Alltag # 92 (Sebastian will pünktlich sein…)

Alltag # 92

In Charlottenburg hat Sebastian immer das Gefühl, dass alles viel Platz haben darf. Gerade läuft er einen Bürgersteig entlang, auf dem problemlos fünf Menschen nebeneinander her laufen könnten. Genau deswegen mag er diesen Teil der Stadt. Diese Weite macht sein Herz frei. Normalerweise würde er sich auch die alten herrschaftlichen Häuser genauer ansehen und die verzierten Fassaden bewundern. Aber gerade geht das nicht. Er ist in Eile. Er will pünktlich sein. In drei Minuten möchte er vor der Praxis seiner Therapeutin stehen. Er will auf keinen Fall zu spät kommen. Er befürchtet, ein von ihr flapsig ausgesprochener Kommentar, könnte ihn verstören. Bis zu ihrer Tür sind es bloß noch dreißig Meter aber Sebastian bleibt angespannt. Noch könnte ihm alles Mögliche passieren. Er könnte von einem Fahrradfahrer umgefahren werden oder noch über eine hervorstehende Bodenplatte stolpern und dumm aufs Gesicht fallen. Dann müsste er sich erst einmal um das Blut kümmern, das ihm aus der Nase läuft. Seit der letzten Straßenkreuzung hat er schon fünf Mal nach der Uhrzeit gesehen. Die Fakten überprüft. Und jetzt tut er es schon wieder: Es ist 15:53 Uhr. Alles läuft nach Plan. Seine Unruhe bleibt aber trotzdem bei ihm. Sebastian kommt ein junger Mann entgegen. Er hat dunkelbraune lockige Haare und führt einen jungen Hund an der Leine. Es ist ein weißes wuscheliges Etwas, das direkt auf Sebastian zusteuert. Es scheint ein besonders neugieriges Exemplar zu sein. Sebastian mag Hunde. Er lässt sich gleich von den schwarzen Knopfaugen und dem wachen Blick verzaubern. An jedem anderen Tag würde er jetzt in die Hocke gehen, den kleinen Hund streicheln und sich notfalls auch die Hand von ihm ablecken lassen. Aber jetzt will er in zwei Minuten bei seiner Therapeutin sein. Bis zur Hausnummer zweiunddreißig sind es nur noch ein paar Schritte, trotzdem ignoriert er den Hund. Er geht schnellen Schrittes weiter und wirft wieder einen Blick auf das Display seines Telefons. 15:54 Uhr. Und dann steht er vor der zweiflügeligen Eingangstür aus der Gründerzeit. Alles ist perfekt gelaufen. Er hat seinen Zeitplan eingehalten. Nur seine Stirn ist nass. Sebastian atmet tief durch aber ein entspanntes Gefühl mag sich immer noch nicht einstellen. Jetzt findet er es doch schade, dass er sich für den Hund keine Zeit genommen hat, dass er nicht kurz mit ihm gespielt hat. Die Berührung mit dem warmen weichen Fell hätte ihn vielleicht entspannt. Zumindest kurzfristig. Sebastian sieht noch einmal nach der Uhr. Es ist 15:55 Uhr. Mit seiner Therapeutin ist ausgemacht, dass er fünf Minuten vorher klingeln darf. Wenn es stark regnet, dürfen es auch schon mal zehn Minuten vor der vollen Stunde sein. Sebastian drückt auf den Klingelknopf und wartet auf das Geräusch des Türöffners. Er weiß wie lange seine Therapeutin bis zum Türöffner braucht. Aber dieses Mal dauert es länger als sonst. Sebastian nimmt einen weiteren tiefen Atemzug und spürt, wie sich sein Brustkorb nach vorne drückt. Hat er sich im Datum geirrt? Er hält kurz die Luft an, schnauft laut aus und bedauert sich. Gerne wäre er jetzt sorgloser, frei und ungezwungen. Aber er starrt weiter auf den messingfarbenen Türknopf und fragt sich, ob seine Therapeutin den Termin vergessen haben könnte. Kurz erstarrt er innerlich. Das würde ihn erschüttern. Aber dann hört er den Türsummer und seine Hand schnellt nach vorne. Fast so schnell, wie ein Chamäleon seine Zunge nach vorne schleudern kann. Wie so oft, kommt es Sebastian auch jetzt vor, als würde sein Glück von einem einzigen Moment abhängen. Er drückt die Tür auf.

