Alltag # 107
Ich bin schon weiter gegangen als bis runter zum Wasser und hinauf auf den Berg und verhoffe mich immer noch.
Ich bin schon weiter gegangen als bis runter zum Wasser und hinauf auf den Berg und verhoffe mich immer noch.
Dort wo ich aufgewachsen bin, war es nicht gestattet sich mit Hilfe von Wut an ein Ufer zu retten.
Marie wachte mitten in der Nacht auf. Sie hatte geträumt, dass sich neben ihr ein Abgrund befand. Einer der nicht weggehen konnte, der neben ihr fest installiert war. Sich auch weiterhin dauerhaft dort aufhalten würde. Der Abgrund war links von ihr und Marie musste ihn tagein tagaus in Schach halten. Ihre Aufgabe war es immer wieder in den Abgrund hinein zu schauen, um besser feststellen zu können, wo genau sich die Grenze befand, zwischen ihr und dem Abgrund. Wo sie noch auf festem Grund stand und wo der Abgrund begann. Diese Linie musste sie sich ständig neu vergegenwärtigen. Sie durfte sie auf keinen Fall vergessen. Das wäre fatal gewesen. Besonders für Maries Augen war dieses Prozedere auf Dauer äußert anstrengend. Eines von Maries Augen hatte diese permanente Anstrengung so mitgenommen, dass es für sich selbst einen Ausweg gefunden hatte und nur noch bereit war, ein paar Prozent zu sehen. Jetzt musste ihr anderes Auge herhalten und die Aufgabe übernehmen. Ihr rechtes. Marie kam dann auch noch zu Ohren, dass es unterschiedliche Abgründe gibt. Auch gefräßige. Marie wollte unbedingt mehr über ihren Abgrund in Erfahrung bringen. Sie kannte sich mit ihrem noch nicht so gut aus. Sie machte sich auf die Suche nach einem Spezialisten. Sie wollte in Erfahrung bringen, welche Merkmale gefräßige Abgründe hatten und woran sie zu erkennen waren. Wodurch sie sich bestimmen ließen. Marie fand jemanden und erfuhr, dass gefräßige Abgründe einen einfach hinunterziehen können. Einfach so. Dass gefräßige Abgründe keine Grenzen akzeptieren. Sie müssten sich ab und zu einfach jemanden einverleiben, um selbst weitermachen zu können. Um weiter Abgrund sein zu können. Der Spezialist meinte, es wäre sehr wahrscheinlich, dass Ihr Abgrund sie hinunterziehen wird. Einfach mal so, weil es zum Verhalten seiner Gattung gehörte.
Marie steht am Fenster, sieht vom dritten Stock auf den verschneiten Gehweg hinunter und beobachtet, wie ein Mann Kieselsteine ausstreut. Sie genießt den Anblick seiner schwungvollen Armbewegungen. Der letzte Sonntag fällt ihr ein, der Nachmittag bei Tanja. Dort hat sie auch oft aus dem Fenster geschaut, über die Terasse in den Gemeinschaftsgarten, um sich an dem vielen Weiß zu erfreuen. Sie mag diese sanfte Macht, die einfach alles ohne Unterschied zudecken darf. Tanja hatte ein paar Freunde zu sich ins Atelier eingeladen. Es gab Glühwein, Kaffee, Tee und Kuchen. Als Marie gegen drei Uhr ankam, war alles in bester Ordnung, sie fühlte sich wohl in ihrer Haut. Von der U-Bahnstation bis zu Tanjas Hausnummer summte sie eine erfundene Melodie. Tanjas Freunde saßen bereits um einen großen Holztisch und es schien so, als hätten sie mit dem Kuchenessen noch auf Marie gewartet. Neben Jacob war noch ein Platz frei. Marie hing ihren Dufflecoat über die Stuhllehne und sah sich nach einer Tasse um. Sie griff am Ende des Tisches nach einer blauen Emaille-Tasse, ließ sich von Tanja Glühwein eingießen und setzte sich. Gleich danach kündigte Tanja an, die Kuchen anzuschneiden, aber es lag kein langes Messer auf dem Tisch. Marie wollte Tanja entlasten und sagte: »Bleib sitzen, ich gehe eines holen.« Als sie sich von ihrem Stuhl erhob, rief Jacob quer über den Tisch: »Hey Peter, magst du dich zu mir setzen?« Peter nickte. Dass Jacob dieser Wechsel freute, konnte jeder an seinem Gesicht ablesen. Marie blieb kurz stehen, zuckte mit den Schultern und dachte, umso besser, jetzt kann ich neben Tanja sitzen. Die Kuchen schmeckten köstlich und der Nachmittag ging fröhlich und entspannt weiter. Die Tassen und Gläser klirrten und es dudelte das Lied von Nina Simone: Feeling Good, das Jacob laut mitsang. Inzwischen hatte sich im Atelier der angenehme Duft von geschälten Mandarinen ausgebreitet und Marie genoß immer noch den Blick nach draußen. Ganz besonders die weißen Polster, die sich in den Bäumen und an den Astgabelungen anhäuften. Aber als sie dann am Abend wieder zu Hause war und den Abend Revue passieren ließ, war da nur noch Jacobs Satz, an den sie sich am meisten erinnerte. Alles andere entglitt ihr langsam, konnte sie bald schon nicht mehr abrufen. Und heute, drei Tage später hallen seine Worte immer noch in ihrem Kopf nach und mit ihnen ein tief sitzendes unangenehmes Gefühl. Marie hält den Satz fest. Sie braucht ihn noch. Sie will ihn Jacob vorhalten, noch lange. Sie will ihn nicht freisprechen. Auch wenn sie gerne anders wäre und wünschte, solche Sätze würden sie nicht so erschüttern.
