Lebensentwürfe # 34 (Katze spirituelles Zentrum..)

Lebensentwürfe # 34

Auf einer kleinen griechischen Insel befindet sich am Rand eines Dorfes ein großes Haus mit vielen Zimmern. Eine Frau aus Holland hat es gemietet und ein spirituelles Zentrum daraus gemacht. Einen Ort für Touristen. Dort werden außer Übernachtungen auch Kurse und geführte Tagesausflüge angeboten. Das Zentrum ist von Mai bis Oktober geöffnet und dann sechs Monate lang geschlossen. Über den Winter wohnt niemand dort. Auch die Chefin kehrt dann nach Holland zurück. Sie betreibt das Zentrum schon seit vielen Jahren. Eine ihrer Hausregeln ist das Verbot, während des Aufenthalts wilde Katzen zu füttern. Die Chefin weiss, dass deren Überlebenschancen gegen null gehen, sobald das Zentrum winterfest gemacht worden ist. Denn nicht nur das Zentrum macht die Schotten dicht, sondern auch alle Cafés, alle Restaurants, alle Geschäfte und auch der einzige Supermarkt in der Gegend. Ohne Zugang zur nächsten Stadt ist man aufgeschmissen. Deshalb stehen dann auch die meisten Häuser leer.
Fast immer halten sich ihre Gäste an diese Regel. Nur dieses Jahr setzte sich eine Frau darüber hinweg. Sie hatte Mitleid mit einem jungen abgemagerten Kätzchen und gab ihr jeden Tag Milch und manchmal auch Fisch. Sie stellte die Schüssel so geschickt auf, dass die Chefin es nicht mitbekam. Als sie eine Woche später abreiste, übernahm ein anderer Gast die Fütterung. Und so kam es, dass das kleine Kätzchen groß und stark und anschmiegsam wurde. Und dann dämmerte es auch der Chefin, denn die Katze hielt sich fast nur noch auf der Terrasse auf. Dort ließ sie sich gerne streicheln, auch von mehreren Gästen gleichzeitig. Und so wurde die Katze doch noch zur offiziellen Hauskatze des Zentrums. Weitere Touristen kamen und gingen aber sie blieb und ließ sich weiter füttern und streicheln. Aber dann nahte der besagte Zeitpunkt, von dem die Chefin schon früh gewarnt hatte. Es war Ende Oktober und in drei Tagen würde das Haus in seinen jährlichen Winterschlaf fallen. Nun sorgten sich die verbliebenen Gäste um die Katze. Sie wollten sicherstellen, dass sie überlebt. Eine Besucherin hätte sie gerne nach London mitgenommen. Aber sie lebte dort mit ihrem Bruder zusammen und der hatte eine Katzenhaarallergie. Eine andere Frau rief in Tierheimen an und fand heraus, dass sie alle überfüllt waren und keine Katzen mehr aufnahmen. Auch keine Hunde mehr. Eine andere Besucherin schlug vor, die Katze mit nach Deutschland zu nehmen und in ihrem Bekannten- und Freundeskreis herumzufragen. Aber ihr Mann war dagegen. Er wollte nicht, dass seine Frau so viel Verantwortung übernimmt. Sie sei doch gerade deswegen in das Zentrum gekommen, um sich mal weniger aufzubürden. Ein anderer Mann bot an, in Dänemark einen Tierarzt anzurufen, mit dem er befreundet war, er könnte herausfinden wie schlecht die Überlebenschancen der Katze wirklich sind. Sein Vorschlag wurde als albern abgetan. Viel Zeit blieb ihnen nicht mehr. Am nächsten Tag beschlossen sie, Geld für die Katze zu sammeln. Sie waren überzeugt, dass das zu etwas führen wird. Dass das die ersehnte Lösung ist. Es kamen