Alltag # 112 (Nachholtag…)

Alltag # 112

Sebastian hat Mittagspause. Heute ist Nachholtag. Um ihn noch mehr genießen zu können, will er draußen sitzen. Es ist schon warm genug dafür. Er entscheidet sich für das Lokal, das nicht weit von seinem Büro entfernt ist. Er setzt sich an einen kleinen Tisch mit zwei Stühlen. Die Markise über dem Tisch ist heruntergefahren. Das stört ihn. Er würde lieber in der Sonne sitzen. Kurz überlegt er, wieder aufzustehen und nach einem Lokal zu suchen, bei dem die Tische von der Sonne beschienen sind, bleibt dann aber doch sitzen. Sein Hungergefühl rät ihm das. Die Speisekarte steckt in einem Holzblock. Bevor er sie herauszieht, wird er die Blumen anfassen. Neben der Speisekarte steht eine kleine weiße Keramikvase und darin haben drei Blumen ihr Zuhause gefunden. Er streckt seine Finger nach ihnen aus. Er will wissen, ob sie echt sind. Sie sind es nicht. Etwas aufzudecken, befriedigt ihn. Das hat etwas mit seiner Jugend zu tun. Kam ihm als Jugendlicher etwas ungereimt vor, hat er auch versucht, das aufzudecken. Zum Beispiel behaupteten seine Eltern, dass die Hosen, die er trug, keine Hosen seien und die, die sie trugen schon. Dabei hatten auch seine Hosen einen Reisverschluß, einen Bund mit Gürtelschlaufen und lange Beine, nur andere Muster und prägnante Farben. Als Jugendlicher waren ihm seine Eltern in vielen Dingen suspekt. So suspekt, wie ihm künstliche Blumen heute suspekt sind. Sie haben nichts mit dem Leben zu tun. Er greift nach der Speisekarte und schlägt sie auf. Er weiß schon ungefähr, was er an diesem Nachholtag bestellen wird. Nachholtage hat er vor einem Jahr für sich eingeführt. Als kleiner Junge hätte er gerne mehr Berührungen gehabt, mehr Ansprachen, mehr liebevolle Blicke. Aber das konnte er sich nicht bestellen. Es ist wie mit dem Wetter. Es ist schlichtweg nicht möglich, sich für die nächsten Wochen, Monate oder Jahre ein schönes Wetter zu bestellen. Das schöne Wetter kann einfach ausbleiben. Auch über einen längeren Zeitraum hinweg. Und für ein Kind kann auch Vieles ausbleiben, auch über einen langen Zeitraum hinweg. Deshalb hat er jetzt die Nachholtage eingeführt. Sebastian freut sich immer noch über seine Idee. Er wird seine Mittagspause für das Nachholen nutzen und seinen Magen dafür hergeben. Er überspringt die Seite mit den Salaten. Bei Ruccola, Feld- oder Eisbergsalat ist zu viel Müssen dabei. Und heute will er nicht müssen, heute will er haben. Vor allem Fett. Fett macht ihn glücklich. Als Mayonnaise, als Butter oder als etwas, das mit viel Käse überbacken ist. Oder ein Fisch mit einer öligen Haut. Oder ein Braten mit einer Kruste. Heute erlaubt er sich zuzugreifen, reinzuhauen. Je fettiger, umso besser. Sein Mund füllt sich schon mit Speichel. Nach dem Essen wird sein Magen schmerzen. Aber auch das wird gut sein. Das Gefühl, dass viel für ihn da ist, berührt ihn so, dass das dann keine Rolle mehr spielt. Bestimmt er einen Tag zum Nachholtag, achtet er darauf, dass er immer gleich und auf der Stelle so viel bekommt, dass es mehr als ausreichend ist. Er möchte Fülle spüren. Ohne Grenzen. Sebastian klappt die Speisekarte zu und winkt breit lächelnd den Kellner herbei.

