Und # 41 (Todestag…)

Und # 41

An so einem belanglosen Tag wie heute, muss ich an den Menschen denken, den ich so gern hatte. Dabei habe ich mir vorgenommen, das Erinnern erst einmal auszublenden, zumindest für die nächsten Wochen. In dem Kulturkreis, in dem ich aufgewachsen bin, gibt es für das Erinnern ein Ritual und das wollte ich in Anspruch nehmen. (Bei vielen Menschen ist das tief verankert. Auch bei mir.) Das Ritual ist an ein Datum geknüpft. An den Todestag. Ihrer jährt sich dieses Jahr zum ersten Mal. Aber mein Plan geht nicht auf. Auch heute kann ich den Tag nicht ohne Erinnerung an sie gestalten. Meine Traurigkeit bleibt auch nicht unten. Und das, obwohl der besagte Tag noch ziemlich weit weg ist. Er ist erst in sechs Wochen. Der Auslöser war mein begrenzter Appetit. Der brachte alles ins Rollen. Wegen einem übrig gelassenen Brötchen musste ich mich auch wieder daran erinnern, wie unglaublich unversöhnlich ich nach ihrem Tod war. Ich weiß immer noch nicht, auf was ich so böse war. Auf sie, weil sie sich nicht mehr um sich gesorgt hat, auf mich, weil ich nicht besser auf sie acht gegeben habe oder auf die Welt mit ihren so wackeligen Fundamenten. Die ersten Tage nach ihrem Tod sind immer die gleichen Gedanken abgelaufen. Am häufigsten dachte ich, sie fehlt mir. Aber ich dachte auch: Ihr wird es an nichts fehlen. Ihr wird es gut gehen. Ihr wird auch das Leben nicht fehlen. Sie wird sich freuen, von den lästigen Pflichten entbunden zu sein. Sie wird es genießen, keine Referendarin mehr sein zu müssen. Sie war auch keine. Oft genug war sie selbst überrascht, wie sie da hatte landen können, in diesem System, das so gar nicht zu ihr passte und mit dem sie streng genommen auch nichts zu tun haben wollte. Ich erinnere mich auch wieder daran, wie wenig ich bereit war zu realisieren, dass sie keinen Körper mehr hatte, mit dem sie mir hätte antworten können. Der Körper war weg, aber ich hatte noch ihre Telefonnummer und musste jeden Tag aufs Neue feststellen, wie nutzlos die war. Und, dass das auch so bleiben wird. Ab jetzt: Immer nur so. In den ersten Wochen tröstete ich mich damit, Schnittblumen zu kaufen. Mich interessierte dabei aber nur der Verwelkungsprozess. Sobald ein Strauß verblüht war, kaufte ich den nächsten und je mehr Sträuße ich gekauft hatte, um so milder wurde ich. Ich verstand, dass ich das Verblühen nicht aufhalten konnte. Egal wie oft ich das Wasser wechselte. Egal wie oft ich den Blüten sagte, wie schön sie sind. Egal wie oft ich den Strauß in ein anderes Zimmer mitnahm. Nie ließ ich die Blumen für längere Zeit alleine in der Küche zurück. Ich schleppte sie einfach mit mir mit, sobald ich wusste, ich würde mich für längere Zeit in einem anderen Zimmer aufhalten. Obwohl ich mich also so gut ich konnte um die Blumen sorgte: sie verwelkten trotzdem. Jeder Strauß tat das. Der mit den Ranunkeln, der mit den Mohnblüten, der mit den Hortensien. Alle gingen sie ein, gingen unter, zugrunde und die Blüten wirkten spätestens nach einer Woche schon vollkommen abwesend. Solche und ähnliche Gedanken durchkreuzen meinen Vormittag. Ich habe sie nicht bestellt aber sie werden trotzdem in meinen Kopf geworfen. Vor einer Stunde waren sie noch nicht da. Da dachte ich nur an meine To-Do-Liste. Ich wollte beim Bäcker noch schnell zwei Brötchen holen, für das Frühstück, bevor ich sie anging. Und obwohl es draußen kalt ist, habe ich mir nur die leichte Jacke umgeworfen und bin auch nur in die dünnen Schuhe geschlüpft (sie lassen sich leichter anziehen) und bin die Treppen hinunter gerauscht. Wieder zu Hause habe ich mir ein Brötchen mit Butter und Quittengelee beschmiert und es genüßlich aufgegessen und dann bemerkt, dass mir eines bereits reicht und ich gleich mit dem Abarbeiten der To-Do-Liste beginnen