 

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Alltag # 90 (Katze aufpassen Sofa und das Sofa)

Alltag # 90

Marie verlangsamt ihr Tempo um angenehmer die Treppen hochsteigen zu können. Sie will in den vierten Stock. Milena ist verreist und jetzt wird sie auf ihren Kater aufpassen und bei ihr wohnen. Marie soll ihm Futter geben und ihn unterhalten. Denn Milena findet, dass der Kater jetzt, wo er alt ist, besonders viel Zuspruch braucht. Auch glaubt sie, dass er länger lebt, wenn sie ihm viel Gutes tut und seinen Tod will sie noch so lange wie möglich hinauszögern. Früher hat sie Mr. Gray einfach von ihrer Nachbarin versorgen lassen, wenn sie weg musste. Die hat ihm dann zweimal am Tag Futter hingestellt und die restliche Zeit war er alleine in der Wohnung. Das hat Milena zugelassen, ohne mit der Wimper zu zucken. Aber jetzt nimmt sie mehr Rücksicht auf ihn. Jetzt will sie ihm keinen zusätzlichen Stress zumuten und ihn in bester Gesellschaft wissen. Deshalb sollte Marie anreisen. Marie wollte aber nicht wegen einem alten Kater drei Tage frei nehmen und hat versucht Milenas Bitte auszuschlagen. Ist aber nach zwei Minuten eingeknickt. Marie steckt den Reserveschlüssel, den ihr Milena per Post zugeschickt hat, ins Schloss und öffnet die Tür. Von Mr. Grey ist nichts zu sehen, auch nichts zu hören. Kater haben keine Willkommenskultur, denkt Marie, und stellt ihre Reisetasche ab. Sie zieht ihren Mantel aus, hängt ihn an der Garderobe auf, geht den Flur entlang und wirft einen Blick ins Wohnzimmer. Auch dort ist nichts von Mr. Grey zu sehen. Aber ein Sofa! Und was für eines! Milena hat sich also ein neues geleistet. Ein besonders schönes Exemplar. Marie kann den Blick nicht vom Sofa lösen, so gut gefällt es ihr. Auch, weil es so groß ist. Auf dem Sofa, das bei ihr zu Hause steht, kann sie nicht einmal die Beine ausstrecken. Es ist bloß ein 2-Sitzer und ein größeres würde auch nicht in ihr Wohnzimmer passen. Aber das hier ist ein 4-Sitzer. Da könnten auch zwei Leute drauf liegen und bequem ihre Beine ausstrecken. Marie streift ihre Schuhe ab, geht zum Sofa, lächelt es an, streckt die Hand aus und streift in langen Zügen über die Polsterung. Ihre Lieblingsart etwas zu begrüßen. Mit Streicheleinheiten. Der Stoff fühlt sich gut an, denkt Marie, sehr gut. Dann greift sie nach ein paar kleinen quadratischen Kissen und wirft sie vor eine der beiden Armlehnen. Dort werden ihre Füße liegen. Wunderbar, denkt Marie, und gibt sich ihrer Begeisterung ganz hin. Ihre Begeisterung für Sofas ist nicht ganz neu. In letzter Zeit, wenn sie