Blitzlicht # 37 (Mandarinen essen)

Blitzlicht # 37

»Als Kind gab es eine Zeit, in der ich keine Mandarinen aß. Ich mochte zwar ihren Geschmack, aber nicht die Haut und noch weniger die kleinen weißen Fäden, die auf ihr klebten. Spürte ich sie auf der Zunge, verursachte das einen leichten Ekel. Das lag an der Trockenheit und der eigenartigen Konsistenz dieser Fäden. Sie schmeckten nach nichts und kamen mir wie Styropor vor. Aber da ich die Farbe der Mandarinen mochte und auch, dass sie so klein waren – als Kind waren Mandarinen für mich immer die Babys der Orangen und nicht eine eigene Art – habe ich mir etwas einfallen lassen. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie ich auf diese Idee kam. Wie immer schälte ich zuerst die Frucht und warf die Schalen weg. Aber danach verteilte ich dann alle Spalten der Mandarine auf die heißen Rippen des Heizkörpers in der Küche. Zwischen jeder Rille lag eine. Dort blieben sie dann eine Zeit lang liegen. Ab und zu habe ich sie mit dem Finger angestupst, um zu überprüfen, wie weit sie sind. Denn ich konnte genau spüren, wann der Zeitpunkt gekommen ist, mit der Operation zu beginnen. Die Haut musste bis zum Platzen gespannt sein und sich so trocken anfühlen wie Papier. War das der Fall, brauchte ich mit dem Fingernagel nur noch die Haut aufzureissen. Dafür wählte ich die innere Kurve des halbmondförmigen Stücks. An der Stelle kam mir die Haut sowieso wie eine Naht vor. Ich riss die Spalte auf und löste die Haut vom Fruchtfleisch. Das ging so leicht, als wäre sie ein Kleidungsstück, das man der Mandarine jederzeit ausziehen kann. Das filetierte Furchtfleisch schmeckte köstlich. Aber was mir am meisten Spaß bereitete, war das Entkleiden. Die Mandarine nackt zu sehen. Aber das bereitet mir schon lange kein Vergnügen mehr. Genauso wenig wie mich selbst unverpackt zu sehen.«

 

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Wünsche # 40 (Vater macht Sohn Vorschlag …)

Wünsche # 40

Er schiebt das Telefon zurück in seine Hosentasche und spürt, wie sich seine Laune verschlechtert. Mit seinen fünfundsiebzig Jahren beißt er jetzt die Zähne zusammen wie ein trotziges Kind. Dass er mit dem Druck seinen Zähnen schadet, ist ihm bewusst. Trotzdem will er den Kiefer nicht locker lassen. Er will den Zähnen weiterhin den Druck zumuten. Er hat Sebastians Nachricht zur Kenntnis genommen. Er denkt sich, dass er doch genug Lebenserfahrung hat, auch mit jungen Leuten. Aber das hilft ihm jetzt herzlich wenig. Sein Ärger lässt sich nicht so einfach aus seinem Körper hebeln, wie man einen Nagel aus der Wand zieht. Außerdem spürt er ihn nicht nur an einer Stelle, sondern im ganzen Körper. Der Ärger füllt ihn aus, wie schmutzige Wäsche die Trommel einer Waschmaschine. Ich habe mir doch Mühe gegeben, sagt er sich, und schiebt die Ärmel seines dunkelgrauen Pullovers hoch. Erst den linken und dann den rechten, beide bis über die Ellenbogen. Ihm ist nach kühler Luft auf der Haut. Sogar an den Computer hat er sich gesetzt und im Internet nachgesehen, was kulturell gerade so geboten wird. Es dauerte bis er sich da zurecht gefunden hatte. Bestimmt saß er mehr als eine Stunde vor dem Bildschirm auf der Suche nach einem guten Vorschlag. Er wollte etwas finden, was seinen Sohn interessiert. Und weil er wußte, dass Sebastian sich für Literatur begeistern kann, schlug er die Ausstellung von Anna Louise Karsch in Halberstadt vor. Genau das Richtige für einen Vater-Sohn-Ausflug. Er war sich sicher, dass Sebastian sich über den Vorschlag freuen würde. Etwas über eine relativ unbekannte Dichterin zu erfahren, ist doch genau sein Ding. All das waren seine Gedanken. Es gab gar keine Zweifel. Deshalb hatte er für übermorgen auch ein Mietauto reserviert. Aber nun ist die Grenze da. Zack. Sebastian hat den Schlagbaum nach unten sausen lassen. Und dafür hat es nur eine Textnachricht gebraucht. »Ich komme nicht mit.« Vier Worte und schon war die Sache für ihn erledigt. Das zu tippen hat ihn vielleicht fünf Sekunden gekostete. Mehr Zeit musste er dafür nicht investieren. Fünf Sekunden und schon ist das Treffen ins Wasser gefallen.

