Lebensentwürfe # 48
Wiederholt Schlechtes über eine Person denken. Nur, um endlich von der Person loszukommen. Das sind Herbstfreundschaften.
Wiederholt Schlechtes über eine Person denken. Nur, um endlich von der Person loszukommen. Das sind Herbstfreundschaften.
Eine Frau packt ihren Koffer und verlässt ihre Kinder. Sie versucht nicht daran zu denken, was sie davon halten. Ein Junge mag die Mütze auf seinem Kopf nicht und wirft sie in die Pfütze. Ein Mann steigt aus dem Bett. Er ist allein, nackt und denkt, er sollte die Bettwäsche wieder einmal waschen. Ein Spatz pickt einen großen Croissantbrösel vom Teller und bringt ihn fliegend in Sicherheit. Eine Bäckereifachverkäuferin legt das Wechselgeld auf den Tresen, wünscht dem Mann einen guten Tag und denkt, dass er ihn nicht verdient hat. Ein Schnucki sagt einem anderen Schnucki nicht alles. Eine Architektin meldet sich nicht mehr bei ihrer Schwester. Dass die Schwester nicht nachfragt wieso, ärgert sie ungemein. An einem Montag ist das Maß dessen, was man erträgt schon vor dem Aufstehen erreicht. Eine Frau sagt: »Ich will dich« und legt ihre Hand auf den Brustkorb eines Mannes. Ein Vater sagt zu seinem Kind: »Das verstehst du nicht!« Das Kind sagt: »Doch!«. Der Vater möchte aber immer noch nichts verständlich machen. Ein Mann dreht den Kopf weg, er will seinen Mann zur Begrüßung nicht ansehen. Für einen Augenkontakt bräuchte er das Gefühl, zugewandt zu sein, und das kann er gerade nicht aufbringen. Ein Sohn benutzt das Auto des Vaters und fährt es gegen einen Baum. Eine Rentnerin entleert ihre Blase auf dem Sessel. Sie hat vergessen, dass es dafür Toiletten gibt. Eine Geliebte sagt immer wieder, sie habe keine Zeit. Und die Zeit sagt nichts. Nichts davon kümmert sie. Sie hat kein Ende. Nur die Ereignisse haben eines. Sie sind begrenzt.
Marie zieht die untere Schublade der Kommode auf. Sie sucht nach der Tragetasche aus Baumwolle. In der Schublade wäre alles übersichtlicher, wenn sie sich die Mühe machen würde, die Gebrauchsgegenstände ordentlich zu sortieren. Sie stopft aber lieber alles hinein. Das bereitet ihr Freude. Anpassungshaltungen einnehmen zu müssen, liegt ihr nicht. Sie hatte zu viele davon. Marie sieht Schals, Mützen, Regenschirme, aufsteckbare Vorder- und Rücklichter für das Fahrrad, einzelne Gummi-Expander und dann den schmalen Träger einer Baumwolltasche. Mit einer Hand zieht sie daran und mit der anderen passt sie auf, dass von der übervollen Schublade nichts auf den Boden fällt. Marie hat verschiedene Brotaufstriche gekauft und drei Packungen Schokoküsse. Diese Dinge will sie mit der Baumwolltasche transportieren. Sie befüllt den Beutel und stellt ihn schon einmal in den Flur. Heute gibt es ein rauschendes Fest. Da will sie hin. Den Termin hat sie schon vor einer Woche in ihren Kalender eingetragen. Sie mag das Gefühl, am Wochenende verplant zu sein. Vor einem Jahr war sie auch schon auf dem Fest. Matthias hat sich vor mehreren Jahren in einem kleinen Dorf ein Sommerhaus gekauft und veranstaltet seitdem jeden Sommer ein Fest. Marie hat die Eindrücke vom letzten Jahr noch vor Augen. Bunte Girlanden hangelten sich von Baum zu Baum. Margeriten und wilde Rosen blühten. Aufgeklappte Bierbänke und Holztische standen unter Apfelbäumen. Schwarze Plastikwannen waren im Schuppen und mit Eiswürfel, Bier- und Weinflaschen befüllt. Marie hatte sich wohlgefühlt. Das gelingt ihr nicht immer. Manchmal kann sie mit Festen nichts anfangen. Weder mit den Menschen, die dort