Ich habe immer noch die gleichen Gefühle für meine verstorbene Freundin, obwohl sie schon lange nicht mehr hier ist. Nichts von dem, was mich an sie bindet, hat sich gelöst, gelöscht, getilgt oder verändert. Keines meiner Gefühle hat sich in Luft aufgelöst. Kein einziges Gefühl hat sich so verabschiedet, dass es nicht wieder zu kommen braucht. Die Gefühle wollen immer noch gefühlt werden. Auch heute wieder.
Sebastian stand seit fünfzehn Minuten am Bahnsteig. Heute musste er mit der Regionalbahn nach Hause fahren. Er beschloss jetzt schon, sich in ein Viererabteil zu setzen. Dort steht immer die ganze Breite der Fensterscheibe zur Verfügung, nicht so, wie bei den Zweiersitzreihen. Auch wollte er sich nach einem leeren Abteil umsehen. Laut App hatte er gute Chancen eines zu ergattern. Der Zug war nicht ausgelastet. In einem leeren Abteil brauchte er keine Gespräche mit anhören, musste er kein lautes Kauen oder Schmatzen hören, keine Körpergerüche ertragen und auch keine künstlich hinzugefügten Düfte. Leere bedeutete für ihn Erleichterung. Immer öfter versuchte er Glück als Ausbleiben von Zumutungen zu verstehen. Der Zug kam geräuschvoll an. Als Sebastian zur nächstgelegenen Tür ging, war er der einzige, der dort einstieg. Nach einer Minute erreichte er schon die ersten sich gegenüberliegenden Viererabteile. In dem einen saß eine Frau, im anderen standen zwei große Koffer zwischen den Sitzen, die nicht in der oberen Ablagefläche Platz gehabt hatten. Sebastian schickte sich an weiterzugehen, zögerte aber und hörte sich sagen: »Sind die Plätze neben Ihnen noch frei?« Die Frau, die um vieles älter war als er, lächelte ihn an und nickte. Sie trug dunkle kurze struppige Haare, was sie politisch engagiert wirken ließ. Sie saß am Fenster und hatte ihre Beine bis zum anderen Sitz ausgestreckt. Deshalb wählte Sebastian den Platz am Gang. Sie sollte nicht wegen ihm ihre Beinfreiheit einbüßen müssen. Er verstaute sein Gepäck in der oberen Ablage, setzte sich und kramte in seinem Stoffbeutel nach der Papiertüte von der Bäckereikette. In ihr war eine Serviette und eine Butterbrezel. Sebastian hätte der Frau auch gerne eine angeboten. Aus purem Eigennutz. Seit Tagen fühlte er sich verloren, konnte nicht mehr richtig unterscheiden, was ihm noch etwas bedeutete und was nichts mehr. Er wusste nicht mehr, wo ein Ja hingehörte und wo ein Nein. Wo er Grenzen zu setzen hatte und wo es darum ging sie aufzuweichen. Er beobachtete die Frau aus den Augenwinkeln. Sie strahlte eine tiefe Zufriedenheit aus und ihre Hüften waren breit und gut gepolstert. Er verspürte den Wunsch, seinen Kopf in ihren Schoß zu legen. Er stellte sich vor, wie sie ihm dann etwas aus ihrem Leben erzählte und ihm dabei ab und zu über die Haare streicht. Dann müsste er nichts mehr wissen. Nichts mehr unter Beweis stellen. Bräuchte nichts mehr vorweisen, keinen Humor, keine Intelligenz, keinen durchtrainierten Körper. Er müsste nur da sein. Die Frau drehte ihren Kopf zum Fenster und betrachtete den vorbei rauschenden Wald. Heimlich beobachtete er sie weiter. Es war noch zu hell, als dass ihn eine Spiegelung in der Fensterscheibe hätte verraten können. Die Gesichtszüge der Frau waren weich, ihre Konzentration auf den Wald gerichtet. Sebastian wünschte sich jemanden herbei, der wusste, wie man eine Nabelschnur zwischen ihm und der Frau installieren