 

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Wünsche # 42 (Marie und die Wanderschuhe)

Wünsche # 42

Marie fährt mit jeder Hand in einen Wanderschuh, beugt sich über den Abfalleimer und klopft die Schuhe an der Unterkante gegeneinander. Trockene Erdpartikel fallen aus den Gummiprofilen. Sie wiederholt den Vorgang. Nach vier bis fünf Stößen bröckelt nichts mehr heraus. Marie stellt die Schuhe ab, geht zum Korb mit dem Altpapier, zieht eine Zeitung heraus, klappt sie auseinander, stellt die Schuhe darauf ab und betrachtet das Leder. Ein paar Stellen weisen tiefe Striemen auf. Sie stammen vom Querfeldeinlaufen. Vom sich Durchschlagen. Das war Sebastians Vorschlag. Marie bleibt beim Wandern lieber auf dem Weg. Zu wissen, dass jeder Weg irgendwo hinführt, erleichtert sie. Auch kann sie die Zeit in der Natur mehr genießen, wenn sie nicht auf jeden Schritt acht geben muss. Sobald sie aufpassen muss, wo genau sie hintritt, belastet sie das. Trotzdem hatte sie Sebastians Vorschlag zugestimmt. Denn er bevorzugte das Gegenteil. Sebastian folgt nicht gerne einem Weg. Bei ihm kann plötzlich das Gefühl entstehen, dass ein Weg nur dazu da ist, ihm etwas vorzuschreiben. Hat sich das Gefühl erst einmal bei ihm eingeschlichen, kann es passieren, dass er die Lust am Wandern verliert. Und am Samstag war es dann genau so. Sebastian fühlte sich seiner Freiheit beraubt, begann zu seufzen und hörte gar nicht mehr damit auf. Also stimmte Marie zu, in den Wald einzubiegen und zu schauen, wohin sie das führt. Sebastians Freude war groß. Nun lag etwas Unerwartetes vor ihnen. Das beflügelte ihn und er bekam gute Laune. Marie betrachtet die aufgerissenen Stellen im Leder. Gleich wird sie die Schuhe einfetten und hoffen, dass das Fett das Leder wieder glätten wird. Dafür braucht sie nur die Dose mit der Schuhcreme und einen alten Lappen. Zur Vorbereitung stopft sie schon mal die langen Schnürsenkel ins Schuhinnere. Dass wir vom Weg abgewichen sind, denkt Marie, war nicht unbedingt das Problem. Aber nach einer Stunde hatten sie die Orientierung verloren und die Telefone hatten keinen Empfang. Als es dann auch noch dunkel wurde, hatte Marie das so gestresst, dass sie laut geworden war. Sebastian wurde immer stiller. Am Ende hatte er gar nicht mehr gesprochen. Marie öffnet eine Schachtel, kramt nach der Dose mit der farblosen Schuhcreme, greift nach einem Lappen, kehrt in die Küche zurück, kniet sich auf den Boden, nimmt mit dem alten Lappen farbloses Fett auf und verteilt es auf die Striemen der Wanderschuhe. Auf ihre Anrufe hat Sebastian seit zwei Tagen nicht mehr geantwortet.

 

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Abgehört # 26 (Staubsauger macht Geräsuche…)

Abgehört # 26

»Mein Staubsauger macht neuerdings so komische Geräusche, ich glaube, dass ist ihm einfach zu viel Staub, den er da bei mir aufsaugen muss.«