 

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Alltag # 114 ( Marie Tsipouro Experiment…)

Alltag # 114

Marie plant ein Experiment. Dafür braucht sie Eiswürfel. Sie drückt ein paar davon in eine kleine Schale und verfrachtet den Rest zurück in das Tiefkühlfach ihres Kühlschranks. Sie greift nach einer Flasche und jetzt fehlt nur noch ein Glas und dann kann sie sich auf den Weg machen. Sie will zur schwarzen Halskette. In der Flasche ist Tsipouro, die griechische Variante von Grappa. Aus Frankreich, wo sie gerade war, hat sie keinen Schnaps mitgebracht. Nur neue Gefühlslagen. Also muss jetzt der Tsipouro für ihr Experiment herhalten. Marie war wegen Miriam in Frankreich. Miriam hat sich dort mit ein paar Freunden ein Haus gekauft. Es steht am Rand eines schönen Dorfes und hat einen großen Garten. Dass sie dort war, kommt ihr schon so weit weg vor. Aber etwas beschäftigt sie noch. Lässt sie nicht los. Raoul. Sie hat ihn dort kennengelernt. Beide haben sie beim Renovieren des Hauses mitgeholfen. Gleich am Anfang gefiel ihr, dass sich Raoul wie ein Hütehund verhielt. Saßen sie abends um den Tisch, war er stets darauf bedacht, dass sich alle wohl fühlten. Das gelang ihm auch. Er kochte für alle. Bezog alle ein. Er mochte es nicht, wenn die Gruppe auseinander fiel und jeder etwas nur für sich machte. Auch hatte ihr gleich gefallen, dass Raoul so viel mit seinen Augen ausdrücken konnte. Er brauchte ihr keine Komplimente zu machen oder einen Arm um ihre Schultern zu legen. Ein Blick von ihm genügte und sie wusste, in welche Richtung er ihre Begegnung schubsen wollte. Aber am allermeisten mochte sie, dass er so ausdauernd interessiert war, ihr das Lippenbalsam von den Lippen zu küssen. Nach zehn Tagen musste sie abreisen. Als er sie mit seinem Auto zum Bahnhof gebracht hatte und sie auf ihren Zug warteten, holte er ein Geschenk für sie heraus. Sie riss das Papier noch am Bahnhof auf. Es war eine Halskette. Schwarze Kugeln an einer Schnur aufgefädelt und einzeln aneinander geknotet. Für sie waren das lackierte Holzkugeln. Raoul meinte aber, dass es Kerne einer Frucht und dass sie von Natur aus so groß und schwarz seien. Angezogen reicht ihr die Kette bis zum Bauchnabel. Aber schon im Zug hatte sie sie wieder abgenommen. Sie trägt keinen Schmuck. Nicht am Hals, nicht an den Ohren und auch nicht an den Armgelenken. Raoul hatte das wohl nicht bemerkt oder wollte diese Tatsache bewusst übergehen. Schmuck ist für Marie, wie so vieles andere auch, nur etwas, das sie noch zusätzlich mit sich herumschleppen muss. Etwas, das zum Gewicht ihres Körpers dazu kommt. Den Pfunden ihres Körpers entkommt sie nicht so schnell, aber dem Gewicht eines Schmuckstücks schon. Solche