Wünsche # 42 (Marie und die Wanderschuhe)

Wünsche # 42

Marie fährt mit jeder Hand in einen Wanderschuh, beugt sich über den Abfalleimer und klopft die Schuhe an der Unterkante gegeneinander. Trockene Erdpartikel fallen aus den Gummiprofilen. Sie wiederholt den Vorgang. Nach vier bis fünf Stößen bröckelt nichts mehr heraus. Marie stellt die Schuhe ab, geht zum Korb mit dem Altpapier, zieht eine Zeitung heraus, klappt sie auseinander, stellt die Schuhe darauf ab und betrachtet das Leder. Ein paar Stellen weisen tiefe Striemen auf. Sie stammen vom Querfeldeinlaufen. Vom sich Durchschlagen. Das war Sebastians Vorschlag. Marie bleibt beim Wandern lieber auf dem Weg. Zu wissen, dass jeder Weg irgendwo hinführt, erleichtert sie. Auch kann sie die Zeit in der Natur mehr genießen, wenn sie nicht auf jeden Schritt acht geben muss. Sobald sie aufpassen muss, wo genau sie hintritt, belastet sie das. Trotzdem hatte sie Sebastians Vorschlag zugestimmt. Denn er bevorzugte das Gegenteil. Sebastian folgt nicht gerne einem Weg. Bei ihm kann plötzlich das Gefühl entstehen, dass ein Weg nur dazu da ist, ihm etwas vorzuschreiben. Hat sich das Gefühl erst einmal bei ihm eingeschlichen, kann es passieren, dass er die Lust am Wandern verliert. Und am Samstag war es dann genau so. Sebastian fühlte sich seiner Freiheit beraubt, begann zu seufzen und hörte gar nicht mehr damit auf. Also stimmte Marie zu, in den Wald einzubiegen und zu schauen, wohin sie das führt. Sebastians Freude war groß. Nun lag etwas Unerwartetes vor ihnen. Das beflügelte ihn und er bekam gute Laune. Marie betrachtet die aufgerissenen Stellen im Leder. Gleich wird sie die Schuhe einfetten und hoffen, dass das Fett das Leder wieder glätten wird. Dafür braucht sie nur die Dose mit der Schuhcreme und einen alten Lappen. Zur Vorbereitung stopft sie schon mal die langen Schnürsenkel ins Schuhinnere. Dass wir vom Weg abgewichen sind, denkt Marie, war nicht unbedingt das Problem. Aber nach einer Stunde hatten sie die Orientierung verloren und die Telefone hatten keinen Empfang. Als es dann auch noch dunkel wurde, hatte Marie das so gestresst, dass sie laut geworden war. Sebastian wurde immer stiller. Am Ende hatte er gar nicht mehr gesprochen. Marie öffnet eine Schachtel, kramt nach der Dose mit der farblosen Schuhcreme, greift nach einem Lappen, kehrt in die Küche zurück, kniet sich auf den Boden, nimmt mit dem alten Lappen farbloses Fett auf und verteilt es auf die Striemen der Wanderschuhe. Auf ihre Anrufe hat Sebastian seit zwei Tagen nicht mehr geantwortet.

 

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