Alltag # 75 (Marie Traum mit Zähnen)

Alltag # 75

Nach dem Aufwachen hat Marie meistens noch eine Ahnung von dem, was sie in der Nacht geträumt hat. Aber sobald sie die Augen aufschlägt verflüchtigen sich diese Erinnerungen wieder. Nur wenige Träume halten bis zum Frühstück durch und noch weniger schreiben sich in ihr Gedächtnis ein. Der Traum von gestern Nacht war aber so einer. Es war schon Nachmittag und Marie war es immer noch nicht gelungen, diesen Traum aus ihrem Kopf zu werfen. Er klebte an ihr wie Kaugummi in langen Haaren. Ihr Tagesablauf wurde davon beeinträchtigt. Alles ging ihr schwerer von der Hand. Am Anfang war im Traum noch alles friedlich. Marie lief einen Feldweg entlang. Links und rechts vom Weg waren Gräben, in denen Wasser lief und manchmal hörte sie darin auch etwas plätschern. Hinter den Gräben lagen bewachsene Felder. Es duftete nach Gras und Erde. Marie war alleine unterwegs, aber das störte sie nicht. Sie wusste, wohin sie wollte. Aber dann sah sie eine Frau aus der Gegenrichtung auf sie zukommen. Sie spürte, dass mit dieser Frau etwas nicht stimmte. Im Traum konnte sie mit ihren Augen zoomen wie mit einer Kameralinse. Sie fokussierte das Gesicht der Frau. Der Anblick machte ihr keine Freude. An manchen Stellen war die Haut rosig, so wie die Haut bei kleinen Kindern, leicht durchsichtig und makellos, aber an anderen Stellen gab es runde braune Flecken, die leicht feucht waren. Sie sahen aus wie faule Stellen an einem Apfel. Und dann wollte Marie schreien, denn aus dem Gesicht der Frau wuchsen Zähne. Sie ließen sich per Knopfdruck herausfahren. Marie graute, denn jemand hatte diesen Knopf gedrückt. Sie kamen aus diesen braunen Stellen. Neben den Nasenflügeln waren bereits vier zu sehen. Neben den Augen drei, unterhalb der Lippe zwei und auf der Stirn fünf. Alle Zähne waren beweglich, hatten ein Eigenleben und waren aktiv. Sie bogen sich zur Seite und drehten sich in sich selbst, so wie das Sägeblatt einer Kreissäge. Marie wollte immer noch schreien, aber stattdessen erstarrte sie. Die Frau hatte den Auftrag, sie zu töten. Und ihr sei das erlaubt, weil sie Marie geboren hatte. Nach der Tötung dürfe sie Marie auffressen und sich eine zeitlang von ihr ernähren, auch wenn Marie gar nicht ihrem Geschmack entspricht. Marie öffnet die Kühlschranktür, und fragt sich, warum sie es all die Zeit versäumt hat, sich selbst etwas Wehrhaftes wachsen zu lassen.

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