Extras kann sie ablegen. Marie mag es, wenn ihre Arme, ihre Ohren und ihr Hals frei sind. Sie will dort nichts spüren müssen. Dort soll sich nichts an ihr reiben oder sich an ihr erwärmen können. Das muss nicht sein. Marie erreicht den Schreibtisch und stellt die Utensilien, die sie für den Versuch benötigt, ab. Als sie aus Frankreich zurück kam, hat sie die Kette gleich auf ihren Schreibtisch gelegt. Dort sitzt sie jeden Tag. Sie hat sein Geschenk zu einem kleinen Häufchen aufgetürmt. Gerade liegt es neben ihrem Laptop. Marie befördert ein paar Eiswürfel von der Schale in ihr Glas und wirft erneut einen Blick auf die Kette. Raoul hat sie noch nicht bei allen Lichtverhältnissen gesehen, seine Kette schon. Die hat sie schon bei Tageslicht gesehen, bei Glühbirnenlicht, in der Dämmung, bei Gewitter, bei Regen und bei Sonnenschein. Und einmal hat sie sie auch schon mit der Taschenlampe ihres Telefons angestrahlt. Sie wollte sich die Oberfläche ganz genau ansehen und war dann enttäuscht, dass sie nichts Spezielles darauf hat entdecken können. Der Name der Frucht ist ihr entfallen. Das bedauert sie. Sie hätte ihn gerne gegoogelt. Sie hätte gerne gewusst, wie eine Frucht aussieht, die so große Kerne produzieren kann. Marie öffnet die Flasche Tsipouro und erinnert sich daran, wie froh sie darüber war, dass Raoul ihr etwas geschenkt hatte, das keinen Anfang und kein Ende hat. Die Kette ist einfach ein in sich geschlossener Kreis, der in der Mitte offen ist. Das ist doch eine ideale Grundlage für eine Beziehung, denkt sie, wenn etwas gleichzeitig immer offen und immer geschlossen sein kann. Aber noch kann alles zu Grunde gehen. Sie kann noch alles zu Grunde richten. Sie ist eine Spezialistin dafür. Denn noch ist ihre Geschichte klein. Ein kleines Pflänzchen mit wenig Wurzeln. Es braucht nicht viel Kraft und schon hat man es ausgerissen. Hat sie es ausgerissen. Marie hat sich vorgenommen, Raoul zu antworten. Heute. Sie möchte auf seine SMS reagieren. Die Kette hat sie auf ihren Schreibtisch gelegt, um ihr nah sein zu können. Aber Raoul antwortet sie schon seit über zwei Wochen nicht. Ketten nah zu sein, ist einfach, denkt sie, und versteht nicht genau, was sie vor Raoul verstecken möchte. Er hat sie nur gefragt, wann sie sich wiedersehen. Marie gießt sich Tsipouro ein. Sie hofft, dass der Alkohol ihr Schweigen unterbrechen wird, damit sie in ihr Telefon tippen kann, was sie fühlt oder nicht fühlen möchte. Marie schüttet die ersten zwanzig Millimeter hinunter. Sie schmecken gut. Die Zunge und der Hals brennen angenehm. Weiter gehts. Marie legt eine Hand auf die Kette und kippt mit der anderen das zweite Glas hinunter. In einer Stunde wird sie hoffentlich Antworten parat haben.