herumstehen noch mit sich selbst. Marie greift nach einer dünnen Jacke und stopft sie ebenfalls in den Beutel. Vielleicht wird es auf dem Land doch kühler sein, als sie jetzt vermutet. Die Abfahrtzeit des Zuges hat sie im Kopf. Gleich nach dem Aufwachen hat sie sich eine passende Zeit ausgesucht. Sie geht ins Bad, putzt sich die Zähne, trägt Lippenstift auf und tupft sich davon auch noch etwas auf die Wangen. Sie freut sich schon auf Menschen, die dicht beieinander stehen werden, weil sie sich mögen und auf das Gefühl, nichts erfüllen zu müssen. Sich einfach dem Abend ergeben zu können. Den Gesprächen. Den kleinen Berührungen, die bei den Begrüßungen stattfinden. Marie schlüpft in die Schuhe, bindet sich die Schnürsenkel zu und sieht auf die Uhr. Sie hat immer noch genügend Zeit, bevor sie los muss. Sie wollte absichtlich so früh fertig sein. Das erhöht ihre Chancen durch die Tür zu kommen. Denn es kann passieren, dass sie vor der Tür stehenbleibt und nicht weiterkommt. Als Jugendliche kam sie oft nur bis zur Haustür. Denn ihre Mutter hatte die Hoheitsgewalt über den Schlüssel. Das hieß, die Haustür blieb zu, wenn ihre Mutter das so wollte. Und sie wollte das oft. Und dann war Maries Welt an der Haustür schon zu Ende. Dann gab es kein: in die große weite Welt hinein. Kein sommerliches Badengehen, kein Freundinnen besuchen gehen, kein Treffen in der Eisdiele. Das Gefühl nicht durch die Tür zu kommen, steckt ihr immer noch in den Knochen. Die Angst, ihre Welt könnte auch heute schon wieder an der Haustür zu Ende sein. Das Gefühl, sie müsse sich zurückhalten. Marie würgt ihre Gedanken ab und sagt sich, heute wird mir der Schritt durch die Tür ganz einfach vorkommen. So einfach, wie wenn man im Buch eine Seite umschlägt. Da überlegt man auch nicht groß, wie man das macht, man macht es einfach. Es läuft ganz automatisch ab. Nichts daran ist unangenehm aufgeladen. Und genauso wird es mir heute mit der Tür gehen. Heute werde ich einfach hingehen, sie öffnen und durchgehen. Das steht zumindest auf meiner Wunschliste ganz oben.
Sebastian ist gut im Ignorieren. Sein Smartphone hat ihn schon vor ewiger Zeit darauf hingewiesen, dass ein Softwareupdate zur Verfügung steht. Er aber geht dieser Information aus dem Weg. Tut jeden Tag einfach so, als würde er den roten Punkt in der oberen rechten Ecke nicht sehen. Er kann einfach jahrelang genau das nicht tun, was das Gerät von ihm verlangt. Aber inzwischen bricht sein Smartphone selbstständig Gespräche ab, schließt unerwartet geöffnete Apps oder öffnet sie nicht mehr. Deshalb hat er sich für heute, Samstag Vormittag, vorgenommen, nicht die Wohnung sauber zu machen, sondern das Smartphone auf Vordermann zu bringen. Neben ihm steht eine Schale Cantuccini und eine Tasse Cappuccino. Er liegt auf dem Sofa, hat die Beine von sich gestreckt und hält das Telefon startklar in der Hand. Er drückt auf Einstellungen, dann auf Softwareupdate und erfährt, dass der Speicherplatz für das Softwareupdate nicht reicht. Er weiß, dass er mit diesem Telefon schon an die zehntausend Aufnahmen gemacht hat. In den letzten acht Jahren, so lange hat er das Telefon schon, haben sich also bestimmt viele Aufnahmen angesammelt, auf die er gut verzichten kann. Er greift nach einem Cantuccini, tunkt es ein und legt los. Das Löschen geht ihm leicht von der Hand. Fotos von Zugabfahrtszeiten, Screenshots von Kinofilmen, die er sich gerne angesehen hätte, landen schnell im Papierkorb. Auch die ewig gleich langweiligen Fotos von