Kategorie: Zweiundzwanzigstes Set
Blitzlicht # 24 (Zu einem Lächeln kommen…)
Blitzlicht # 24
Heute wird Joana ins Restaurant gehen. Dabei geht es ihr nicht darum, ein warmes Essen zu bekommen. Es geht ihr vielmehr darum, bedient zu werden. Denn Sie möchte zu einem Lächeln kommen. Einem Lächeln der Dankbarkeit, weil jemand etwas für sie tut.
Alltag # 60 ( Eiskaffee schmeckt nicht…)
Alltag # 60
Marie saß in einem Café in einer Gegend, die sie nicht besonders mochte. Sie mochte die hier vorherrschenden Leute nicht. Schicke Klamotten, schicke Tattoos, schick angezogene Kinder, schicke Fahrräder. Aber gleich wieder nach Hause fahren wollte sie auch nicht. Sie hatte vorgehabt, sich Haarseife zu kaufen. Dann hatte der Laden aber schon zu gehabt, der laut Google Maps noch offen hatte. Der Kellner stellte Marie einen Eiskaffee hin. Die Sahne war so hoch aufgetürmt, dass sie den Kaffee im Glas nicht umrühren konnte. Marie griff nach dem Löffel und schaufelte sich etwas davon in den Mund. Auf der Zunge angekommen fiel sie jedoch sofort zusammen. Sprühsahne hinterließ immer das Gefühl, man würde aufgeschäumte Luft mit etwas Fett vermischt zu sich nehmen. Marie legte den langstieligen Löffel zurück auf den Unterteller, stülpte ihre Lippen über den Strohhalm, zog daran und ließ ihn dann aber schnell wieder los. Der Kaffee schmeckte verwässert. Sie drehte den Eisbecher um die eigene Achse und sah, dass er mit Eiswürfeln vollgestopft war. Sie fischte fünf große Quader heraus und suchte anschließend nach der Kugel Vanilleeis. Die hatte sich aber schon aufgelöst. Marie stöhnte. Sie wusste nicht, wie sie jetzt darüber hinwegkommen sollte, dass alles nicht schmeckte und trotzdem sieben Euro kostete. Sie schob das Glas weg und überlegte die Zeche zu prellen. Sie könnte die sieben Euro dem osteuropäischen Mann geben, der immer auf der Brücke saß, die vor der S-Bahnstation lag. Und der dort altmodisch klingende Lieder sang. Sie vermutete bulgarische. Sie wärmten einem das Herz, auch wenn man den Text nicht verstand. Oder war es gerade deswegen? Ich will, dachte Marie, das friedliche Miteinander, das einem hier vorgegaukelt wird, bloßstellen.
Kultur # 43 (BKA = … )
Kultur # 43
BKA=
Besorgniserregenden Kummerspeck Abdecken
Beziehungsunfähigen Kerl Abgeben
Begehrenswerte Kuchenstücke Abschleppen
Beschissene Kunst Abhängen
Bestürzt Kundenberater Anbrüllen
Beschwipst Kleiderstange Abknutschen
Beruflich Kaninchen Auftauen
Besessen Kontostand Analysieren
Bekifft Kondome Aufziehen
Beschwingt Kühlschrank Anblinzeln
Bauer Kotzt Anstandslos
Blitzlicht # 25 (Sabrina Spülmaschine…)
Blitzlicht # 25
Wenn ich mit Sabrina spreche, komme ich mir immer wie eine Spülmaschine vor. Eine Spülmaschine darf man immer mit schmutzigem Geschirr vollstellen.
Blitzlicht # 26 (Maik stürzt mich…)
Blitzlicht # 26
Maik kann sich doch gar nicht mit allem selbst versorgen. Dafür braucht er doch mich! Oder etwa nicht! Ich bin doch diejenige, die ihn mit dem gewissen Etwas versorgt. Nur mit sich selbst kann er doch gar nicht so erfüllt sein. Es wird doch noch Gründe geben, die für mich sprechen, oder etwa nicht? Oder habe ich zu viel Sprechgeruch gemacht? Es wird doch nicht mein Sprechgeruch gewesen sein, der Maik von mir fort getrieben hat? Wieso muss ich auch immer Sprechgeruch irgendwo hinmachen! Ich komme mit Maik in einen Sättigungszustand. Und nicht nur mit meinen Lippen. Maik trägt mich. Maik stützt mich auch frei. Und jetzt? Stürzt jetzt die Stütze? Ich glaube es einfach nicht! Ich möchte nicht schon wieder „Du schon wieder!“ sein. Schaut Maik nun nur noch von mir weg? Ist das schon das totale Wegschauen? Was für ein Wegschauen ist das denn? Bewundernswert, Maiks Beweglichkeit beim Wegschauen. Ich schau halt immer hin. Das hat bestimmt auch was Gutes! Und jetzt? Stehe ich jetzt schon im Raum des Untergangs? Oder kommt dieser Raum erst noch auf mich zu? Was kann denn noch alles untergehen? Ich hab mich so! Diese Tür möchte ich wirklich nicht öffnen müssen. In dieses Stadium will ich nicht! Das steht auf keinem Plan. Auf welchem Plan würde das denn schon stehen wollen? Kann ich das nicht abgeben? Vielleicht braucht genau das irgend jemand! Ich könnte es versuchen! Macht Maik es sich zu leicht? Alles im Vorbeigehen mitnehmen. Das ist möglich! Und will er jetzt wirklich hinter keiner Tür mehr sein, zu der ich noch Zugang habe? Und was kommt dann? Werde ich dann nur noch Lebensmittel kaufen um das Dasein zu ertragen. Solange ich etwas verzehren kann ist alles zu ertragen. Das stimmt doch! Also weiter einkaufen. Einmal schaue ich noch auf das Display. Keine Antwort. Wird Maik ohne mich zusammenbrechen? Sieht nicht danach aus. Hm, dann. Ja dann. Was nehme ich dann stattdessen. Ein neue Sonnenbrille oder Hormone?