 

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Alltag # 108 ( Marie will kugeln…)

Alltag # 108

Marie bedauert, dass sie sich gleich mit ihren Beinen vorwärts bewegen muss. Sie sitzt bei Anna auf dem Sofa und will zu Marcel hinüber. Aber sie möchte nicht die Muskeln anspannen, sich hochdrücken, gerade hinstellen und diszipliniert zu ihm hinüber gehen. Mit ihrem Glas in der Hand, das schon wieder leer ist. Sie möchte sich jetzt rund machen und vom Sofa kugeln. Sich kugelnd vorwärts bewegen. Die Vorstellung muntert sie auf. Sie könnte sich einfach von Anna wegkugeln, hinüber zu Marcel. Bei ihm ist die Weinflasche. Er gießt sich auch gerade selbst welchen ein. Und die Tüte Chips ist auch bei ihm. Und später, in ein oder zwei Stunden könnte sie Annas Wohnung auch einmal anders verlassen als gehend. Sie könnte nach Hause kugeln. Die Treppe hinunter, den Bürgersteig entlang, in die U-Bahn hinein und wieder hinaus und morgen auch gleich noch zur Arbeit. Und auf dem Weg zur Arbeit gäbe es plötzlich auch noch andere Mitkugler. Über Nacht wäre bei vielen das Bedürfnis entstanden, das nun nicht mehr zurückzuhalten ist. Auch die Tagesschau würde davon berichten müssen. Marie überlegt, ob sie das mit dem Kugeln Anna und Marcel vorschlagen soll. Entscheidet aber, dass es besser ist, es ihnen vorzumachen. Marie rollt sich ein. Gleich wird sie vom Sofa kugeln. Es muss einfach einmal etwas unterbrochen werden. Alltag. Normen. Routinen. Trivialitäten. Befangenheiten. Marie hat genug davon.

