Kultur # 22
Ich höre im Radio einer Nachrichtensprecherin zu und wünsche mir, dass sie sich im nächsten Satz verspricht, dass ihre Perfektion gestört wird. Ich mag Fehlerhaftes.
Ich höre im Radio einer Nachrichtensprecherin zu und wünsche mir, dass sie sich im nächsten Satz verspricht, dass ihre Perfektion gestört wird. Ich mag Fehlerhaftes.
AGB =
Adonis Gehorcht Blauäugig
Aalglatter Gurkenhobel Blutverschmiert
Ausgelassene Gefühle Betrauern
Atombombe Glänzt Blitzeblank
Aber Gabi Böse
Aussichtslose Glücksbringer Basteln
Angebissenen Gugelhupf Beseitigen
Anforderungen Gruseln Beständig
Angelika Gewinnt Besteckkasten
Anderswo Glückt Beischlaf
Ich greife nach der Gießkanne und mache einen Fleck auf die Tischdecke. Die trockene Tischdecke soll jeden Tag eine Nassstelle haben, um einer Austrocknung vorzubeugen.
»Bitte schneiden Sie mir die Haare so, dass sie nach nichts aussehen, zumindest nicht nach einer Frisur!«
Ein Vorschlag für Destruktive: Eine Reihe häßlicher Hochhäuser, die sich per Knopfdruck nach unten versenken ließen.
Manche machen bestimmt nur deshalb etwas aus ihrem Leben, um anderen damit die Laune zu verderben.
Joana liebt es Listen zu führen, die vom letzten Monat lautet:
– Wem ich was nicht verzeihe.
– Was ich glaube versäumt zu haben.
– Wen ich alles noch abbusseln möchte.
– Was aus mir nicht mehr werden wird.
– Welche Wahrheiten ich wem gegenüber nicht aussprechen werde.
– Wer alles nicht mehr in meine Wohnung darf.
– Was mir mein Herz wärmt.
Marie sitzt im Flugzeug und liest Zeitung. Sie hat den Platz am Gang. Ab und zu dreht sie ihren Kopf nach links und wirft einen Blick aus dem Fenster. Überprüft, ob die Aussicht es wert ist gesehen zu werden. Meistens ist das nicht der Fall. Die Landschaft, die unter ihr zu sehen wäre, wird von einer Wolkendecke verhüllt. Vor dem Fenster sitzt ein Mann. Der Platz zwischen ihnen ist leer. Deshalb kann Marie nun beide Armlehnen in Beschlag nehmen, das erleichtert sie. Denn das große Format der Tageszeitung kann viel bequemer in der Hand gehalten werden, wenn sie ihre Ellbogen auf beiden Seiten abstellen kann. Solche Kleinigkeiten behagen ihr. Versüßen ihr den Alltag. Das einzige was sie etwas beunruhigt ist der Mann am Fenster. Er ist etwas älter als sie, trägt einen aparten grauen Bart, hat warme Augen und einen wachen Blick. Seit dem Start des Flugzeuges hat er Marie schon mehrmals angelächelt. Marie ist einem längeren Blickkontakt jedesmal ausgewichen. Sie fragt sich aber, wieso er sie wiederholt anlächelt. Vielleicht, denkt sie sich, findet er mich einfach attraktiv. Jetzt hält sie ihre Zeitung doch etwas tiefer. Sie will nicht, dass der Mann denkt, sie sei verschlossen. Sie würde nicht nur Zeitung lesen, sondern sich damit auch noch von der Umgebung abschotten wollen. Marie will einen ansprechbaren Eindruck erwecken. Das ist ihr wichtig. Marie möchte ihren Kopf nicht schon wieder Richung Fenster drehen, stellt sich aber schon einmal vor, wie der Mann später einmal „Spatz“ zu ihr sagen wird. Aus einem Dokumentarfilm über Vögel weiß sie, dass Spatzen in ihrer fruchtbaren Phase zwanzig Mal Sex haben. Pro Stunde. Weiter stellt sie sich vor, wie sie sich später an die Situation im Flugzeug erinnern und gemeinsam darüber lachen werden. Nun gibt Marie sich doch einen Schubs, dreht ihren Kopf nach links und nimmt sich vor, dieses Mal den Augenkontakt mit dem Mann zu halten und vielleicht sogar zurück zu lächeln. Der Mann räuspert sich und sagt: »Bitte verzeihen Sie, dass ich Sie jetzt anspreche, aber auf der Rückseite ihrer Zeitung ist ein Interview mit Nina Hagen und meine Tochter ist ein großer Fan von Frau Hagen, würde es Ihnen etwas ausmachen, mir die Seite zu überlassen, sobald Sie das Interview gelesen haben?«
Ich will dich überleben. Und zwar so schnell wie möglich.