Bäumen, die er während unterschiedlicher Spaziergänge gemacht hatte. Ein Baum in Blüte. Noch ein Baum in Blüte. Ein Busch in Blüte. Eine Ente am Ufer. Ein See mit der Spieglung eines Baums. Ein Schwan. Sebastian drückt auf löschen, löschen, löschen. An nichts davon möchte er noch einmal erinnert werden. Erfreut macht er weiter. Diese Art von Lüftung tut ihm gut. Es fühlt sich an wie ein Ausmisten. Vollgestopfte Regale leeren sich wie von selbst. Vergnügt löscht er massenweise Screenshots von Wanderschuhen, die in eine engere Auswahl gekommen wären, wenn er sich die Fotos noch einmal angeschaut hätte. Er löscht ein Foto von einer Markensonnenbrille und hält inne. Vor ihm ist ein Foto von Annika. Er hat schon lange nicht mehr an sie gedacht. Nun ist die ganze Geschichte wieder da. Schlagartig da. Ihr Gesicht füllt nicht nur den Bildschirm aus, sondern auch wieder sein Herz. Er kann Annika spüren, sie fast schon riechen. Er hat sie immer gerne gerochen. Sie roch nach Wasser und Haut. Nie nach Parfüm. Künstliche Gerüche beunruhigen ihn meistens. Vor allem am Hals oder im Gesicht. Da bekommt er schnell das Gefühl, jemand möchte etwas übertünchen oder nicht preisgeben. Wozu, fragt er sich, sind missglückte Liebesgeschichten gut, wenn sie doch nur wieder zu Ende gehen? Er sieht sich das nächste Foto an. Er hält sie im Arm. Auch bei ihnen war das so. Nicht sie hält ihn im Arm, sondern er sie. Auf dem nächsten Foto grinsen sie beide um die Wette. Ihre Beine und ihre kurzen Hosen sind voller Schlamm. Damals lebte Annika in Stettin. Ob sie das heute noch tut, weiß er nicht. Damals hatte er sie für ein verlängertes Wochenende besucht. An einem dieser Nachmittage gab es Starkregen. Zuerst wollten sie gleich rausgehen. Einfach mal wieder von oben bis unten nass werden. Spüren, wie Haare Wasser aufsaugen. Wie sich all ihre Kleidungstücke bis hin zur Unterhose ein bisschen so fühlen können wie trockenes Brot, dass in eine Suppe getunkt wird. Dann entschieden sie aber, mit dem Rausgehen doch zu warten. Wegen ihrer Leidenschaft für Gerüche. Sie wollten all die Sommerdüfte erschnuppern, die der Regen mit seinen Tropfen auf Blumen und Gewächse freischüttelt. Der Himmel hatte in so kurzer Zeit so viel Wasser entlassen, dass der Boden die Feuchtigkeit nicht vollständig hat aufnehmen können. Auf einem leicht abwärts führenden Weg sind sie beide hintereinander ausgerutscht und im Schlamm gelandet. Er wischt weiter. Das nächste Foto zeigt Annika neben einer blauen Vespa. Das war ein paar Wochen später. Annika ist braungebrannt. Sie haben beide viel Sonne getankt. Fuhren an Strände und an Seen. Während der Fahrt hatte sie ihre Oberschenkel immer fest gegen seine gepresst. Er wischt weiter. Ein Selfie mit Fisch. Das war ein Monat später. Er hat auf dem Wochenmarkt Fisch gekauft und hält ihn zusammen mit seinem Gesicht vor die Kamera. Der Fisch war für das Geburtstagsessen gedacht. Er legt das Telefon zur Seite. Mehr Fotos von dieser Zeit erträgt er jetzt nicht. Damals hat er sich gewünscht, seinen Geburtstag bei und mit ihr zu feiern. Und dann wollte sie wissen, auf welcher Straße er sich gerade befindet. Er war unterwegs, um Lebensmittel für das Geburtstagsessen zu kaufen, das wusste sie. Sie hatte ihn nur angerufen, um ihn zu fragen, wo er jetzt gerade sei. Einfach so. Ihm kam das albern vor, da er nicht in der Nähe eines Straßenschilds stand, kein polnisch konnte, und sich von ihr auch nicht kontrollieren lassen wollte. Er hatte erst vor zehn Minuten