 

Alltag # 109 ( Sebastian will Väterliches…)

Alltag # 109

Begegnet Sebastian einem sympathischen Mann, überkommt ihn das Bedürfnis, ihn zu fragen, ob er für einige Stunden sein Vater sein will. Auch als erwachsener Mann möchte Sebastian jemanden in seiner Nähe haben, der stundenlang Väterliches an ihn hinverströmt. Jemand, der ihm ungefragt ausgiebig Zustimmung und Wärme spendet. Das wünscht er sich mehr als ein aktives Sexleben, einen hohen Kontostand, dichtere Haare oder einen Urlaub an der Algarve.

 

Alltag # 110 ( Orangen ansehen… dann verspeisen.)

Alltag # 110

Marie greift in die Einkaufstasche aus Papier. Sie war im Supermarkt und hat schon fast alle Lebensmittel im Vorratsschrank verstaut. Auf dem Boden der Papiertasche liegt nur noch das Netz mit den Orangen. Zwei Kilo. Marie hat die Zitrusfrüchte für ihre Augen gekauft. Maries Augen sind in Not. Seit Tagen schon. Mehr als es ihren Mund nach einem frischen Aroma verlangt, verlangt es ihre Augen nach Farben. Das Grau des Himmels, das der Jahreszeit geschuldet ist, unterbricht sich nicht mehr. Es bleibt einfach weiterhin beständig grau. Genauso grau wie die Resopaloberfläche ihres Küchentisches. Auch sie behält ihre Farbe beständig bei. Tag für Tag und Woche für Woche. Marie verdrängt den Gedanken an das graue Resopal, das sie im Winter so deprimierend und düster findet und legt das Netz mit den Orangen auf die Arbeitsfläche. Zumindest jetzt hat sie etwas in ihrer Nähe, das von der Sonne angestrahlt worden ist. Stundenlang. Tagelang. Wochenlang. Die Sonnenstrahlen haben dazu beigetragen, dass diese schöne Farbe entstanden ist. Marie wirft einen Blick durch das Netz und ist von der Leuchtkraft beeindruckt. Angestrahlt zu werden tut einfach gut, man kann es den Orangen ansehen. Marie steckt die Zeigefinger und die Daumen in das engmaschige Netz und zerrt die Verpackung auseinander. Die rot gefärbten Plastikfasern schneiden ihr tief ins Fleisch, zerreißen lassen sie sich von Maries Kraft aber nicht. Marie gibt auf und holt eine Schere. Sie schneidet das Netz ein Stück weit auf und zwängt die erste Orange durch den Schlitz. Das kommt ihr jetzt wie ein Geburtsvorgang vor und sie sich wie eine Hebamme. Sie holt die anderen auch noch heraus und legt sie in eine himmelblaue Keramikschale. Marie trägt die Keramikschale zum Küchentisch und setzt sich zu ihnen. Dass die Früchte so kugelrund sind, berührt sie. Sie sehen aus wie kleine Sonnen. Klitzekleine Minisonnen, die nicht größer werden können. Nie so groß, dass sie eine Erde mit Wärme versorgen können. Aber Marie können sie versorgen. Ihre Augen atmen auf. Ihre Seele auch. Marie hat vor, die Orangen erst einmal nur anzuschauen. Ein paar Tage lang und jeden Tag mehrmals. Zu sehen, dass etwas eine so schön Ausstrahlung haben kann, während es nur passiv daliegt, wird ihr gut tun. Für ein paar Minuten wird sich das Leben leichter anfühlen. Aber für die Orangen wird noch eine andere Zeit kommen. Der Aufenthalt in der Keramikschale wird für sie nur ein Übergang, ein Zwischenstopp sein. Denn in ein paar Tagen wird es Marie nach dem frischen Aroma verlangen. Und auch wenn die Orangen das nicht gebucht haben, wird ihre Reise in Maries Mund enden. Dort werden die Minisonnen untergehen. In ein paar Tagen wird sich Maries Mund öffnen, werden ihre Zähne zubeißen und ihre Zunge alles nach hinten schieben, die Speiseröhre hinunter drücken. Genau so wird es ablaufen. Die Orangen werden im Dunklen enden müssen. Dort wird es noch dunkler sein als in der grauen Jahreszeit. Das wird Marie ihnen nicht ersparen können.