zweihundertvierzig Euro zusammen. Aber keiner wusste so recht, wie das Geld eingesetzt werden sollte, um die Katze zu retten. Um das herauszufinden, versammelten sie sich auf der Terrasse. Während sie miteinander beratschlagten, kam ein Hund auf das Gelände. Sie kannten ihn. Meistens lag er auf dem Parkplatz vor dem angesagten Café. Jeder von ihnen wusste, dass ein junges Ehepaar aus London ihn auf der Insel ausgesetzt hatte, dass sie einfach ohne ihn zurückgeflogen waren. Seither streunte er herum und machte immer einen friedlichen Eindruck. Deswegen dachten sie sich auch nichts weiter. Die Katze schon. Sie machte einen Buckel und fauchte. Der Hund lief ihr entgegen, sprang sie an und biss mehrmals zu. Eine Frau lief entsetzt hin und verjagte den Hund. Die Katze schüttelte sich mehrmals und ging weiter. Kein Blut war zu sehen. Alle waren beruhigt. Zehn Minuten später lag sie tot auf der Terrasse. An der Stelle, an der sie jeden Tag ihre Mahlzeiten eingenommen hat. Die Gäste begruben sie gemeinsam unter einem Baum. Danach griffen sie in den Spendentopf und holten sich das Geld zurück, dass sie hineingeworfen hatten.

 

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Lebensentwürfe # 36 (Sebastians Mutter stirbt…)

Lebensentwürfe # 36

Sebastians Vater ist am Telefon und will, dass Sebastian sofort kommt. Es ist das erste Mal, dass Sebastian während er die Stimme seines Vaters hört, keinen Widerwillen gegen ihn aufbringen kann. Und das, obwohl sein Vater ihm wieder nichts freistellt. Wieder darf nicht er entscheiden, ob er kommen will oder nicht. Es wird einfach von ihm verlangt. Genauso wie früher. Hatte er sich widersetzt, musste er danach die Bestrafungen aushalten. Aber dieses Mal rebelliert Sebastian nicht. Dieses Mal stimmt er einfach zu und tut das, was von ihm gefordert wird. Er bucht den nächsten Flug, packt ein paar Sachen und verlässt die Wohnung. Drei Stunden später holt ihn sein Vater vom Flughafen ab und schon steht er im Flur seines Elternhauses. In dem Haus, in dem er aufgewachsen ist. Er stellt seine Reisetasche an der Garderobe ab, die ihm verhasst ist. Es sind fünf messingfarbene Haken in Reih und Glied. Jeder Haken hat unten zwei kleine Häkchen und einen großen, der mit Schwung nach oben ragt und verziert ist. An allen hängen aufgepolsterte Kleiderbügel, mit rotem Samt bezogen und mit goldenen Bordüren bestückt. Für Sebastian ist das nach wie vor kein Ort für Mäntel und Jacken, sondern einer für ungute Erinnerungen. Er hat keine davon vergessen. Auch nach so vielen Jahren noch nicht. Das, was er dort auf dem Boden erlebt und aushalten musste, hat ihm den Glauben an die Welt verdorben. Prompt meldet sich sein Magen. Sebastian wendet seinen Blick von der Garderobe ab und sieht seinen Vater an. Er möchte ihn etwas fragen. Noch bevor er seine Frage ganz ausgesprochen hat, bemerkt er schon, wie er wieder zu einem kleinen Jungen wird. Zu jemanden, der immer erst fragen muss, bevor er etwas machen darf. Auch sein Tonfall hat sich verändert. Seine Stimme klingt jetzt gepresst oder verbogen. Jedenfalls so, als würde er ihr nicht genügend Luft zur Verfügung stellen. Sebastian