Zwölftes Set
Joana liebt es Listen zu führen, die vom letzten Monat lautet:
– Wem ich was nicht verzeihe.
– Was ich glaube versäumt zu haben.
– Wen ich alles noch abbusseln möchte.
– Was aus mir nicht mehr werden wird.
– Welche Wahrheiten ich wem gegenüber nicht aussprechen werde.
– Wer alles nicht mehr in meine Wohnung darf.
– Was mir mein Herz wärmt.
Marie sitzt im Flugzeug und liest Zeitung. Sie hat den Platz am Gang. Ab und zu dreht sie ihren Kopf nach links und wirft einen Blick aus dem Fenster. Überprüft, ob die Aussicht es wert ist gesehen zu werden. Meistens ist das nicht der Fall. Die Landschaft, die unter ihr zu sehen wäre, wird von einer Wolkendecke verhüllt. Vor dem Fenster sitzt ein Mann. Der Platz zwischen ihnen ist leer. Deshalb kann Marie nun beide Armlehnen in Beschlag nehmen, das erleichtert sie. Denn das große Format der Tageszeitung kann viel bequemer in der Hand gehalten werden, wenn sie ihre Ellbogen auf beiden Seiten abstellen kann. Solche Kleinigkeiten behagen ihr. Versüßen ihr den Alltag. Das einzige was sie etwas beunruhigt ist der Mann am Fenster. Er ist etwas älter als sie, trägt einen aparten grauen Bart, hat warme Augen und einen wachen Blick. Seit dem Start des Flugzeuges hat er Marie schon mehrmals angelächelt. Marie ist einem längeren Blickkontakt jedesmal ausgewichen. Sie fragt sich aber, wieso er sie wiederholt anlächelt. Vielleicht, denkt sie sich, findet er mich einfach attraktiv. Jetzt hält sie ihre Zeitung doch etwas tiefer. Sie will nicht, dass der Mann denkt, sie sei verschlossen. Sie würde nicht nur Zeitung lesen, sondern sich damit auch noch von der Umgebung abschotten wollen. Marie will einen ansprechbaren Eindruck erwecken. Das ist ihr wichtig. Marie möchte ihren Kopf nicht schon wieder Richung Fenster drehen, stellt sich aber schon einmal vor, wie der Mann später einmal „Spatz“ zu ihr sagen wird. Aus einem Dokumentarfilm über Vögel weiß sie, dass Spatzen in ihrer fruchtbaren Phase zwanzig Mal Sex haben. Pro Stunde. Weiter stellt sie sich vor, wie sie sich später an die Situation im Flugzeug erinnern und gemeinsam darüber lachen werden. Nun gibt Marie sich doch einen Schubs, dreht ihren Kopf nach links und nimmt sich vor, dieses Mal den Augenkontakt mit dem Mann zu halten und vielleicht sogar zurück zu lächeln. Der Mann räuspert sich und sagt: »Bitte verzeihen Sie, dass ich Sie jetzt anspreche, aber auf der Rückseite ihrer Zeitung ist ein Interview mit Nina Hagen und meine Tochter ist ein großer Fan von Frau Hagen, würde es Ihnen etwas ausmachen, mir die Seite zu überlassen, sobald Sie das Interview gelesen haben?«
Ich will dich überleben. Und zwar so schnell wie möglich.
AOK=
Aufgetürmte Orangenmarmelade Kleckert
Andreas Operiert Kostengünstig
Aalglatte Oper Killt
Ambitionierter Orkan Kapituliert
Affen Okkupieren Kreisverkehr
Angestellter Orakelt Kaum
Angeber Öffnet Kaffeelikör
Abendländler Observiert Katastrophe
Ich höre mir die Wünsche der anderen an: Ein Haus auf dem Land kaufen. Ein Motorboot mit Elektromotor erwerben. Ein Kind zeugen. Drei Monate lang die Welt bereisen. Ein Sabbatical nehmen. Proust im Original lesen. Mein Wunsch: Mich gleich noch einmal ins Bett zu legen.
Vor sechs Wochen hat Andrea ein Stellenangebot entdeckt. Um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen, dass sie nie etwas unternimmt, um in ihrem gelernten Beruf zu arbeiten, hat sie neue Passfotos machen lassen, Zeugnisse aus dem Ordner gekramt, die Bewerbung geschrieben und das Kuvert zur Post gebracht. Sie hat nicht damit gerechnet, dass sie eingeladen wird. Aber seit sie weiß, dass sie bald in irgendeinem Büro ein Bewerbungsgespräch führen muss, fällt ihr das Einschlafen schwer. Nun liegt sie oft wach und stellt sich immer wieder den Ablauf des Bewerbungsgesprächs vor und vor allem die Frage: »Warum haben Sie seit Ihrem Studium noch nicht in ihrem Beruf gearbeitet?« Das wird sie gefragt werden und darauf hat sie keine interessant klingende Antwort. Der Abschluss ihres Studiums liegt bereits zehn Jahre zurück. Und was könnte sie dazu schon bedeutsames sagen. Sie hat in der Zeit noch nicht einaml Kinder großgezogen oder eine ausgedehnte Weltreise unternommen. Nun sieht sie jeden Morgen in ein blasses Gesicht und sagt sich aufmunternd: Du bist loyal, zuverlässig, hast eine schnelle Auffassungsgabe und Humor. Da kann doch gar nichts schief gehen. Aber sobald sie diese Sätze ausgesprochen hat, wischt sie das Gehörte mit einer Handbewegung weg, geht unter die Dusche und denkt an Psychopharmaka. Mit ihnen ließe sich vieles besser stemmen. Aber Ärzte brauchen Diagnosen und sie möchte keine hören. Sie befürchtet, die Diagnose könnte sich in ihrem Kopf festklammern. Für immer. Drogen zu besorgen ist da schon einfacher. Kein Dealer der Welt würde sie nach ihrem Gemütszustand befragen oder wissen wollen, warum sie Drogen braucht. Sie wird die Angst nicht los, für nichts geeignet zu sein. Und sie mag es nicht, wenn dieses Gefühl vorhat sich in ihrem Körper einzuquatieren. Also braucht sie möglichst schnell Schokotrüffel. Sie werden ihr durch den Tag helfen. Sie wird sich die fünfhundert Gramm Dose kaufen. Sie wird gleich quer durch die Stadt fahren, um sich die von der französischen Firma kaufen zu können. Die beruhigen sie am meisten. Andere beruhigt es, wenn sie Tiere streicheln können, wieder andere wenn sie Sex haben, und sie beruhigt es, wenn sie spüren kann, wie auf ihrer Zunge französiche Schokotrüffel zergehen. Wie ihre Körperwärme etwas zum Schmelzen bringt. Ihre Zunge bringt das ganz von alleine zustande. Legt sie sich einen Schokotrüffel in den Mund, muss der Trüffel wegen ihr, seine Form verlieren. Kann er wegen ihr, nicht mehr das bleiben, was er war. Gerne wäre sie auch noch an anderen Stellen jemand, der andere einfach so zum Schmelzen bringt.
Heute ist mein freier Tag. Sechzehn Stunden stehen mir zur freien Verfügung. Aber ich nutze sie nicht. Und am Abend werde ich mich dann wieder fragen: Wieso eigentlich nicht.
Einmal hatte mir mein Vater zu Weihnachten CD’s geschenkt. In zehn Schritten zum Erfolg. Auch auf dem Flohmarkt wollte sie mir niemand abkaufen.