ihr Haus verlassen. Also hat er es ihr nicht gesagt. Danach weigerte sie sich, mit ihm seinen Geburtstag zu feiern, ließ ihn allein in ihrer Wohnung zurück und fuhr zu ihrer Schwester. Ihre Geschenke hatte sie ihm dagelassen, ihre Zeit und ihren Körper nicht. Damals war er zornig. Fuhr nach Hause und warf dann gleich die Seife weg, die sie ihm zum Geburtstag geschenkt und auch die Socken, die sie für ihn gestrickt hatte. Er stöhnt auf. Töne in den Raum hinein zu entlassen hilft ihm nicht nur beim Sex. Jetzt hilft es ihm auch dabei, seinen Unmut in den Raum zu tragen. Wenigstens kommen jetzt Laute heraus, denkt er. Die, die er damals nicht herausbekommen hat. Er hatte den ganzen Unmut einfach für sich behalten. Immer noch glaubt er daran, dass ihm etwas erspart bleibt, wenn er nichts tut. Er hat einfach seine Stacheln aufgestellt und ist dabei geblieben. Ist fünf Jahre lang still geblieben. Komplett verstummt. Hat ihr gegenüber keinen Ton mehr von sich gegeben. Wieder ein Abbruch, den er nicht hat überbrücken können. Sebastian bemerkt, dass noch mehr Töne aus ihm heraus wollen. Er lässt sie zu. Es sind dunkle Töne. Sie erschrecken ihn. Da ist etwas, das aus seiner Seele will. Er nimmt das Telefon doch wieder in die Hand und versucht die Aufnahmen von Annika zu löschen. Er schafft es nicht. Nicht jetzt. Er legt das Telefon wieder zur Seite, greift nach dem Henkel seiner Kaffeetasse und nimmt einen Schluck. Heute wird er mit dem Löschen nicht weiterkommen, das spürt er. Auch andere Fotos mag er nun nicht mehr löschen. Das Löschen hat jetzt eine andere Bedeutung bekommen. Es kommt ihm vor, als würde er seinem Leben dadurch noch mehr Löcher zufügen. Das will er nicht. Er versucht seine Schultern zu entspannen, schaut aus dem Fenster und betrachtet den großen Baum. Jedes Jahr treibt er aufs Neue Blätter aus sich heraus. Lauter kleine Geburten sind das. Hunderte. Tausende. Zehntausende. Sebastian lässt seinen Blick bei den Blättern verweilen. Der Anblick der Blätter beruhigt ihn. Sie schenken ihm etwas. Zeigen ihm, was sie können. Sie können Löcher füllen. Luftlöcher. Jedes Jahr aufs Neue. Schön sieht das aus. Nun greift Sebastian doch noch einmal nach dem Telefon und schießt ein paar Fotos von dem Baum.
Marie hat schon oft versucht, sich von ihrer Mutter zu trennen. Gelungen ist ihr das bisher noch nicht. Als ihre Mutter noch einen Körper hatte – Marie ist überzeugt, dass es ihre Mutter auch noch ohne Körper gibt – kam sie mit diesem Körper öfter Mal angereist, um Marie in der Großstadt zu besuchen. Stand der Mutterkörper dann vor ihrer Tür, ließ Marie ihn jedesmal herein. Deshalb steht auch immer noch auf ihrem Wunschzettel: mehr Distanz zur Mutter haben. Marie hat sich nie an den Kontakt mit ihrer Mutter gewöhnen können. Ihre Mutter hatte die Fähigkeit, Dinge gut klarzustellen. Da kannte ihre Mutter kein Pardon. Wenn es sein musste, hat sie zum Beispiel einfach mal so Maries Lieblingskleidungsstücke verbrannt, damit die Machtverhältnisse wieder eindeutig sind. Marie war dabei, als ihre Mutter starb. Sie hat mit eigenen Augen gesehen, wie leblos der Mutterkörper geworden ist. Seit der Körper ihrer Mutter tot ist, kann Marie mit Sicherheit sagen, dass der Spuk vorbei ist, aber das Mutterprogramm läuft auch ohne Updates weiter. Früher fühlte sich Marie in Anwesenheit ihrer Mutter verloren. Jetzt fühlt sie sich in der Welt verloren. Letzte Woche hat Maries Therapeutin zu ihr gesagt, Marie solle eine Übung machen. Die Therapeutin