möchte von seinem Vater wissen, ob er seine Schuhe ausziehen soll und ob es Hausschuhe für ihn gibt. Sein Vater antwortet nicht. Er zuckt nur mit den Schultern. Dass er sich auch uneindeutig verhalten kann, ist für Sebastian neu. Er vermutet, das liegt an den Umständen. Seine Mutter liegt im Sterben. Sebastian lässt die Schuhe an, mit ihnen fühlt er sich stärker. Er drückt den Türgriff nach unten und geht ins Wohnzimmer. Fast wirkt alles wie immer. Wieder stechen ihm als erstes die weißen Gardinen ins Auge. Die Stores. Er mochte sie nie anfassen. Das Gespinst aus Plastik, das angebracht worden ist, damit niemand von draußen hereinsehen kann. Er betritt den teuren Perserteppich, wegen den Straßenschuhen nicht ohne Schuldgefühle. Sein Vater setzt sich auf das cremefarbene Sofa zu seinen Enkelkindern und zu Sebastians Geschwistern. Ein paar Meter weiter steht ein gemietetes Pflegebett. Sebastian nimmt einen neuen Geruch wahr. Einen Körpergeruch. Er kennt ihn noch nicht. Es riecht süß-säuerlich, pilzig. Sebastian überprüft, ob er etwas fühlt. Aber da ist nichts. Es tauchen keine Gefühle auf. Er betrachtet seine Mutter, wie sie in diesem Bett liegt. Ihr Körper sieht zerbrechlich aus. Äußerst schwach. Sie hat noch mehr abgenommen. Vor ein paar Monaten hat der Vater darauf bestanden, alleine mit dem Arzt zu sprechen. Und dem Arzt hat er dann verboten, seiner Mutter die vollständige Diagnose zu nennen. Ihr zu erzählen, womit zu rechnen ist. Und wie bald schon. Auch Sebastian hatte er untersagt, der Mutter die Wahrheit zu sagen. Aber das Unvermeidbare schläft nicht. Seine Mutter hatte es auch so herausgefunden. Aber offen darüber gesprochen wurde seitdem trotzdem nicht. Auf ihrer Stirn haben sich mehr Altersflecken ausgebreitet. Sie wirken wie aus der Tiefe entlassene dunkle Tropfen. Ihr Mund steht offen. Die Lippen sind rissig. Sein Vater hatte ihm bereits am Telefon gesagt, dass seine Mutter nicht mehr isst und nicht mehr spricht. Sie würde nur ab und zu noch ein Wort hauchen. Sebastian setzt sich auf den Stuhl, der schon neben ihrem Bett steht. Seine Mutter schlägt die Augen auf, sieht ihn an und haucht ein Wort. Einen Namen. Es ist nicht seiner. Das Gehirn hat ihr diesen Zugriff versagt. Es ist der von einem Enkel. Sebastian übergeht das. Er weiß, dass es dieses Mal keine Absicht war. Er weiß, dass sie ihn erkennt. Sebastian will seiner Mutter länger in die Augen sehen. Dafür muss er sich vorbereiten. Schon als Kind fiel es ihm schwer, Augenkontakt mit ihr zu halten. Er versteift seinen Rücken. Anspannung hilft ihm. Gibt ihm ein Gefühl von Sicherheit. Er sieht wieder hin. Dieses Mal genauer. Die Augen seiner Mutter strahlen. Das überrascht ihn. Aber es ist eindeutig. Das Strahlen gilt ihm. Es überrascht ihn wirklich. Er kann sich nicht erinnern, schon einmal von ihr so angesehen worden zu sein. Da ist Wärme in ihren Augen. Er hat mit etwas anderem gerechnet. Er kennt ihren kalten abschätzigen Blick. Manchmal auch den verachtenden. Seine Mutter stöhnt, verzieht ihr Gesicht und deutet auf ihren Bauch. Es wird nach der Pflegekraft gerufen. Sein Vater hat vor einem Monat eine engagiert. Sie