Blitzlicht # 39 (Empathie zeigen)

Blitzlicht # 39

»Man könnte schon fast behaupten Empathie sei mein zweiter Vorname. Ich kann Empathie so schnell ausschütten wie andere Adrenalin. Sie ist bei mir im Überfluss vorhanden und will nicht ausgehen. Das Kontingent scheint unendlich groß und zäh zu sein. Das stößt sogar mir manchmal unangenehm auf. Es kommt mehrmals am Tag vor, dass ich mich in andere hineindenke und mir vorstelle, wie es ihnen geht oder was sie gerade aushalten müssen. Ich denke dabei an Menschen, aber nicht nur. Es können auch Tiere sein, aber auch anderes. Auch Zeugs. Vor fünf Minuten hat mein Körper schon wieder Empathie bekundet. Auf der Straße ging ein Mann neben mir, der seinen Kaugummi auf das Pflaster spuckte. Ich blieb stehen und überlegte, wie der Kaugummi sich jetzt wohl fühlen muss. Gerade war er noch in einer warmen Mundhöhle, in der es angenehm feucht und warm war, so wie in einem Thermalbad. Gerade wurde er noch von einer Zunge liebkost, von Zähnen geknetet. Seine Akupressurpunkte wurden berührt, nichts an ihm brauchte sich auf Dauer zu verspannen. Ständig konnte er seine Form verändern und cooler Shapeshifter sein. Er musste nicht das bleiben, was er gerade noch war. Brauchte nicht auf einer Stelle ausharren. Er wurde berührt, gewärmt und bewegt. Und sei es nur von links nach rechts. Aber nun lag er so tief unten auf der Straße und wurde einfach sich selbst überlassen. Ich habe ihn dann noch eine Minute lang angeschaut, das war Ehrensache.«

 

 

Abgehört # 27 (Fremdgehen..)

Abgehört # 27

»Stell dir vor, dreißig bis vierzig Prozent aller Menschen, die in festen Händen sind, schlafen irgendwann mit anderen Partnern. Die Motive die sie haben, sind dabei ganz unterschiedlich. Das kann Rache, Langeweile, Midlife-Krise, ein narzisstisches Probleme, Bindungsangst, Triebdruck oder was weiß ich noch alles sein.«
»Und was ist es bei dir?«
»Sag ich nicht!«

Abgehört # 28 (Körper und Bildhauer..)

Abgehört # 28

»Dein Körper ist eben so, als hätte ein Bildhauer seinen Meißel viel zu früh aus der Hand gelegt. Es hätte halt noch viel mehr runter gemusst!«
»Wie bitte!«
»Naja, du bist schon auch ok, so wie du bist. Ich will mich nicht beklagen. Ich bin ja auch imstande, Körper anders zu bewerten als nach den Richtlinien, die die Gesellschaft so vorschreibt. Außerdem brauchst du ja nicht für jemanden schön sein!«

Alltag # 72 (Teeschütten..)

Alltag # 72

Marie zieht den Wasserkocher von der Basisstation und gießt kochend heißes Wasser in die Teetasse, in der bereits ein Beutel Kräutertee hängt. Marie liebt es, wenn sie dabei zusehen kann, wie Flüssigkeit ein Gefäß verlässt, um in einem anderen anzukommen. Würde noch mehr Tee in ihren Körper passen, würde sie noch viel öfter Tee trinken, so fasziniert ist sie vom Wechsel der Aufenthaltsorte, vom Umzug, den sie erzwingen kann. Sie wird nie müde, dabei zuzusehen. Teeschütterin wäre ein idealer Beruf für sie. Würde das in Berlin irgendwo ankommen, würde sie sich damit selbstständig machen. Gerne würde sie diesem Bedürfnis mehr Platz einräumen. In ihrem Alltag ist das mit dem Schütten jedesmal so schnell vorbei. So wie jetzt auch. Die Tasse ist schon voll, bis zum Rand. Mehr geht nicht. Marie stellt den Wasserkocher zurück auf die Basisstation und trägt die Tasse zum Tisch. Wasser ist so unglaublich anpassungsfähig, denkt sie. Bis in den letzen Winkel hat es sich in die Tasse geschmiegt, hat keine Stelle ausgelassen, hat sich nicht gesperrt oder herum gezickt, hat einfach den Hohlraum ausgefüllt und den Platz eingenommen, der von mir zur Verfügung gestellt wird. Aber Marie ist nicht nur von der Flexibilität und der Wendigkeit des Wassers angetan, sondern auch von dem Gefäß, das da vor ihr auf dem Tisch steht. Eine mit roten Punkten betupfte Teetasse. Sie ist dankbar, dass jemand irgendwann so einen Gegenstand erfunden hat. Das muss man erst einmal hinbekommen. Denn jedes Gefäß hat von Geburt an diese Offenheit. Gefäße nehmen alles auf, was ihnen angeboten oder zugemutet wird. Heißes, Kaltes, Süßes, Klebriges, Alkoholisches oder was es sonst noch so an Flüssigkeiten gibt. Gefäße halten geduldig Inhalte an Ort und Stelle fest, damit auch ja nichts davon verloren geht. Aber noch interessanter findet Marie die Tatsache, dass Gefäße nicht zusammen brechen, wenn ihnen der Inhalt dann wieder geraubt wird. Gefäße akzeptieren das leere Dasein genauso wie das gefüllte. Und auch ihr Trinkgefäß muss die Flüssigkeit wieder hergeben. Ihr geben. Wie schön das doch ist, dass die Teetasse so gut loslassen kann und nichts für sich behalten will. Und all das geschieht so ganz ohne Geschrei. Marie empfindet das so angenehm, dass ihr keine Teetasse droht. Keine von ihnen hat je gebrüllt: Die Flüssigkeit gehört zu mir! Ohne sie bin ich nichts! Oder: Ich will den Kräutertee nicht hergeben und schon gar nicht dir, du Stück Mensch! Die Teetasse sucht sich nicht aus, wem sie etwas gibt. Sie gibt einfach. So einem Prozess beiwohnen zu können, ergreift Marie jedesmal aufs Neue.