bei Freunden zum Essen eingeladen ist, kommt sie immer an den Punkt, an dem sie ihren Freunden die Frage stellt, ob sie sich noch auf ihr Sofa legen darf. Meistens ist das möglich und dann bleibt sie da liegen, so lang es geht. Also bis sie wieder nach Hause muss oder von ihren Freunden rausgeworfen wird. Ein Sofa, denkt Marie, ist wie ein Kunstwerk, man braucht es nicht zum Überleben aber es verschönert und erleichtert einem vieles. Marie hat vor, mit dem Kopf auf der Armlehne zu liegen, die vom Fenster abgewandt ist, damit sie die Tür im Auge behalten kann. Das möchte sie wegen Mr. Grey, falls es ihm doch noch mal einfällt, nachzusehen, wer angekommen ist. Marie setzt sich mittig auf das Sofa, zieht die Beine hoch, schwingt sie nach links und streckt sich der Länge nach aus. Die Polsterung heißt sie, wie zu erwarten war, willkommen. So willkommen, dass sie auch gleich noch die Nacht hier verbringen will. Was soll ich auch in einem Gästezimmer, denkt sie, wenn es hier so ein wunderschönes Möbelstück gibt. Das letzte Mal hatte Marie im Gästezimmer übernachtet. In einem engen schlauchartigen Raum mit einem Stockbett drin. Sofas sind viel magischer. Von einem Sofa fühle ich mich umarmt, von einem Bett nicht. Marie hofft, dass das Sofa ihren Geruch mag und schmiegt sich an die Rückenlehne. Dass das Sofa diese verschlossene Seite hat, gefällt ihr. Rückenlehnen sind für sie ein perfekter Schutzwall. Sobald etwas da ist, was ihr Halt gibt, imponiert ihr das immer. Marie legt ihre Hände neben sich und ist beglückt. Sie lungert am helllichten Tag auf einem Sofa herum, nimmt sich von allem frei. Vernachlässigt ihre To-Do-Listen und gönnt auch den Schuldgefühlen eine Pause. Ich fühle mich gerade so, als dürfte ich das Leben schwänzen, denkt sie. Wie schön das ist, wenn alle Ansprüche von einem abfallen, wenn man sich von allem entbunden fühlt, auch von sich selbst. Marie spürt wie Dankbarkeit in ihr aufsteigt, durch ihre Adern strömt und ihren Körper wärmt. Ihr Rumpf, ihre Beine, ihre Arme, ihr Kopf, fühlen sich durchbluteter an. Dass Milena ausgerechnet mir diesen Auftrag erteilt hat und niemand anderem, freut mich nun doch, denkt Marie. Und wie gut sich das gefügt hat, dass ich auch ihre Bitte nicht habe ausschlagen können. Nun stehen mir drei wunderschöne Tage auf dem Sofa bevor. Eine köstliche Zeit. Diese Vorstellung stimmt Marie heiter. Sie schließt die Augen und hört ein Miauen. Sie glaubt, es kommt aus der Küche. Es ist Mittag. Bestimmt hat Mr. Grey Hunger. Bald, denkt Marie, werde ich aufstehen und zu dir kommen. Versprochen.