legt der Mutter eine Tablette auf die Zunge und führt einen Strohhalm an ihren Mund. Es dauert lange, bis seine Mutter den klebrig wirkenden Saft hochziehen und die Tablette schlucken kann. Die Pflegekraft hält ihr geduldig das Glas hin. Danach schlägt sie die Bettdecke zurück, zieht sich Einweghandschuhe an und nimmt der Mutter die Windel ab. Sebastian wendet seinen Blick nicht ab. Die Schamhaare seiner Mutter sind grau. Und dann ist da aber auch noch etwas. Unter den dünnen grauen Strähnen ist ein dunkles kreisförmiges Muttermal zu sehen. Ein Schönheitspunkt. Er hat ihn an der gleichen Stelle. Diese exakte Übereinstimmung verwirrt ihn. Er wusste nichts davon. Wie kann das sein, dass etwas so genau vererbt werden kann. Er ist von etwas berührt und weiß nicht genau von was. Vom Schicksalhaften vielleicht. Seine Mutter wird mit Feuchttüchern gereinigt. Eine neue Windel wird ihr umgelegt und ein frischer Schlafanzug angezogen. Einer aus Nicki. Er blickt seiner Mutter erneut in die Augen und wieder strahlt sie ihn an. Aber da erkennt er auch noch etwas anderes in ihrem Blick. Er weiß, was es ist. Es ist fast schon ein Betteln. Sie möchte, dass er ihr vergibt. Sebastian bleibt stumm. Es hätte früher geschehen müssen. Das mit dem Reden. Und alles andere auch. In ihm wohnt immer noch so viel Groll. Schon seit langem bemüht sich Sebastian, mit dem Geschehenem fertig zu werden. Ohne sie. Aber auch das bleibt unausgesprochen. Seine Mutter weiß nichts von seinen vielen Bemühungen.
Eine Nachbarin kommt und setzt sich ebenfalls ans Bett. Sie erzählt von früher und hält dabei der Mutter die Hand. Sie berichtet vom Tanzengehen, vom Skifahren und wie schön das alles mit ihr war. Auch streichelt sie der Mutter sanft übers Gesicht und sagt, dass ihr der Schlafanzug gut stehe. Sebastian möchte seine Mutter nicht berühren. Weder ihr Gesicht noch ihre Hand. Das Zuhören erschöpft die Mutter. Sie schließt die Augen und döst weg. Die Nachbarin verabschiedet sich, auch vom Vater. Sebastian möchte sich auch etwas ausruhen und geht ins Esszimmer. Dort ist alles wie immer. Reinlich und in einem Glasschrank, der auch heute von innen beleuchtet ist, stehen Unmengen an Kristallgläsern. Er legt sich auf die Eckbank. Im Liegen tauchen Erinnerungen auf und Angst. Seine Angst ist oft mächtig. So mächtig wie früher seine Mutter mächtig war. Die Angst hat ihn im Griff. Vieles ist immer noch so verknotet. Vor Jahren hatte Sebastian etwas aus dem Mund seiner Mutter gehört, aber nur einmal: dabei mag ich dich doch so gerne und magst du mich? Dieser Satz kam am Ende eines langen Vorwurfs und war wie ein Erpressungsversuch. Seine Mutter war davon ausgegangen, dass er es nicht fertig bringen würde, die Frage unbeantwortet zu lassen. Aber er schaffte es.
Zwei Stunden später wacht seine Mutter noch einmal auf. Sein Vater, seine Geschwister, seine Nichten und Neffen versammeln sich um das Pflegebett. Und dann ist sie hinüber geglitten. Es hat eine Stunde gedauert. Es hat kein Röcheln gegeben und auch keine Worte. Auch keine gehauchten. Alle Anwesenden haben nur ihren Atemzügen gelauscht bis keine mehr zu hören waren.