konnte. Dann würde sich sein Dasein sicherer anfühlen. Er bedauerte, dass er heute weder Bonbons noch einen Apfel in seinen Stoffbeutel gelegt hatte. Er konnte der Frau nichts anbieten. Ihr Telefon klingelte. Sie nahm das Gespräch an. Die Person mit der sie sprach war ihr vertraut, das konnte er hören. Es musste jemand sein, der ihr nahe stand. Sebastian wollte ihr auch nahe stehen. Er wollte so viel von ihr. Von ihr hören, dass alles doch noch gut werden würde. In den Arm genommen werden und wie ein Wasserfall auf sie einreden, so als hätte er noch nie jemanden irgendetwas von sich erzählt. Er wollte auch, dass sie zuhörte, als hätte vor ihr noch nie jemand das tragen können, was er zu sagen hatte. Auch wollte er auf einer Straße auf sie losstürmen können und sehen, wie sie ihre Arme öffnete, um ihn willkommen zu heißen. Er war sich sicher, dass diese Frau Kraft spenden konnte ohne dabei selbst welche zu verlieren. Er wusste nicht, ob er seinem Kopf in ihrem Schoß legen dürfte. Aber er wusste, dass dann Ruhe in seinem Kopf einkehren würde. Sein Kopf würde aufhören ihm vom vielen Grübeln wehzutun. Vom Hin- und Herwälzen der Gedanken, die kein Ende nahmen. Die Frau beendete ihr Telefongespräch und schob das Telefon zurück in die Hosentasche. Sebastian räusperte sich und sagte: »Ich würde gerne meine Brezel mit Ihnen teilen, bitte nehmen Sie die Hälfte an!«
Gefühle sind wie Steine, die ins Wasser fallen. Manche gehen gleich unter und andere bewegen das Wasser und erreichen ein Ufer.
»Kommt ab fünf Uhr«, steht in Johannes E-Mail und der Name des Parks, und dass der Treffpunkt circa dreißig Meter südlich vom Brunnen ist. Sebastian muss nur noch das Buch fertig einpacken, dann kann er los. Umgezogen hat er sich schon. Er trägt seine dunkelblaue Jeans und ein graues T-Shirt. Mit diesem Outfit kann er sich gut ins Gras legen. Denn er weiß jetzt schon, dass es bei Johannes Picknick zu wenig Decken geben wird. Der Platz darauf knapp sein wird. Für das Picknick hat er helle Trauben gekauft. Sie haben eine dünnere Haut. Mit den roten hat er immer Probleme. Sobald er das Fruchtfleisch heraus gequetscht hat, will er die zähe Schale nicht am Stück hinunterschlucken und auch nicht auf ihr herum kauen, um sie kleiner zu kriegen. Am liebsten spuckt er sie aus. Aber nicht in der Gegenwart von anderen. Die hellen Trauben sind bereits gewaschen. Die Restfeuchtigkeit hat er mit Papiertüchern abgetupft und die Beeren mit den angefaulten Stellen sorgfältig entfernt. Er will es den anderen ersparen, mit Fingern in Matsch zu greifen. Der gekühlte Weißwein liegt im Stoffbeutel, ebenso die zwei Kilo Trauben. Beides hat er schon vor Tagen besorgt. Er ist froh, wenn alles schon griffbereit bei ihm zu Hause liegt und er sich nicht mehr mit der Frage herumplagen muss, was er mitbringen kann. Das Buch ist bereits in Seidenpapier eingeschlagen. Jetzt will er es noch mit ein paar Ohren ausstatten. Die hält er schon in der Hand. Er hat sie einem Stofftier aus einem Second Hand Laden abgeschnitten. Sebastian tackert die Ohren am oberen Rand des Buches fest und schmunzelt. Johannes werden die Eselsohren gefallen. Sebastian verstaut das Geschenk im Stoffbeutel und holt seine Espadrilles aus dem Schrank. Gerade als er in sie hineinschlüpfen will, erreicht ihn eine SMS von Tamara. Schon wieder. Gestern Abend wollte sie von ihm wissen, ob