 

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Alltag # 88 (Sebastian Kerzenständer…)

Alltag # 88

Sebastian steht in seinem Schlafzimmer mit einem um die Hüfte gewickelten Handtuch. Er kommt gerade aus der Dusche, öffnet die Tür zum Kleiderschrank und lässt das Handtuch auf den Boden gleiten. Das erstaunt ihn. Normalerweise nimmt er es ab und legt es sorgfältig auf den Hocker, der ihm als Kleiderablage dient, um es später zum Trocknen an einen Haken zu hängen. Er vermutet, dass er das gerade wegen Anna getan hat. Anna hatte öfters von ihm verlangt, dass er sein um die Hüfte geschlungenes Handtuch vor ihren Augen auf den Boden fallen lassen soll. Und weil er wusste, wo Anna dann hinsehen würde, hatte das bei ihm gleich eine Schwellung bewirkt, noch bevor er das Handtuch überhaupt geöffnet hatte. Jetzt ist sein Handtuch aber einfach nur auf den Boden gefallen und sein Geschlechtsteil ist schlaff geblieben. Er hebt das Handtuch wieder auf und dabei fällt ihm der Kerzenständer ein. Er geistert schon seit Tagen in seinem Kopf herum. Sobald er mit dem Ankleiden fertig ist, wird er nach ihm sehen. Er will das mit dem Kerzenständer nicht noch länger auf die lange Bank schieben. Sebastian knöpft sein Hemd zu, lässt die beiden oberen Knöpfe auf, schlüpft in die Hose, zieht den Reißverschluss zu, macht sich barfuss auf den Weg ins Sofazimmer, stellt sich mittig vor das wandhohe Bücherregal, stemmt seine Arme in die Hüften und zwingt sich, den Kerzenständer anzusehen. Den hat ihm Anna irgendwann aus Italien mitgebracht. Von einer Insel, die bekannt ist für ihre Glasherstellung. Anna hat ihm den Kerzenständer in der Zeit geschenkt, als sie noch ein Paar waren. Als er noch dachte, dass das mit ihnen ewig so weiter gehen würde. In der Zeit, als er sich noch völlig sicher war, es würde ausreichen, dass er das so will. Als Anna ihm damals das Geschenk überreichte hatte, hatte er sich bis über beide Ohren gefreut. So sehr, dass er sogar kurz auf der Stelle auf- und abgehüpft ist. Wie kindisch er manchmal bei ihr werden konnte. Damals hatte Sebastian das teuere Ding als Sinnbild von Annas Zuneigung gesehen und wollte genau deshalb, dass der Kerzenständer in seiner Wohnung einen besonderen Platz bekommt. Seine Wahl fiel auf das Bücherregal. Dort konnte das schöne Objekt am besten zur Augenweide werden. Vom Sofa aus konnte er liegend gut seine Augen Richtung Bücherregal wandern lassen, um den Kerzenständer zu bewundern. Und eigentlich betrachtete er ab da nur noch ihn. Die anderen Gegenstände, die auch noch im Regal stehen, interessierten ihn dann nicht mehr. Er liebte das byzantinische Blau und das schöne Design mit den verschiedenen miteinander korrespondierenden geometrischen Formen. Ein Kreis, ein Oval, zwei Kreise, etwas Elliptisches und ein Zylinder. Es freute ihn, dass er so ein kostbares Mitbringsel wert war. Benutzen wollte er ihn aber nicht. Diesem Kerzenständer blieb es untersagt, seiner Bestimmung nachzukommen: Er durfte keine Kerze in sich spüren und keine an ihm herunterlaufenden heißen Wachstropfen. Sebastian wischt mit zwei Fingern Staub vom blau leuchtenden Glas. Seit der Trennung von Anna erträgt er es nicht den Kerzenständer anzusehen. Es ist zu schmerzhaft. Einmal stellte er sich vor, der Kerzenständer sei ein völlig neutraler Gegenstand, so, als käme er zum Beispiel aus dem Ausverkauf von einem insolvent gegangenem Kaufhaus. Aber es blieb bei dem Gedankenspiel. Sebastian streckt seine Hand aus, umfasst den Kerzenständer und zieht ihn aus dem Regal. Er schaut auf die leere Stelle und spürt die Kälte vom Glas auf seinen Fingerspitzen. Sebastian dreht sich zur Tür und macht sich mit dem Kerzenständer in der Hand auf den Weg zur Küche. Gleich wird er ihm entweder versehentlich aus der Hand rutschen, oder er landet, wenn er Glück hat, doch noch auf der Straße. Dort könnte ihn jemand mit nach Hause nehmen. Er bekäme noch eine Chance. Jemand anderes könnte zu ihm sagen: Du bist aber schön.

 

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Alltag # 82 (Schlechtes Gewissen…)

Alltag # 82

Das schlechte Gewissen, das ich mir gegenüber habe, weil ich mein Leben nicht auf eine bessere Spur bringe, hat kein Verfallsdatum.

 

Alltag # 84 (Marie und ihr Mutter Traum..)