Abgehört # 20 (Komme in den Himmel…)
Abgehört # 20
Zwei Vierjährige auf einem Treppenabsatz sitzend.
»Weißt du, ob es nach dem Tod noch etwas gibt?«
»Das weiß ich nicht! Aber ich habe gehört, dass man in den Himmel kommen kann!«
»Das klingt gut, das probiere ich mal aus!«
Blitzlicht # 27 (Sonnenbrille tragen…)
Blitzlicht # 27
Joana schauen nur dann Männer hinterher, wenn sie eine Sonnenbrille trägt. Dann hat sich die Projektionsfläche, was man alles in ihr sehen könnte ausreichend vergrößert.
Alltag # 61 ( Traum Wasserdurchbruch…)
Alltag # 61
Marie hat gestern Nacht geträumt, dass sie aufgewacht ist, weil im Erdgeschoss ihres Hauses Wasser durchgebrochen ist. Ihre Wohnung liegt im dritten Stock, aber auf einmal konnte sie vom Bett aus bis nach unten sehen. Das Wasser schoß aus drei großen Rohren, der Durchmesser jedes Rohres betrug zwei Meter. Das Wasser strömte ununterbrochen aus den riesigen Metallzylindern. Das war beeindruckend. Überwältigend. Der Druck, mit dem das Wasser hervorschoß, löste in Marie Erleichterung aus. Immer wieder musste sie denken: Der Damm ist gebrochen. Der Damm ist gebrochen, ich muss nichts mehr festhalten. Endlich! Endlich! Endlich! Marie schwang ihre Beine aus dem Bett. Sie wollte so schnell wie möglich zu diesem Wasser. Sie musste es umarmen und wollte von ihm umspült werden. Sie schlüpfte in ihre Flip-Flops und öffnete die Wohnungstür. Vor der Tür stand ihre Mutter. Sie füllte die ganze Breite des Türstocks aus und sah sie grimmig an. Sie war eine Wärterin. Obwohl der Gesichtsausdruck Marie einschüchterte, wollte sie dennoch versuchen, sich an ihrer Mutter vorbei zu drücken. Sie rührte sich aber nicht vom Fleck. Verzweiflung überfiel Marie. Da trat aus ihrer Mutter, wie bei einem Reklameclip, eine neblige Gestalt heraus, ein Double. Das Double lächelte Marie freundlich und verständnisvoll an, hatte aber keinen Körper, stand nur da wie ein Geist, der noch zu keiner Materie gekommen ist. Das freundliche Double versteckte sich hinter ihrer Mutter. Und die Mutter mit ihrem Materiekörper stand einfach nur weiter da und versperrte Marie den Weg. Der Mutterkörper war so unbeweglich wie ein Felsblock. Marie hatte nicht die Kraft, sie umzuwerfen. Als sie das realisierte, wachte sie auf.
Blitzlicht # 28 (Paar Monate Leben hergeben…)
Blitzlicht # 28
Ich wäre bereit ein paar Monate meines Lebens herzugeben, damit die Erde sich schneller erholen kann.
Kultur # 44 (Sturztrinken = … )
Kultur # 44
»Sturztrinken« = Sich solange Alkohol einflößen bis man umfällt. Ich würde mich sofort bereit erklären, jedem oder jeder einen Kinnhaken zu verpassen, damit er oder sie zu Boden geht. Aber ich nehme an, sie wollen keine Schmerzen spüren. Nur die Ohnmacht.