möchte. Ich schaltete das Radio aus, da ich konzentrierter arbeiten kann, wenn es im Raum still ist. Mein Kopf war voll mit dem, was zu erledigen war. Deshalb dachte ich auch, da hätte gar nichts anderes mehr Platz, aber gerade die Stille machte Platz. Als ich das zweite Brötchen in die Papiertüte zurück schieben wollte, sah ich sie vor mir. Sie griff nach der übrig gebliebenen Kaisersemmel. Es war so wie immer, wenn sie bei mir war. Trafen wir uns hier, saßen wir in der Küche. Wir saßen uns immer gegenüber. Wir saßen nie übers Eck. Auch wechselten wir nie das Zimmer. Wir gingen nach dem Essen nie mit unseren Gläsern durch die Wohnung, um zu den bequemeren Designersesseln zu gelangen oder um uns aufs Sofa plumpsen zu lassen. Bis spät nachts blieben wir in der Küche sitzen. Wir diskutierten, lästerten und lachten über unsere kleinen Bosheiten. Zum Essen hatte sie jedesmal Alkohol mitgebracht und kleine Geschenke und ihr Sprachverständnis. Eines, mit dem sich Haken schlagen ließen. Damit konnte sie mich erheitern. Das gelang ihr aber auch mit weniger. Sie musste nur sagen: Ja, meine Liebe … Das reichte schon, um glücklicher zu sein, als gerade eben noch. Sie brachte auch ihre Unsicherheit mit, die mich nie störte. Die nur sie selbst störte. Jetzt ließ sich das Erinnern nicht mehr stoppen. Aber außer, dass meine To-Do-Liste heute besonders lang ist, weil die Dinge, die ich gestern erledigen hätte sollen, nicht erledigt habe, habe ich nichts dagegen mich an sie zu erinnern. Ich mag es mit Gedanken bei ihr zu sein. Obwohl ihr Körper weg ist und es auch bleiben wird, ist aber ihre Stimme noch da. Auf meinem Telefon. Dort befinden sich Unmengen an Sprachnachrichten. Auch zahllose SMS. Die Sprachnachrichten sind zu meinem Fotoalbum geworden. Ich ziehe das Telefon vom Fensterbrett, öffne die App und denke mir ein Datum aus. Eines vom letzen Jahr. Ich wähle den ersten März. Ein Datum, an dem noch niemand wusste, was ihr bevorstehen wird. Ich scrolle und stoppe. Um 16:21 kam eine Sprachnachricht von ihr an, sie dauert sechs Minuten und siebzehn Sekunden. Um 18:23 Uhr hatte sie mir einen Filmclip geschickt. Einen kleinen Zeichentrickfilm. Ich drücke auf play. Zu sehen ist ein vielgewichtiger junger Mann. Ein Mann in ihrem Alter. Er liegt auf einem Sofa. Hat es sich dort bequem gemacht. Er trägt einen klassischen weißen Slip aus Doppelripp mit Eingriff und ein graues T-Shirt. Unter seinem Kopf liegt ein großes Kissen. Das ist wichtig, denn sein Kopf muss sich für die bevorstehende Aktion im richtigen Winkel befinden. Neben ihm liegt eine Tüte Chips. Die Packung ist leer. Die Chips liegen auf seiner Brust. Er hat sich die ganze Tüte dorthin gekippt. Und so, wie er nun daliegt, braucht er nur noch seine Zunge auszustrecken, und schon bleibt ein Kartoffelchip dran kleben. Was er auch tut. Er verfrachtet einen Chip nach dem anderen in seinen Mund und muss dafür keinen Finger rühren. Dem Mann ging es offensichtlich gut. Den Filmclip hatte ich völlig vergessen. Auch, dass ich ihn von ihr zugeschickt bekommen habe. Ich scrolle weiter. 19:14 Uhr. Eine SMS. »Ich habe mir Sahne und Schmand gekauft. Den Becher Schmand habe ich gleich ausgelöffelt, mit viel Honig.« Sie wollte zunehmen, auch an dem Tag. Sie wusste noch nicht, dass das nicht mehr gehen wird. Dass das nichts mehr mit mangelnder Zufuhr von Fetten zu tun hat. Bevor ich mir die Sprachnachricht anhören werde, werfe ich noch einmal einen Blick auf das eingefrorene Bild des Zeichentrickfilms. Der vielgewichtige Mann hat die Situation für sich vereinfachen können und das beglückte ihn. Ich sage mir, dass das Verschwinden von hier vielleicht auch so eine Vereinfachung ist. Etwas, das jeden nur beglücken kann. Auch Sandra.

 

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