Lebensentwürfe # 1 (Sebastians Schreibtisch Regentropfen…)

Lebensentwürfe # 1

Sebastians Schreibtisch steht neben dem Fenster. Regentropfen prasseln rhythmisch gegen das Fenster. Sebastian dreht den Kopf vom Computerbildschirm weg. Der Blick nach draußen ist verschwommen. Er fokussiert einen Tropfen auf der Glasscheibe. Einen, der eben erst gelandet ist. Diesem sieht er dabei zu, wie er nach unten läuft, wie er vor seinen Augen zerinnt. Schnell wird der Körper des Tropfens weniger und weniger und schon ist er weg. Existiert nicht mehr. Gehört nur noch der alles verschlingenden Vergangenheit an. Sebastian sagt sich mit ruhigem Gewissen, dass jeder Regentropfen einer Schnelllebigkeit unterworfen ist. Ja, ihr sogar völlig ausgeliefert ist. Mit Haut und Haar. Mit Regenhaut und Tropffrisur. Es ist noch nicht lange her, da befand sich der Tropfen noch in einer Wolke. Wohnte irgendwo am Himmel, trieb mit der Wolke über Berge, Felder und Wälder bis der entscheidende Punkt kam. Er wurde aus der Wolke gedrückt. Wurde zum ersten Mal Geboren. Hatte im freien Fall einen eigenen Körper, einen, der nur ihm gehörte. Und dann landete er auf einer Glasscheibe, rutschte auf sich selbst ab, und schon ist sein Dasein vorbei. Kurz nach dem Aufprall auf einer Fensterscheibe ist schon nichts mehr von ihm übrig, ist keine Spur mehr von ihm auszumachen. Der Lebenslauf eines einzelnen Tropfens ist wirklich kaum der Rede wert, denkt sich Sebastian, aber ein paar Gedanken wollte ich dennoch darüber verlieren.

 

Lebensentwürfe # 2 (Das Café – Farben der Einsamkeit…)

Lebensentwürfe # 2

Marie verlangsamt ihren Schritt. Auf dem breiten Gehsteig ist ein kleiner schmaler Streifen bestuhlt. Runde Tische aus Holz wechseln sich mit gepolsterten Hockern ab. Obwohl Marie weiß, dass die Hocker nicht bequem sind, sitzt sie lieber hier draußen. Sie mag es, wenn Passanten direkt vor ihrer Nase vorbeilaufen und wenn sie nicht von der Lounge Musik beschallt wird, die meistens im Innenraum des Cafés läuft. Marie schiebt den Aschenbecher und den Zuckerstreuer an den Rand des Tisches, holt die Tageszeitung aus ihrer Tasche, schlägt das Feuilleton auf, entdeckt auf der ersten Seite nichts, was sie anspricht, blättert weiter, beginnt einen Artikel über einen deutschen Komponisten zu lesen und taucht tiefer in das Thema ein. Am Rand ihres Tisches tauchen zwei Beine auf. Sie werfen einen Schatten auf ihre Zeitung. Marie blickt hoch. Vor ihr steht ein Mann in einem sandfarbenen Leinensakko. Sein Kopf ist nach unten gebeugt. Er fokussiert das Bild auf ihrer Tageszeitung und sagt: »Ich kenne den Mann auf diesem Foto. Wie heißt der doch gleich wieder?« »Willy Rosen«, entgegnet Marie. Der Mann wiederholt für sich den Namen und murmelt dann etwas vor sich hin. Marie versteht nicht, was er sagt und fragt nach. Der Mann kneift die Augenbrauen zusammen, spricht klarer und lässt Marie wissen, dass dieser Willy Rosen ein guter Klavierspieler gewesen sei und dass er selbst auch ganz gut Klavier spielen könne. Gerne würde er ihr einmal etwas vorspielen. Marie hört gerne Menschen beim Klavierspielen zu. Den Mann lässt sie das aber nicht wissen. Er streckt seinen Arm aus und sagt, dass er gleich dort vorne wohne. Einfach nur gerade aus, Hausnummer neunundzwanzig, Seitenflügel, ganz oben. Marie wirft einen Blick auf seine Schuhe. Braune Lederschuhe. Schuhe, die seit vielen Jahren getragen werden und die irgendwann mal teuer waren. Die Schnürsenkel sind farblich abgestimmt, passend zum Leder. Der Mann sagt, dass sie wirklich jederzeit bei ihm klingeln könne. Er nennt seinen Vor- und Nachnamen und lässt sie wissen, dass er oft zu Hause sei und immer bereit, ihr ein Stück auf dem Klavier vorzuspielen. Ob tagsüber oder abends, das sei ihm völlig egal. Marie wendet ihren Blick von seinem Gesicht ab, fixiert den Zuckerstreuer und überlegt, ob es sehr unhöflich ist, wenn sie den Namen gleich wieder vergisst. Vielleicht wäre es netter, sich den Namen wenigstens zwei Tage lang zu merken. Der dunkle Fleck auf der Tageszeitung verschwindet. Marie hört sich entfernende Schritte. Sie hebt ihren Kopf und sieht dem Mann noch nach. Sieht die Knitterfalten auf seinem Leinensakko. Sie wirken wie kleine Risse. Risse, die noch tiefer werden können. Marie schaut zurück auf die Tageszeitung, schlägt die nächste Seite auf und denkt: Einsamkeit hat verschiedene Schattierungen, einige kenne ich, andere nicht. Die, die zu dem Mann gehört, kommt ihr um einiges dunkler vor als ihre eigene.