unterstützt Marie in dem Wunsch, Prägungen abzuschütteln. Marie soll sich hinlegen, die Augen schließen und sich vorstellen, wie sie ihre Mutter los wird. Dabei dürfe sie nichts unversucht lassen. Sie könne Waffen verwenden, Zauberer herbeiwünschen, Menschen bestechen. Alles was sich gut anfühle, dürfe sie tun. Es gäbe keine Schuld. Es ginge auch nicht um Moral. Nur darum, sich Erleichterung zu verschaffen. Marie hat zugestimmt, die Übung zu machen. Aber in den letzten Tagen war ihr nie danach. Heute ist es anders. Heute hat sie die nötige Kraft. Marie legt sich auf das Sofa, deckt sich zu, schließt die Augen und besorgt ihrer Mutter gleich mal eine andere Tochter. Noch besser: gleich mehrere andere Töchter. Ihre Mutter darf sie alle verschleißen. Und sobald sie verschliessen sind, bekommt sie neue. Aber ihre Mutter lässt sich nicht auf die anderen Töchter ein. Spielt das Spiel nicht mit. Energetisch tut sich nichts. Marie beschließt, dass ihre Mutter ab jetzt immer glücklich sein kann. Dass ihr nun alle Wünsche erfüllt werden, damit sie so glücklich wie noch nie sein kann. Marie spürt keine Veränderung. Nur, dass ihre Mutter auch nicht am Glücklichsein interessiert ist. Sie bleibt unglücklich. Marie schickt ihre Mutter zu Jesus, zu dem sie immer gebetet hat. Er soll ihre Mutter behandeln. Maries Mutter lässt Jesus Wirkmöglichkeiten nicht zu. Jesus kann nicht weiter helfen. Angestrengt überlegt Marie weiter. Sie hat eine weitere Idee. Sie lässt ihre Mutter schrumpfen, sie vor ihren Augen kleiner werden. Kleiner und kleiner und noch kleiner. Nun ist Maries Mutter ein Kirschkern. Marie atmet auf. Erleichterung tritt ein. Marie steckt die Mutter in die Hosentasche. Jetzt kann sie jeden Tag sehen, dass ihre Mutter nur ein geschrumpftes Etwas ist. Die Erleichterung bleibt nicht. Marie legt die Kirschkernmutter in eine Gefriertruhe. Aber das reicht auch nicht. Marie zaubert eine Maschine herbei. Der Kirschkern wird zu Staub zermalmt. Marie schüttet das Pulver in ein kleines Tütchen aus Pergamentpapier und wirft es ins Feuer. Marie atmet auf. Aber nicht für lange. Auch die Erleichterung bleibt nicht. Hat keinen dauerhaften Bestand. Marie beschließt abzuhauen. Die Erde zu verlassen. Sie will nicht mehr auf dem Planeten wohnen, auf dem auch ihre Mutter geboren worden ist. Marie schnippt sich mit den Fingern ein Raumfahrtzeug herbei. Marie möchte nicht alleine umziehen. Drei nette Wesen tauchen auf. Super starke Frauen, die kugelrund, weich und warm sind und nach Brot duften. Marie stellt zweihundert schwer bewaffnete Soldaten auf, die den Start sichern. Die Soldaten kontrollieren den Luftraum. Ihnen entgeht nichts. Mögliche Angriffe würden sie erkennen. Marie reicht das aber noch nicht. Sie legt den gesamten Flugverkehr lahm und schaltet dann auch noch den Strom ab. Sie möchte, dass es während ihrer Flucht auf der ganzen Welt keinen Strom gibt. Ihr Raumschiff soll nicht noch kurzfristig von Militärjets abgeschoßen werden können. Marie beschließt auch, dass ihre Mutter nie etwas über ihren neuen Heimatplaneten erfahren wird. Die Flucht gelingt. Marie erholt sich gut. Auf dem neuen Planeten gibt es schöne Moose, Tiere, Wälder, Flüsse und die drei Frauen, mit denen sie kuscheln und sich gut unterhalten kann. Aber nach einer gewissen Zeit spürt sie, dass ihre Mutter immer noch in ihren Zellen verankert ist. Dort einfach weiter wohnen geblieben ist. Immer noch gehören Maries Zellen nicht ausschließlich ihr. Zusätzlich erfährt Marie, dass ihre