Jetzt, am nächsten Morgen, sitzen alle im Esszimmer und unterhalten sich. Jetzt will niemand mehr neben ihr sitzen. Im gleichen Raum mit einer Toten. Die Tür zum Flur ist zu. Die Tür zum Esszimmer auch. Sebastian hört verschiedene Stimmen durch die Tür. Nur er hält sich noch im Wohnzimmer auf. Bleibt hartnäckig am Bett seiner toten Mutter sitzen. Und jetzt greift er nach ihrer Hand. Sie ist eisig. Er ist sanft. Seine Wärme fließt in das erkaltete Fleisch. Ihre Finger werden warm, auch ihre Handfläche. Das erstaunt ihn. Und etwas anderes geht jetzt auch. Das Weinen. Er versteht, dass jetzt etwas zu Ende gegangen ist, das nicht besonders schön war. Etwas, dass nun auch nicht mehr schön werden kann. Nie mehr. Nichts kann noch hinzugefügt werden. Keine Worte. Keine Gesten. Keine Taten. Aus die Maus. Außer das Bedauern, das gibt es noch. Aber Wiedergutmachungen sind nun nicht mehr möglich. Keine einzige mehr. Sie haben sich verlaufen. Alle. Haben keine Zeit gefunden. Nicht zu ihm gefunden. Da wo sie hingehört hätten. Nun wird alles so bleiben, so unausgesprochen. Einer seiner Nasenflügel zittert und seine Hose saugt weiter salzige Tropfen auf. Und plötzlich geht jetzt noch etwas anderes. Er spricht. Er erzählt ihr das, was ihn geplagt hat, verletzt hat, gedemütigt hat. Die Antworten bleiben aus. Das ist wahrscheinlich ein Segen.
Jemand klingelt. Der Vater geht zur Haustür. Kurz darauf geht die Tür zum Wohnzimmer auf. Es sind die Bestatter. Einer von ihnen schüttelt Sebastian die Hand. Sie wenden sich der toten Mutter zu und fragen nach der Kleidung für den Sarg. Sebastian übernimmt das. Er holt aus dem Schlafzimmer seiner Eltern eine schwarze Hose, eine weiße Bluse und eine Jacke im Jackie Kennedy Stil. Eine mit goldenen Knöpfen. Zurück im Wohnzimmer hilft er den Bestattern beim Ent- und neu Einkleiden der Mutter. Seine Mutter wird in ein Tuch gehüllt und zu einem provisorischen Sarg getragen. Sebastian geht zu seiner Reisetasche, zieht ein Stofftier heraus und kehrt zum Sarg zurück. Er legt es seiner Mutter auf die Brust. Auf die Höhe ihres Herzens.

 

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Lebensentwürfe # 33 (Mia und Marie Ostsee…)

Lebensentwürfe # 33

Mia war bei Marie zu Besuch, aber seit einer Stunde saßen sie im Zug Richtung Norden. Sie wollten ein paar Tage auf einer Miniinsel in der Ostsee verbringen. Sie freuten sich auf Frischluft, warme Sonnenstrahlen, die Weite des Meeres und Imbissbuden, die Fischbrötchen verkaufen. Bismarck. Matjes. Makrele. Brathering. Lachs. Sie wollten alle Sorten probieren und danach eine Rankingliste erstellen. Aber Mia wünschte sich noch ein bisschen mehr. Sie träumte davon, einem Mann begegnen zu können, der sie aus ihrer Ehe reißt. Gestern Abend hatte sie Marie deswegen schon gefragt, ob sie sich noch schnell ein Haarfärbemittel besorgen soll. Sie meinte, es wäre von Vorteil, wenn sie während der nächsten Tage schön aussehen könne. Zumindest so gut, wie sie es auf die Schnelle noch hinbekommen könne. Denn Mia war überzeugt, dass diese Begegnung nicht zustande kommen kann, wenn ihr grauer Haaransatz zu sehen ist. Marie sagte nur, das Schicksal sei nicht so kraftlos, dass es auf ein Haarfärbemittel angewiesen ist, um zuschlagen zu können. Mia ging dann kein Färbemittel holen. Angeblich nur, weil sie Maries Badezimmer für diese Sauerei nicht benutzen wollte. Und dann kam doch alles ganz anders. Zumindest für Marie. Nach einer zweistündigen Fahrt mit der Fähre kamen sie gegen acht Uhr im Hafen an und suchten dann gleich ihr kleines Apartment auf. Sie packten ihre Reisetaschen aus und planten den nächsten Tag. Auf