 

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Alltag # 104 ( Marie war im Supermarkt…)

Alltag # 104

Marie war im nahegelegenen Supermarkt. Sie hat den Besuch lange hinausgezögert. Sie geht nicht gerne einkaufen. Steht sie in einem Supermarkt, nimmt sie sich jedesmal vor, ihn so schnell wie möglich wieder zu verlassen. Meistens gelingt ihr das aber nicht und sie verliert sich zwischen den Regalen. Denn ständig muss eine Auswahl gegroffen werden. Immer muss etwas irgendetwas anderem vorgezogen werden. Verschiedene Kategorien kämpfen miteinander. Die Menge mit dem Preis. Der Preis mit dem Label. Und umgekehrt. Marie ist jedesmal verblüfft, wie viel Zeit zwischen den Supermarktregalen wohnt. Und wie bereitwillig sie sich in sie hineinfallen lässt. Oft muss sie ihre Gedanken dann gewaltsam weiterziehen, wie über Schleifpapier, damit ihre Hand überhaupt einmal etwas in den Einkaufskorb legt. Aber heute hat sie den Einkauf ohne große Zeitverzögerung hinter sich gebracht. Sie spürt noch immer die Erleichterung darüber. Ein gutes Gefühl. Sie stellt die Einkaufstüten in der Küche ab und geht ins Bad. Dreht den Wasserhahn auf, greift nach der Seife und schiebt sie zwischen den Handflächen hin und her. Sie legt die Seife zurück und verteilt das Wasserseifengemisch zwischen ihren Handflächen, den Fingern und den Fingerzwischenräumen. Marie genießt das glitschige Gleiten von Haut an Haut und wiederholt es noch ein paar Mal, obwohl die Hände schon sauber sind. Denn in letzter Zeit kommt so ein Kontakt nur noch mit Seifenwasser zustande, was sie manchmal – aber nicht immer – bedauert. Sie hält die Gliedmaßen unter den Wasserstrahl, eine dunkelgraue Brühe tropft auf die weiße Keramikoberfläche des Waschbeckens. Sie trocknet sich die Hände ab und geht zurück in die Küche, zu den Tüten. Heute hat sie Eier, Avocados, Butter, Schokolade, Tee, Orangen und Karotten gekauft. Alles, was auf ihrer Einkaufsliste stand, hat sie nach Hause geschleppt. Alles ist gut gegangen. Fast. Nur das mit dem Brot ist nicht so abgelaufen, wie sie das wollte. Marie mag runde Brote. Brote, die einen an übergroße Busen erinnern. Die mit einem knusprigen Rand und einem hellen fluffigen Inneren. Die kauft sie gerne und ein solches wollte sie auch heute kaufen, als sie im Backshop stand. Aber als der Verkäufer sie dann gefragt hatte, was es denn sein dürfe, sagte sie: Das Angebot der Woche. Dabei mag sie keine Kastenbrote. Und das Angebot der Woche ist ein Kastenbrot. Und solche Brote lösen bei ihr keine Glücksgefühl aus. Sie mag die Form nicht. Mag nicht, dass diese Brote seitlich so eingeengt, in eine Form gezwängt werden. Und den Geschmack mag sie dann schon aus Prinzip nicht. Dass ihr der Satz überhaupt so leicht über die Lippen kam, hat sie selbst überrascht. Als sie in der Schlange stand und darauf wartete, bis sie an die Reihe kam, sah sie sich das auf dem Tresen aufgestellte Schild an. Lange. Es hat ihr gefallen, dass ein Brot mit so ausdrucksstarken und wohlwollenden Worten angepriesen wurde. Auch, dass für alle sichtbar war, dass da etwas angepriesen wurde. Und dann war da noch dieses kleine rote »x«. Das Angebot der Woche war günstiger, als die anderen Brote. Und auf einmal dachte sie sich, auch sie müsse sparen und die Gelegenheit nutzen. Manchmal überkam sie die Angst vor einer Altersarmut. Und kleine rote x-se erinnerten sie daran. Und jetzt wird sie vier Tage lang ein rechteckiges Brot essen müssen, weil sie sich vierzig Cent hat sparen wollen. Ein sinnloses Sparen. Der Ärger über den Fehlkauf wird vorbeigehen, das weiß sie. In ein paar Tagen wird sie sich nicht mehr daran erinnern. Auch von dem Brot wird dann nichts mehr übrig sein. Ihr Magen wird alles transformiert haben. Aber etwas anderes wird noch da sein. Das auf dem Tresen aufgestellte Schild hatte bei ihr noch etwas ausgelöst. Eine Wunschvorstellung ist aufgetaucht und hat sie beflügelt. Sie möchte das Schild austauschen und ein anderes hinstellen. Sie will das Angebot der Woche sein. Auf dem Tresen im Backshop sollte ein Schild von ihr stehen. Sie sollte angepriesen werden. Sie will diejenige sein, über die jemand dann sagen kann: Mit Marie habe ich mir soviel sparen können. Seit sie da ist, muss ich nicht mehr alleine frühstücken, habe ich nachts einen warmen weichen Körper neben mir liegen, aufmunternde Worte, wenn ich nicht weiter weiß und leuchtende Augen, in die ich blicken kann. Ich bin so froh, dass ich sie mitgenommen habe. Das ganze Zeug mit der Einsamkeit kann ich mir jetzt sparen.