er zu Johannes Geburtstagspicknick gehen wird. Er hatte ihr mit einem »natürlich« und einem Smiley geantwortet. Jetzt will sie wissen, ab wann er da sein wird. Sebastian versteht das nicht, er kennt sie doch kaum. Er hat sie nur einmal bei einem Brunch getroffen und dort standen sie nur in der gleichen Gruppe herum. Er mochte ihren Kurzhaarschnitt und ihren bissigen Humor. Aber sie hatte auch etwas an sich, was ihn abschreckte. Eine komische Art andere zu kritisieren. Zumindest das, was sie sagten. Sobald dann aber jemand versuchte, den Sprecher oder die Sprecherin in Schutz zu nehmen, beharrte sie darauf, dass sie sagen könne was sie wolle. Er hat ihr seine Telefonnummer nur gegeben, weil sie ihm einen Link schicken wollte, von dem sie überzeugt war, dass er ihn interessant finden könnte. Er hatte zugestimmt. Es ist ihm wichtig, dass man höflich miteinander umgeht. Freundlich zueinander ist. Manieren hat. Grundsätzlich versucht er Menschen zu integrieren. Er möchte nicht abweisend sein. Natürlich hätte er sagen können: »Nein, meine Telefonnummer gebe ich dir nicht«, aber dann hätte er wie ein kleines Kind geklungen und viel zu dramatisch. Sie hatten ja nicht einmal miteinander gestritten. Für den Link hatte er sich damals bei ihr bedankt, ihn aber niemals geöffnet. Es ging um Biotopvernetzungen. Dass sie sich danach noch einmal bei ihm melden würde, damit hat er nicht gerechnet. Wut steigt in ihm hoch. Er will sich jetzt nicht verpflichtet fühlen, ihr mitzuteilen, wann genau er ankommt. Aber gar nicht zu antworten kommt ihm auch schäbig vor. Wahrscheinlich kennt sie außer Johannes und ihm niemanden sonst auf dem Picknick. Sebastian kramt in seiner Hosentasche nach der bereits geöffneten Packung Fisherman’s Friend und legt sich eines daraus auf die Zunge. Die Schärfe hat etwas Stechendes und befreit seine Atmung, mehr aber nicht. Seine Gedanken kreisen weiter um Tamaras SMS. Wenn er ihr mitteilt, wann er ankommt, denkt sie bestimmt, sie sind miteinander verabredet. Dieser Gedanke behagt ihm nicht. Sebastian schiebt das Bonbon zur anderen Mundhälfte hinüber und bemerkt, wie der scharfe Geschmack langsam nachlässt. Er sieht auf das Display seines Telefons. Zehn vor fünf. Das ärgert ihn. Er wäre gerne pünktlich gewesen. Das verlangt zwar niemand von ihm und am allerwenigstens Johannes, aber er mag es, wenn er genau dann ankommen kann, wenn alle erst peu a peu eintrudeln und das Hallo-Sagen noch überschaubar ist. Weil noch nichts in Gang gekommen ist. Weil alles erst noch im Entstehen begriffen ist. Außerdem mag er es, wenn er noch keine Entscheidungen treffen muss, zu wem er sich hinstellt und wen er wann wieder verlässt, um auch noch mit anderen sprechen zu können. Wenn er jetzt auf der Stelle losfährt, ist er in fünfunddreißig Minuten da. Sein Telefon piepst. Eine neue Nachricht von Tamara. Sie lässt ihn wissen, dass sie schon im Park ist. Sie sitze jetzt am Brunnen und warte dort auf ihn. Sebastian schnappt innerlich nach Luft. Seine Vorfreude auf das Picknick schwindet gerade. Er presst seine Lippen aufeinander und denkt, das hat er nun von seinen guten Manieren. Aber jetzt ist Schluss mit seiner Höflichkeit. Er wird sie dort einfach sitzen lassen. Er wird es zumindest versuchen.
Wenn ich mich ganz scheußlich finde, drehe ich zuhause den Spiegel um. Solange, bis es wieder einigermaßen geht.