der Insel gab es einen einzigen Bus, einen Elektrobus, der die Insel ein paar Mal am Tag rauf und runter fuhr. Mit ihm wollten sie bis zur Endhaltestelle mitfahren und dann sehen, was sich so ergeben würde. Sie gingen früh schlafen, standen früh auf und gingen als erstes zum Hafen. Marie blieb vor der Bushaltestelle stehen und sah auf den Plan. Als sie die passende Abfahrtszeit entdeckt hatte, stellte sich ein Mann neben sie. Er sprach Marie ohne Umwege an und ohne sie zu grüßen. Er begann einfach mit einem langen Satz. Marie drehte ihren Kopf zu ihm. Er schien von diesem Dorf zu sein. Er war um die dreißig, muskulös, um einiges größer als Marie und blond. Er trug einen zeitlosen Kurzhaarschnitt und eine blaue Latzhose. Marie sah in sein apartes Gesicht. Mit dem rechten Auge konnte er seinen Blick nicht kontrollieren, es kreiste wahllos hin und her, aber mit dem linken konnte er geradeaus sehen. Seine Worte waren schwer verständlich. Manche Silben sprach er sehr gedehnt, andere verschluckte er und manche Worte, die den Satz vervollständigt hätten, ließ er gleich ganz weg. Marie wollte sicher gehen, dass sie ihn verstanden hatte und wiederholte alles mit ihren Worten. Dabei sah sie ihm in das Auge, das stillhalten konnte. »Meinst du, dass jetzt kein Bus kommen wird, weil jetzt auch keine Fähre kommt? Dass hier auf der Insel überhaupt nur dann Busse fahren, wenn auch Fähren ankommen?« Er nickte. »Aber auf dem Busfahrplan steht, dass der nächste Bus in zehn Minuten kommt!« Der Mann schüttelte den Kopf und verschwand. Marie gefiel es, dass er die Informationen des Busfahrplans ignorierte. Er schien seine eigene Logik zu haben und die fand er spannender und Marie fand ihn spannender als den Busfahrplan. Marie schaute zu Mia hinüber und beobachtete sie. Sie fotografierte ein paar alte Fischerboote. Dann tauchte der Mann ohne Namen wieder auf. Aus seinem schwer verständlichen Redefluss konnte Marie entnehmen, dass er sich bei einem Freund nach dem Bus erkundigt hatte, und nun wisse, der Bus würde gleich kommen. Marie könne also hier stehen bleiben. Marie berührte diese Hilfsbereitschaft und sein Umgang mit Widersprüchen. Dass ihm das egal war, wie oft oder wie sehr er sich widersprach, lockerte alles gleich so auf. Er zeigte ihr damit, dass überhaupt und generell alles auch ganz einfach sein kann. Marie war ihm dafür dankbar. Nachdem sie einen langen Spaziergang zu einem Leuchtturm gemacht hatten, erreichten sie gegen Mittag ein Dorf. Als erstes machten sie eine Pause bei einer Eisdiele. Sie holten sich Eiscremebecher und setzten sich auf eine Bank. Marie löffelte kleine Portionen Karameleis auf ihren Holzspatel und Mia Himbeereis auf ihren. Ein wenig später tauchte der Mann ohne Namen wieder auf. Er unterhielt sich an einer Wegkreuzung mit einer jungen Frau und schien Mia und Marie nicht zu bemerken. Die junge Frau und er schienen sich zu kennen. Sie wirkten vertraut. Ein kleines Kätzchen kam an und schlich der Frau um die Fußknöchel. Sie hob es hoch und hielt es vor ihr Gesicht. Der Mann ohne Namen beugte sich vor und küsste das Fell des kleinen Kätzchens. Der Kuss sollte wohl durch das Fell des Kätzchens hindurchfließen und auf der anderen Seite bei der jungen Frau landen. Die junge Frau hatte das Spiel verstanden und drückte ihre Wange in das Fell des Kätzchens. Und dann küsste sie das Fell der Katze auf ihrer Seite und der Mann ohne Namen drückte seine Wange in das Fell der Katze. Danach verabschiedete sich die junge Frau von ihm und sagte mehrmals: »Dann bis Samstag!