Alltag # 84

Marie kann es nicht fassen. Ihre Mutter ist tot und sie kann ihr noch immer nicht trauen. Das macht sie fertig. Seit zwei Jahren gibt es diesen Mutterkörper nun schon nicht mehr und dennoch funkt er noch in ihr Leben hinein. Zeigt ihr, wer hier die Hosen anhat und das ist ganz bestimmt nicht Marie. Marie möchte mit der Welt Frieden schließen und tageweise gelingt ihr das auch. Dann ist sie mit allem was kreucht und fleucht und sogar flucht versöhnt. Sobald aber ihre Mutter auftaucht, geht ihr das Gefühl flöten. Maries Mutter hat eine unglaublich starke Ausstrahlung. Mit ihr verhält es sich, wie mit der Radioaktivität und ihrer Halbwertszeit. Es dauert ewig und drei Tage bis diese Strahlen verfallen und keine gesundheitlichen Schäden mehr anrichten. Marie fände es wirklich schön, wenn ihr ein Physiker ausrechnen könnte, wie sich das mit dem Verfallen von menschlichen Ausstrahlungen verhält. Denn ohne so einen Physiker stellt Marie nur immer wieder fest, dass die Ausstrahlung ihrer Mutter noch da ist, in scheinbar gleicher Stärke. Marie hatte gestern wirklich einen schönen Tag. Sie war mit Sebastian Eis essen und hatte danach bei Frau Berger, ihrer Therapeutin, eine gute Stunde. Abends ging sie ganz zufrieden ins Bett. Aber im Stadium des Tiefschlafs, stieg ihre Mutter in ihren Traum hinein, ohne Leiter und ohne Erlaubnis. Marie hätte ihr auch beides nicht gegeben. Im Traum war sie bei Frau Berger, sass gemütlich im Sessel, wollte ihr gerade etwas mitteilen und dann war da auf einmal – out of the blue – auch ihre Mutter. Hatte sich der Mutterkörper einfach mitten in das Zimmer von Frau Berger gebeamt. Der Mutterkörper lächelte die Therapeutin an, nahm sie an der Hand und verließ zusammen mir ihr das Zimmer. Ein paar Minuten später tauchte ein Assistent auf, der auch irgendwie der Liebhaber der Therapeutin war. Marie wollte ihn um Hilfe bitten. Er entgegnete ihr aber, dass er hochsensibel sei, und dass man ihm deswegen nichts Schlimmes schildern dürfe. Schlimmes könne er nicht aushalten. Da müsse er immer weinen und könne damit dann nicht mehr aufhören. Aber falls sie jetzt sprechen müsse, dürfe sie ihm sagen, wie groß sie sei oder welche Lebensmittel sie gerne esse, solche Dinge eben. Die könne er dann auch aufschreiben, wenn sie das wolle. Marie wollte nicht. Gleich im Anschluß sagte er, er müsse sie bitten zu gehen, denn er würde die Praxis jetzt zusperren und außerdem bräuchte sie auch nicht mehr auf Frau Berger zu warten, denn die würde nicht mehr zurück kommen. Weder heute, noch morgen, noch in den nächsten Wochen oder Monaten. Marie blieb die Spucke weg. Der Mutterkörper hatte die Therapeutin dazu gebracht, sie zu verlassen und nun stand sie wieder alleine da. Nachdem sie aufwachte, kam ihr zumindest das irgendwie bekannt vor. Nun ist ihr den ganzen Tag über schon bang und morgen wird das wahrscheinlich auch noch so sein.

 

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Alltag # 85 (Sebastian Doppelbelegung..)