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Abgehört # 29 (Intimität schon aufgeben…)

Abgehört # 29

»Mich stimmt das traurig, dass du jegliche Art mit jemanden intim zu sein, bereits aufgegeben hast. Und auch, dass du glaubst, mit einem anderen Körper wäre alles leichter!«

 

Alltag # 75 (Marie Traum mit Zähnen)

Alltag # 75

Nach dem Aufwachen hat Marie meistens noch eine Ahnung von dem, was sie in der Nacht geträumt hat. Aber sobald sie die Augen aufschlägt verflüchtigen sich diese Erinnerungen wieder. Nur wenige Träume halten bis zum Frühstück durch und noch weniger schreiben sich in ihr Gedächtnis ein. Der Traum von gestern Nacht war aber so einer. Es war schon Nachmittag und Marie war es immer noch nicht gelungen, diesen Traum aus ihrem Kopf zu werfen. Er klebte an ihr wie Kaugummi in langen Haaren. Ihr Tagesablauf wurde davon beeinträchtigt. Alles ging ihr schwerer von der Hand. Am Anfang war im Traum noch alles friedlich. Marie lief einen Feldweg entlang. Links und rechts vom Weg waren Gräben, in denen Wasser lief und manchmal hörte sie darin auch etwas plätschern. Hinter den Gräben lagen bewachsene Felder. Es duftete nach Gras und Erde. Marie war alleine unterwegs, aber das störte sie nicht. Sie wusste, wohin sie wollte. Aber dann sah sie eine Frau aus der Gegenrichtung auf sie zukommen. Sie spürte, dass mit dieser Frau etwas nicht stimmte. Im Traum konnte sie mit ihren Augen zoomen wie mit einer Kameralinse. Sie fokussierte das Gesicht der Frau. Der Anblick machte ihr keine Freude. An manchen Stellen war die Haut rosig, so wie die Haut bei kleinen Kindern, leicht durchsichtig und makellos, aber an anderen Stellen gab es runde braune Flecken, die leicht feucht waren. Sie sahen aus wie faule Stellen an einem Apfel. Und dann wollte Marie schreien, denn aus dem Gesicht der Frau wuchsen Zähne. Sie ließen sich per Knopfdruck herausfahren. Marie graute, denn jemand hatte diesen Knopf gedrückt. Sie kamen aus diesen braunen Stellen. Neben den Nasenflügeln waren bereits vier zu sehen. Neben den Augen drei, unterhalb der Lippe zwei und auf der Stirn fünf. Alle Zähne waren beweglich, hatten ein Eigenleben und waren aktiv. Sie bogen sich zur Seite und drehten sich in sich selbst, so wie das Sägeblatt einer Kreissäge. Marie wollte immer noch schreien, aber stattdessen erstarrte sie. Die Frau hatte den Auftrag, sie zu töten. Und ihr sei das erlaubt, weil sie Marie geboren hatte. Nach der Tötung dürfe sie Marie auffressen und sich eine zeitlang von ihr ernähren, auch wenn Marie gar nicht ihrem Geschmack entspricht. Marie öffnet die Kühlschranktür, und fragt sich, warum sie es all die Zeit versäumt hat, sich selbst etwas Wehrhaftes wachsen zu lassen.

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