« Einen Tag später erfuhren Mia und Marie, was es mit diesem Samstag auf sich hatte. Sie waren in einem anderen Dorf auf der Suche nach Fischbrötchen und waren aus Versehen in ein verlassenes Industriegebiet geraten, als plötzlich der Mann ohne Namen mit dem Fahrrad auf sie zukam. Er musste sie schon vorher beobachtet haben. Denn sonst schien es niemanden hierher zu verschlagen. Er bremste, blieb abrupt vor ihnen stehen und lud sie ganz unvermittelt zu einer Party ein. Am Samstagabend gäbe es ein Fest im Dorf. Es berührte Marie, dass er sein Interesse so offen vor sie hinlegte, wie eine Katze jemandem eine Maus vor die Füße legte. Es kam ihr so vor, als könne der Mann bei ihr einen Glücksschalter bedienen, jederzeit alles leichter und heller machen. Sonst käme hier wahrscheinlich niemand auf die Idee zwei Touristinnen auf ein Dorffest einzuladen. Man hält hier die Touristen eher auf Distanz, es sei denn man kann mit ihnen Geld verdienen. Aber dem Mann ohne Namen waren solche Konventionen schnuppe. Marie erfreute sich mehr an ihm, als an der schönen Landschaft. Heidekraut, Fichten, Kiefern und der weiße Strand waren für sie zweitrangig. Er wollte sie dabei haben und das war großartig. Punkt. Mia und Marie bedauerten, dass sie für diesen Tag schon ihre Rückfahrt gebucht hatten. Viel lieber hätten sie ihm zugesagt. Hätten mit ihm das Tanzbein geschwungen. Der Mann radelte danach grußlos weg. Aber schon eine Stunde später sahen sie ihn wieder. Er kam die Hauptstraße entlang und stoppte vor dem Restaurant, in dem sie gerade Kaffee und Kuchen zu sich nahmen. Als er die paar Stufen, die zur Terrasse führten, hoch eilte, winkte ihm Marie erfreut zu. Er aber warf ihr keinen Blick zu und sagte nur: »Dich habe ich heute schon gesehen. Du interessierst mich jetzt gar nicht.« Seine Worte lösten bei Marie Heiterkeit aus. Sie musste lachen. Am Abend sahen sie den Mann ohne Namen dann noch einmal in dem Dorf, in dem sie wohnten, am Hafen. Er fuhr mit einem Motorboot aufs Meer hinaus und warf die Fischreste von einem Restaurant ins Wasser. An ihrem letzten Abend gingen sie deswegen noch einmal zum Hafen. Sie hofften, sie könnten mit ihm ein wenig aufs Meer hinausfahren. Als sie ankamen, war er schon da. Sie setzten sich auf eine Bank und der Mann ohne Namen fuhr mit dem Fahrrad herum. Marie grüßte ihn jedes Mal, wenn er bei ihnen vorbeikam. Das erste Mal schüttelte er bloß den Kopf und rief: »Nein, nein, nein!«. Und das zweite Mal, sagte er: »Ja, ja, ja.« und kam ein paar Minuten später zu Fuß in ihre Richtung gelaufen. Er blieb dann aber bei einem fest installierten Mülleimer stehen und tat so, als müsste er dort etwas kontrollieren oder vielleicht kontrollierte er dort auch wirklich etwas. Als Marie sich sicher war, dass er sie hören konnte, fragte sie ihn, ob sie heute mit ihm und dem Boot ein wenig aufs Meer hinausfahren könnten. Das würde sie sehr freuen. Der Mann ohne Namen kam näher, setzte sich neben Marie auf die Armlehne der Bank, sah Marie eindringlich an und sagte: »Aber warum hast du das denn nicht schon früher gesagt!« Seine Stimme war sanft. Alles war gut zu verstehen. Keine Silbe war verschluckt oder ausgelassen worden. »Du warst also heute schon draußen!«, fragte Marie. Er nickte. »Na dann«, sagte Marie, »machen wir das im nächsten Jahr!«. Der Mann ohne Namen verdrehte die Augen, eigentlich nur eines, das andere drehte sich ja schon von alleine und sagte: »Ich habe doch keine Ahnung, wo ich nächstes Jahr bin!« Marie fragte nach, ob er sich denn oft in dem anderen Dorf aufhalten würde, wo sie ihn bei dem Restaurant gesehen hatten. Ja, sagte er, er würde jeden Tag dorthin radeln, dort seien seine Chancen jemanden zu finden viel höher als hier.