Lebensentwürfe # 18( Sandra und Erdbeeren)
Lebensentwürfe # 18
Marie passt auf, dass ihr beim Gehen die zwei großen Löffel nicht aus den vollen Schüsseln kippen. Sie ist mit ihrem Ergebnis zufrieden. Ein Kilo Erdbeeren gewaschen, die Strünke entfernt, geviertelt, einen ganzen Becher Sahne geschlagen, Zucker hinzugefügt und verteilt. Wenn Sandra sagt: »Das schmeckt mir!«, kann Marie an der Art und Weise, wie Sandra das »m« schwingen lässt erkennen, welchen Genuss das Essen noch bei ihr auslöst. Tragen sich die Schallwellen, wie die Wellen eines ins Wasser geworfenen Steins, weit in den Raum hinein, bis über Maries Ohren hinaus, bedeutet das einen hohen Genussfaktor. Ist das »m« aber auch noch bis zum Nachbargrundstück zu hören, ergibt das ganze hundert von hundert Punkten. Marie sieht den Birnbaum an, der auf dem Nachbargrundstück in voller Blüte steht. Er trägt so viele Blüten, dass die grünen Blätter darunter nicht mehr zu sehen sind. Es sieht fast so aus, als würde er ein Kleid aus Zuckerwatte tragen. „Ganz in Weiß“, denkt Marie, und erinnert sich wieder an das Lied von Roy Black. „Es gibt nichts mehr was uns beide trennen kann“. Zum Birnbaum passt das Lied nicht, denkt Marie, und zu Sandra noch viel weniger. Marie geht weiter und erreicht den großen überdachten Stall mit den frei laufenden Hühnern. Noch ein paar Schritte und ich bin wieder bei ihr, denkt sie. Aber dass auch dieser Wunsch nun einer so offensichtlichen Endlichkeit unterworfen ist, bereitet ihr Schluckbeschwerden. Sie sucht nach einem anderen Gedanken. Ihr fällt nur ein: Ich mag sie so sehr. Aber das erleichtert ihr nichts.
Sie sieht beim Weitergehen nach unten und nimmt wahr, dass das Gras bei jedem ihrer Schritte nieder getreten wird. Es hat keine andere Möglichkeit, als das zuzulassen. Trotzdem wird es davon nicht zerstört, denkt Marie. Aber Sandra wird gerade zerstört und wir sprechen schon den ganzen Vormittag darüber. Wir wissen nicht woran genau das liegt. Doch die Neugierde, das Rätsel zu lösen, lässt nicht nach. Weder bei ihr noch bei mir. Als könnte einem ein tieferes Verständnis der Zusammenhänge etwas leichter machen. Einem alles leichter machen. Auch das Sterben.
Marie lächelt Sandra an und überreicht ihr die schönere der beiden Keramikschalen, die weiße. Im Inneren trägt sie blaue Linien, die wegen der Erdbeeren gerade nicht zu sehen sind. Im Zusammenlaufen ergeben sie Blütenblätter. Als Lüftelmalerei würde Marie diese Technik gern bezeichnen, auch wenn sie weiß, dass das nicht die richtige Bezeichnung ist. Aber für Sandra. Die zartblauen Blüten wirken leicht, schwebend, fast durchsichtig, so wie sie. Ein Polster hat sie im Rücken und ein weiteres unter dem Steißbein. Sonst wäre das Liegen nicht mehr erträglich. Die Knochen zeichnen sich schon ab. Ihre Haare frisiert sie nicht mehr. Sich das sparen zu können, erleichtert sie. Als wäre das Frisieren immer schon eine Last gewesen. Eine auf die man jetzt verzichten kann. Gestern hob sie ein Haarbüschel hoch, hielt es Marie entgegen, und sagte stolz: »Das lässt sich jetzt nicht mehr auflösen!« Marie hatte das streichholzschachtelgroße verfilzte Knäuel betrachtet und war erschrocken. Nicht, weil sie darin eine Vernachlässigung gesehen hätte, sondern weil sie nicht wusste, ob Sandra es absichtlich so formuliert hatte. Da war nun diese Sache. Erst vor ein paar Wochen hat sie davon erfahren. Und der Schreck darüber lässt nicht nach. Weder bei Sandra noch bei mir, denkt Marie.
Sandra hält die Schüssel mit beiden Händen: »Ich liebe Erdbeeren mit Sahne«. Sie stellt sie in ihren Schoß und strahlt hinein. Marie schleift ihren Liegestuhl über den Rasen, näher zu Sandra hin. Der Abstand von Liegestuhl zu Liegestuhl soll ihr das Sprechen und Hören nicht unnötig erschweren. Marie setzt sich, greift nach ihrer Schale, die sie auf dem Rasen zwischengeparkt hatte, und schaut zu Sandra hinüber. Sandra sagt: »Hau rein!« Sie trägt die orange Jacke, die Marie so an ihr mag. Sie ist aus Daunen. Man sieht nicht, wie ihr Körper darunter zergeht. Wegschmilzt. Das Fett immer zuerst. Danach die Muskeln. Auch das ist mir ein Rätsel, denkt Marie, wie gut Kleidung als Tarnung eingesetzt werden kann. Für alles Mögliche. Mit der Jacke sieht Sandra normal aus. So wie immer.
Sandras Liegestuhl steht unter dem Apfelbaum. Auch er blüht. Seine Blüten strahlen. Sandras Gesicht auch. Obwohl das in ihrem Stadium absurd erscheint. Alles scheint absurd. Vor allem das Wissen, es könnte jetzt schon das letzte Mal sein, dass wir zusammen tiefrote Erdbeeren mit weißer Sahne essen.