Alltag # 85

Sebastian hört den Türöffner, drückt gegen den Griff und betritt den Hausflur. Er freut sich auf die Stunde. Stichwortartig hat er sich schon aufgeschrieben, was er heute besprechen möchte. Er läuft an ein paar Fahrrädern vorbei und nähert sich der zweiten Tür, wo er gleich noch einmal klingeln wird. Aber die Tür geht schon ganz ohne sein Zutun auf. Seine Therapeutin steht im Türrahmen, lächelt ihn zur Begrüßung an und sagt: »Heute haben wir ein Problem, es gibt eine Doppelbelegung!« Sebastian weiß, dass er sich bei dem Termin nicht geirrt haben kann. Er ist in solchen Dingen korrekt und überprüft immer lieber zweimal, ob er den Termin richtig eingetragen hat, denn sonst müsste er die Stunde trotzdem bezahlen. Er geht ins Vorzimmer und sieht die Doppelbelegung. Sie stellt gerade ihre Tasche neben der Tür ab, die in das Zimmer führt, in dem die Gespräche und Übungen stattfinden. Sie muss also auch eben erst gekommen sein, denkt er. Die Doppelbelegung ist in Sebastians Alter. Sie ist männlich gekleidet, ihre Gesichtszüge sind verhärmt und ihre Haut fahl. Sie geht bestimmt nicht gerne raus. Außerdem sieht sie so aus, als wäre sie bereits seit vielen Jahren auf eine Therapie angewiesen. Die Klienten, denen er sonst hier begegnet, haben meistens eine offene Art und geben ihm sogar mit einem Lächeln zu verstehen, dass sie nun Verbündete seien, da sie nun voneinander wissen, dass sie eine Therapie machen. Aber die Frau, die sich jetzt gegen das Sideboard lehnt, wirkt verschlossen und abweisend. Sebastian fühlt sich unwohl. Er mag es so gar nicht, wenn er in ein Spannungsfeld hinein manövriert wird, das nicht wirklich etwas mit ihm zu tun hat. Seine Therapeutin sagt: »Ich hole mal meinen Kalender!« und geht zum Schreibtisch. Sebastian wirft einen Blick auf die Haare der Frau. Sie sind zerzaust und wirken borstig, fast schon stachelig grob. Es sieht so aus, als würde die Frau sie gerne so tragen, damit jeder verstehen kann, wie es in ihrem Kopf zugeht. Die Therapeutin kommt zurück, blättert in ihrem Kalender, lässt ihn aufgeschlagen in der Hand liegen und sagt: »Tut mir wirklich leid, aber ihr Termin ist erst nächste Woche!« Die Frau stöhnt und sagt: »Ich habe mir das aber anders notiert!«. Die Therapeutin antwortet, sie wisse wirklich nicht, wie es zu diesem Missverständnis kommen konnte. Irgendwie sei da gerade der Wurm drin. Letzte Woche habe sie im Kalender gestanden und sei nicht erschienen und diese Woche stehe sie nicht im Kalender und tauche trotzdem auf! Sebastian liebt schnelle Lösungen und wenn er jetzt die Stunde einfach der Frau überließe, wäre das Problem ruckzuck gelöst. Aus die Maus. Er könnte gehen und mit seinem Geld etwas anderes machen. Wild Kuchen essen und eine Flasche Crémant ausgeben. Sebastian denkt, ich werde jetzt einfach ein Gentleman sein, der die Situation rettet. Er mag es, wenn Menschen höflich und zuvorkommend sind. Bevor er jedoch etwas sagen kann, spricht seine Therapeutin schon wieder: »Nachdem Sie letzte Woche nicht erschienen sind, habe ich Sie doch angerufen und Ihnen mitgeteilt, dass ihr nächster Termin erst wieder in zwei Wochen ist! Kommt Ihnen das nicht doch irgendwie bekannt vor?« Die Frau schüttelt den Kopf. Die Haare bleiben dabei ohne Schwung. Sebastian erträgt es nicht, dass die Frau offenbar schon zum zweiten Mal einen Fehler gemacht hat, an den sie sich nicht erinnert. Außerdem müsste sie jetzt nochmal eine Woche warten um ihren Kummer los zu werden. Den Kummer, der ihr so ins Gesicht geschrieben steht. Die Frau sieht zu Sebastian hinüber. Zum ersten Mal. Direkt in seine Augen. Ihre Blicke sind wie die von jungen Kätzchen, die mit ihren kleinen Zungen Hände lecken möchten. Sebastians Mitgefühl schnellt in die Höhe. Dabei hat er doch schon längst beschlossen, dass es für ihn kein Problem ist, auf seine Stunde zu verzichten. Sebastian überlegt, wie er sich jetzt am besten einmischt. Soll er den Finger heben oder sich räuspern? In seinem Kopf taucht plötzlich ein Bild auf. Es ist ein Foto von ihm. Eine Nahaufnahme von seinem Gesicht. Es wurde mal für einen Familienkalender gemacht, der dann seiner Mutter geschenkt wurde. Darauf lächelt er gutmütig. Darunter hatte einer seiner Neffen mit einem schwarzen Edding einen Daumen hingekritzelt, der nach unten zeigt. Ist er zu nett? Nun wird ihm mulmig und ganz anders zumute. Geht es jetzt nicht vielleicht darum, auszuhalten, dass er gerade an erster Stelle steht und das anzunehmen was ihm zusteht. Sebastian schnauft. Er packt seinen Mut am Kragen, zieht seine Schuhe aus und anschließend ganz langsam seine Jacke. Er hängt sie an den Garderobenständer und kehrt dabei der Frau bewusst den Rücken zu.

 

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