht. Seine Blüten strahlen. Sandras Gesicht auch. Obwohl das in ihrem Stadium absurd erscheint. Alles scheint absurd. Vor allem das Wissen, es könnte jetzt schon das letzte Mal sein, dass wir zusammen tiefrote Erdbeeren mit weißer Sahne essen.
»Den Kaffee hab ich schon aufgesetzt, der muss gleich durchgelaufen sein!« Marie greift nach der auf dem Tisch stehenden Mineralwasserflasche. »Warte«, sagt Heidrun, »dein Glas kommt gerade aus der Spülmaschine, es ist noch heiß, ich hol dir besser einen Plastikbecher.« »Das brauchst du nicht!« »Doch«, sagt Heidrun, »du sollst bei dem Wetter kein lauwarmes Mineralwasser trinken müssen!« »Das macht mir aber nichts aus!« Marie schraubt die Flasche auf und gießt sich ein. »Wie toll das bei dir hier ist!« »Ich bin diese Woche noch nicht dazu gekommen, den Rasen zu mähen. Diese struppigen Büschel schauen wirklich gräßlich aus. Das tut mir leid, dass du das jetzt so sehen musst.« »Du hast so schöne Obstbäume im Garten stehen!« Heidrun springt auf. »Ich hole dir schnell ein paar Eiswürfel für das Mineralwasser!« Marie sieht Heidrun dabei zu, wie sie im Haus verschwindet und dann auf den gedeckten Tisch. Ein weißes Tischtuch und Blumen aus dem Garten in einem bauchigen Tonkrug. Das Sonntagskaffeeservice. Ein niedliches Zuckerdöschen. Mit kleinen Schweinchen bedruckte Servietten. Und in der Mitte thront der Kuchen. Marie liebt Heidelbeeren. Heidrun stellt ein kleines Porzellanschüsselchen mit Eiswürfel auf den Tisch. »Bitte bedien dich!« Marie greift mit einer Zange nach den Eiswürfeln und wirft ein paar davon in ihr Glas. »Wie dumm von mir, ich hätte doch schon früher an die Eiswürfel denken können!« »Alles gut«, sagt Marie, und »wie toll, dass du einen Kuchen gebacken hast!« Heidrun springt auf. »Jetzt habe ich doch glatt vergessen den Kuchen abzudecken. Nun sitzen schon Fliegen darauf. Hoffentlich willst du jetzt überhaupt noch ein Stück davon essen!« Heidrun eilt durch die offene Terrassentür und kommt mit einer luftdurchlässigen Kuchenabdeckhaube zurück. Marie sagt: »Du kannst hier jeden Tag im Freien sitzen, was muss das für ein Genuss sein!« Heidrun springt auf. »Die Sahne ist noch im Kühlschrank, ich habe ganz vergessen, sie da raus zu holen!« Heidrun saust zurück in die Küche und Marie fragt sich, ob sie die nächste Einladung von Heidrun ablehnen soll. Vielleicht wird eine Absage Heidrun mehr entspannen.
Ich bin ein Wunschkind. Ich bin ohne jeden Zweifel. Ich bin bereit. Ich bin zugedröhnt. Ich bin dein Sonnenschein. Ich bin ausgezeichnet worden. Ich bin schon früh verblüht. Ich bin in einen Strudel geraten. Ich bin ganz deiner Meinung. Ich bin ein Hund. Ich bin nicht mehr mitgekommen. Ich bin nicht weitergegangen. Ich bin zu Tränen gerührt. Ich bin stecken geblieben. Ich bin von allen guten Geistern verlassen. Ich bin grausam gewesen. Ich bin die, die dich immer noch umarmt. Ich bin dagegen. Ich bin unverwüstbar. Ich bin auf Wolke sieben. Ich bin gefragt. Ich bin auf hoher See. Ich bin fest entschlossen. Ich bin mitgegangen. Ich bin neben der Spur. Ich bin nicht gewillt, das zu tun. Ich bin verdammt gut darin. Ich bin von einer Liebe platt gemacht worden. Ich bin mittellos. Ich bin überrumpelt worden. Ich bin in die Knie gegangen. Ich bin verlässlich. Ich bin zu früh dran. Ich bin vom Wetter überrascht worden. Ich bin noch unterwegs. Ich bin untergegangen. Ich bin vom Tod erfasst worden.
Marie konnte durch ihre geschlossenen Lider erkennen, dass es draußen bereits hell war. Also musste es schon nach sieben Uhr sein. Marie hielt ihre Augen weiterhin geschlossen und zählte. Eins. Zwei. Drei. Sie zählte die Schläge der Kirchenglocke mit. Vier. Fünf. Nach fünf hörte sie nicht mehr zu. Eigentlich war es ihr egal, wie spät es jetzt war. Auch eine Uhrzeit wird bei ihr nicht auslösen, die Augen zu öffnen. Wenn sie ihr Gehirn durchforstete, warum das so war, fand sie keinen nachvollziehbaren Grund. Weder war sie durch eine Prüfung gefallen, noch hatte sich jemand von ihr getrennt. Auch hatte sie keinen Fahrradunfall, noch stand der Gerichtsvollzieher vor der Tür.
Man sagt, dass das Gelb und das Rot der Blätter immer schon unter dem Grün wohnt und nicht erst dann gebildet wird wenn es Herbst wird. Marie überlegte, ob sie etwas in ihrem Medizinschränckchen hat, was sie einnehmen könnte. Sie wollte weiterschlafen. Da waren Schmerzmittel. Eine Packung Ibuprofen, ein paar Aspirin und eine halbe Schachtel ASS-ratiopharm. Sie hatte sie gekauft, weil sie vor einem Monat auf einmal Angst hatte, ein Blutgerinnsel zu bekommen. Um die Angst zu bändigen, hatte sie eine Woche lang jeden Tag eine von den ASS-Tabletten genommen. Es war also nichts da, was ihr beim Wiedereinschlafen helfen würde. Marie zwang sich, an ihre letzte Essenseinladung zu denken, wie glücklich sie an dem Abend war, wie gut ihr die Gespräche gefallen hatten. Das gemeinsame Lachen. Das Gefühl hielt sich aber nicht lange. Marie zwang sich, an ihren grobgestrickten rosaroten Wollpullover zu denken. Sie war so froh, dass sie sich ihn geleistet hatte. Er löste so ein Wohlbehagen in ihr aus. Zog sie ihn an, kam sie sich wie ein Murmeltier vor, dass sich sein Fell bei einem Friseur hat rosa färben lassen. Aber auch dieses Gefühl verflüchtigte sich wieder. Was blieb, war ein Reiz. Der Reiz, einfach nicht mehr mitzumachen. Auch nicht beim Aufstehen mitzumachen. Damit wird sie sich durchsetzen.