Mutter erneut inkarniert und auf der Suche nach Marie ist. Marie weiß, dass ihre Mutter durch die Zellen irgendwann eine Verbindung zu ihr herstellen kann. Egal wie weit Marie weg ist. Ihr altes Dilemma. Marie zaubert sich einen riesigen Magneten herbei. Er soll die Energie ihrer Mutter aus ihren Zellen ziehen. Und hinter dem Magneten wird sich ein schwarzes Loch befinden, dort wird die Mutterenergie hinein fallen und transformiert werden. Dann wird Marie auch von ihrer Mutter nicht mehr zu finden sein. Marie zaubert sich Schamanen herbei. Drei an der Zahl. Sie sollen sie bei dem Entzug begleiten. Den Schamanen macht der Prozess Angst. Sie halten das Vorhaben für zu gefährlich. Sie wissen nicht, ob Marie das, ohne Schaden zu nehmen, überleben kann. Sie wissen nicht, was genau dann aus Maries Zellen wird. Ob die Zellen noch ganz sein werden. Marie möchte die Übung abbrechen. Sie spürt eine große Erschöpfung und ein Verlangen nach Tee. Sie schlägt die Augen auf und streift sich die Haare aus dem Gesicht. Sie hat am Kopf geschwitzt. Eine Tasse Pfefferminztee mit Zitrone wird ihr jetzt gut tun. Etwas Harmloses, Gutmütiges.
Ich habe einen Tisch gebaut, der sich hinlegen kann, damit er nicht mehr stehenbleiben muss, um das aufrechtzuerhalten was ihm angeboten wird.
Festgetretene Hilfskonstruktion Nr. 2: Ich stehe auf dem Schlauch, der mich bewässern soll.
Ich bin es leid, immer wieder eine Haltung einnehmen zu müssen, die mich nicht hält.
Sebastians Namensschild wurde überklebt. Das neben seiner Wohnungstür. Er ist vor zwanzig Jahren hier eingezogen. Nicht, dass er explizit in diese Wohnung wollte, aber auf die Schnelle hatte er nichts anderes gefunden. Dass er so lange geblieben ist, erstaunt ihn heute noch. Nach dem Einzug hatte er seinen Nachnamen auf ein Stück Papier gekritzelt, es zurechtgeschnitten und neben die Wohnungstür geklebt. Mit Uhu auf ein dafür vorgefertigtes Brett, auf dem sich auch der Klingelknopf befindet. Sein Papierstreifen war ähnlich schmal wie die Spruchbänder der Fortune Cookies. Das mit dem langen dünnen Streifen hatte er absichtlich so gemacht. Er wollte einen Trick anwenden. Sich selbst auf einem Streifen eines Fortune Cookies sehen. Wenigstens für seine Augen sollte sein Name wie eine positive Prophezeiung aussehen. Er mochte seinen Nachnamen nicht. Es war ihm immer noch nicht recht, dass er den gleichen Namen trägt wie sein Vater. Es war wegen der Art des Vaters und der Geschichte die er mit ihm hat. Die Buchstaben hat er mit einem rotem Filzstift auf das Papier geschrieben, weil er vieles lieber mag, wenn es farbig ist. Auch seinen Namen fand er in rot erträglicher. Die Intensität des Rots blich über die Jahre aus, aber die einzelnen Buchstaben waren immer noch gut zu sehen. Der Klebstoff hielt auch durch. Aber dann geschah etwas. Vor ungefähr einem Jahr. Über Nacht. Als Sebastian eines morgens seine Wohnung verließ, musste er feststellen, dass sein Name auf einmal fünf mal so groß war, wie noch am Tag zuvor. Nun zeigte er sich in tiefstem Schwarz auf einem strahlend weißen Etikett. Auf einem sieben mal zehn Zentimeter großen selbstklebendem Stück Papier mit abgerundeten Ecken. Als Sebastian das sah, dachte er als erstes, die Hausverwaltung hätte das veranlasst. Dass sie sich im Hausflur mehr Vereinheitlichung wünscht. Dann ging er los, um alle anderen Schilder im Haus zu inspizieren. Er lief die Stockwerk hoch und runter und sah sich neben jeder Wohnungstür das dazugehörige Namensschild an. Aber nur