 

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Alltag # 106 ( Sebastian wird krank…)

Alltag # 106

Sebastian liest Zeitung. Nach ein paar Minuten stellt er fest, dass er nicht mehr weiß, was er gerade gelesen hat. Die Worte haben keine Haftkraft entwickelt. Seine Gedanken sind woanders. Bei Johannes. Monatelang schleppt er nun schon etwas mit sich herum. Er möchte mit Johannes nicht mehr auf das Musikfestival fahren. Heute werde ich ihm das sagen, denkt er sich. Sebastian liest den letzten Absatz des Artikels noch einmal durch, blättert um und versucht es mit einem anderen Artikel. Nach dem Zeitunglesen werde ich ihn anrufen und ihm absagen, denkt er sich. Heute werde ich das einfach hinter mich bringen. Bestimmt schaffe ich das. Sebastian liest weiter, aber jetzt meldet sich sein Körper. Etwas stimmt mit ihm nicht. Sebastian kann nicht sagen was. Vielleicht, denkt er sich, brauche ich nur ein Glas Wasser. Bestimmt bin ich bloß dehydriert. Er schiebt die Zeitung weg und steht auf. Schlagartig bildet sich Schweiß auf der Stirn und seine Ohren fühlen sich wie in Flammen stehend an. Wie früher, wenn sie wegen den Mädchen, die ihm gefallen hatten, feuerrot angelaufen sind. Sebastian fasst sich ans linke Ohr. Der mit Haut überzogene Knorpel glüht und in beiden Gehörgängen rauscht es. So als würde er sich unter Wasser neben einem Schiffsmotor aufhalten. All das kennt er so nicht. Es stresst ihn. Nun ist auch ein Schmerz zu spüren. Er hat keine eindeutigen Grenzen, ist an den Seiten ausgefranst. Das Epizentrum scheint aber im Bauchraum zu sitzen. Dort trommelt es dumpf. Sebastian will ins Bad. Sich im Spiegel ansehen. Im Flur hält er sich mit einer Hand an der Wand fest. Die Füße heben sich nicht mehr so leicht. Sind entkräftet. Er passt sich ihnen an. Geht langsam. Schleicht. Kommt vorwärts. Zwei Meter kommen ihm ewig lang vor. Die Haut in seinem Gesicht fühlt sich kalt an, auch der Schweiß. Er wischt sich den nassen Film mit dem Handrücken aus der Stirn. Erreicht das Bad, drückt die Tür auf. Der Spiegel muss warten. Er klappt den Toilettendeckel hoch und erbricht sich. Er stützt seine Hände auf seinen Knien ab, bekommt mehr Stabilität, erbricht sich erneut und dann noch einmal und dann noch einmal. Sein Hals brennt. Magensäure haftet am Gewebe der Speiseröhre und versucht gerade die Speiseröhre zu verdauen. Sebastian wäscht sich die Hände, lässt Wasser in den Handteller laufen und schlürft in kleinen Schlucken Wasser in sich hinein. Er will den ekelhaften Geschmack im Mund und das Brennen im Hals loswerden. Er sieht in den Spiegel. Was ihn am meisten erschreckt: Seine Lippen sind kreideweiß und seine Haare klatschnass. Ihm fällt ein, dass es in seiner Wohnung kein weiteres Wesen gibt. Keine Geliebte, kein Kind und keinen Hund. Nichts, was jetzt aus der Tür laufen und Hilfe holen könnte. Wäre das jetzt nur ein Film, könnte er mit der Fernbedienung ein paar Minuten vorspulen. Er stützt sich mit den Händen am Waschbecken ab. Er will Zeit gewinnen. Kaum haben die Hände die Keramik berührt, braut sich im Magen schon wieder Druck auf. Sebastian dreht sich zur Seite und schafft es gerade noch so, seinen Mund erst über der Toilettenschüssel zu öffnen. Und schon würgt sein Körper einen weiteren Schwall hervor. Flüssigkeit vermischt mit Unverdautem. Auch das Leitungswasser von gerade eben ist mit dabei. Sebastian kehrt zum Waschbecken zurück und versucht sich an etwas angenehmes zu erinnern. Er denkt an die Spatzen, die er heute Vormittag gehört aber nicht gesehen hat. Ihr Tönen hatte ihn getröstet. Das tun Spatzenlaute bei ihm immer. Auch wenn es gar nichts zu trösten gibt, trösten sie ihn. Ein dumpfer Schmerz schüttet ihn zu. Löscht seinen Gedankenfluss aus. Neuer Schweiß bildet sich. Tropfen laufen vom Haaransatz über seine Stirn und verfangen sich in seinen Augenbrauen. Er wischt sie mit dem Ärmel seines Hemdes ab. Etwas funktioniert also doch noch, denkt er sich. Die Ausschüttung von Schweiß. Der Körper sucht noch nach Lösungen und lässt dabei ganz pragmatisch sein Programm ablaufen. Bestimmt würde das, was ihm jetzt gerade widerfährt, genau so in einem Schulbuch stehen. Sebastian fühlt Schwindel. Eventuell, denkt er sich, werde ich gleich umfallen. Wahrscheinlich ist das auch eine Lösung. Johannes muss ich heute nicht mehr anrufen. Mein Körper hat mich zum Glück außer Gefecht gesetzt. Der Körper ist schlau, sagt er sich noch, und dann sagt er sich erst einmal nichts mehr. Er sinkt zu Boden und richtet sich dort ein neues Zuhause ein. Vorübergehend.

 

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