seines war überklebt und hatte dieses große Format. Alle anderen wirkten unverändert und auch nicht wie frisch aus dem Drucker kommend. Sebastian empfand die neuen Buchstaben als zu aufdringlich. Das ganze Schild als zu pompös. Es passte ihm nicht, dass sein Name nun jedem so ins Auge sprang. Auch war er in bold ausgedruckt, was ihm auch nicht behagte. Dieses Hervorgehobene. Aber er ließ das Etikett an seinem Klingelbrett. Er dachte, dass sich in den nächsten Tagen klären würde, wie es dort hingekommen war. Aber es tauchten keine Hinweise auf. Nach zwei Wochen vergaß Sebastian die ganze Sache. Auch deswegen, weil er nicht mehr hinsah. Er wich den Großbuchstaben aus. Bis es rund ein Jahr später abends an seiner Tür klingelte. Sebastian erwartete niemanden und war sich nicht sicher, ob er öffnen sollte. Aber da er gerade nicht aus der Dusche kam oder in Unterwäsche war, entschied er sich die Tür zu öffnen. Manchmal benötigen Nachbarn etwas von ihm, fragen nach einer Zwiebel oder ob er für einen Abend einen Stuhl entbehren kann. Auch solche Nachbarn, die er vorher noch nie im Haus gesehen hatte. Als er die Tür öffnete, stand der Nachbar von oben vor ihm. Er kannte ihn kaum, erinnerte sich auch nicht an seinen Namen, nur daran, dass er schon mehrere Jahre hier wohnte und an seine in sich gekehrte Haltung. Sah er ihn im Treppenhaus, hielt er seinen Kopf gesenkt. Er stieg nur mit zu Boden gerichteten Augen die Treppen rauf oder runter. Sebastian grüßte ihn trotzdem. Obwohl er sich nie sicher war, ob der Nachbar das wollte. Dieser hob aber jedesmal seinen Kopf und grüßte zurück. Persönliches tauschten sie nie aus. Auch nichts Unverfängliches. Der Mann hatte meistens Kleidung an, die an das Militär erinnerte. Camouflage Hosen mit vielen Seitentaschen und dazugehörige Jacken mit ebenso vielen Zusatztaschen. Ein paar Mal nahm Sebastian für ihn Pakete entgegen, kühlschrankgroße Pakete aber das war auch schon alles an Kontakt, den er über die Jahre mit ihm hatte. An dem Abend hatte der Nachbar das erste Mal ohne ersichtlichen Grund geklingelt. Er sagte: »Ich möchte mich noch von Ihnen verabschieden. Ich ziehe um, in eine größere Wohnung und in einen anderen Stadtteil. In den nächsten Tagen werde ich nur noch Kleinigkeiten abholen. Den größten Teil habe ich schon weggebracht.« Sebastian wunderte sich über die plötzliche Mitteilsamkeit seines Nachbarn, freute sich aber auch über seine Verbindlichkeit. Sebastian wünschte ihm viel Glück in der neuen Wohnung und war schon dabei, die Tür wieder zu schließen, als der Nachbar ihn plötzlich anlächelte. Das freundliche Lächeln hatte einen Beigeschmack, den Sebastian nicht einordnen konnte. »Wie haben Sie das denn gefunden, dass ich Ihnen Ihr Namensschild verschönert habe? Ich habe das Schild für Sie gemacht. Beim täglichen Hochgehen hat es mich immer gestört, dass Ihr Name so klein war. Das gefiel mir nicht! Ich wusste nur nicht, ob Ihnen als Schriftbild Helvetica oder Times besser gefallen würde, habe mich dann aber für Times entschieden. In bold sieht die besser aus, finde ich. Schlanker. Das wollte ich Ihnen noch sagen, bevor ich ganz weg bin!« Sebastian war verdutzt und wusste nicht genau wie er darauf reagieren sollte. Schließlich bedankte er sich einfach nur bei ihm für seinen Einsatz und wünschte ihm noch einmal alles Gute. Den Nachbarn sah er danach nicht wieder. Aber von da an mochte Sebastian diese großen fetten schwarzen Buchstaben. Und auch Sebastian mochte Times lieber als Helvetica.