Dieser Mann ohne Namen hat sich in Marie hinein geschlichen und wohnt jetzt bei ihr. Jede Erinnerung an ihn fühlt sich gut an. Ungefähr so, wie wenn sie ihre Hand auf einen warmen Laib Brot legt. Marie hätte sich eine letzte Begegnung gewünscht. Aber der Mann ohne Namen kam nicht zum Hafen, als ihre Fähre abfuhr. Das Leben ist so eigenartig, denkt Marie, manchmal spielt es einem etwas zu und dann liegt es nur an einem selbst, ob man mitspielt oder nicht.

 

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Lebensentwürfe # 31 (Beate trennt sich von Klaus …)

Lebensentwürfe # 31

Marie läuft mit der Masse durch die Ankunftshalle Richtung Ausgang. Es werden Durchsagen gemacht, keine betrifft sie. Das Gewicht ihrer Reisetasche lastet auf der rechten Schulter. Sie hängt sie um, den Riemen auf die linke Seite. Im Gehen. Sie will keine Zeit verlieren. Endlich sieht sie die Rolltreppe. Marie lässt sich nach unten fahren und spürt ihre trockenen Lippen. Von der Luft im Flugzeug. Der obere und untere Rand brennen. Im mittleren Teil stehen Hautfetzen ab. Marie zupft sich ein paar von den abstehenden Teilen ab und lässt sie in den Spalten der Rolltreppe verschwinden. Dann befeuchtet sie ihre Lippen mit der Zunge. Speichel hilft aber nicht mehr. Fett wäre besser. Sie bräuchte ihren Balsam, der in ihrem Kulturbeutel liegt. Gerade als sie sich entscheidet in ihrer Tasche nach ihm zu kramen, entdeckt sie ein paar Stufen unterhalb von ihr, Beate. Sie weiß, dass es nur sie sein kann. Der teure und nachhaltige Kleidungsstil. Die gut geschnittenen Haare und die Art, wie sie dasteht. So überaus selbstbewusst. Beate würde man sofort einen hohen Posten anbieten und sie würde ihn auch managen. Nicht so wie ich, denkt Marie. Sie steigt die paar Stufen nach unten und tippt Beate auf die Schulter. Beate dreht sich um. »Das darf doch nicht wahr sein, was für ein Zufall! Treffen wir uns ausgerechnet hier am Flughafen! Wie gehts dir denn?« Marie schlägt vor, in den nächsten Tagen mal zu telefonieren, denn jetzt müsse sie schnell den Regionalexpress erwischen. Beate unterbricht sie: »Das kommt überhaupt nicht in Frage, wir nehmen dich im Auto mit. Klaus wartet schon auf dem Parkplatz!« Marie protestiert, sie wohnt in einem ganz anderen Stadtteil als die beiden. Beate hakt sich bei Marie unter und sagt: »Du büchst mir jetzt nicht aus, nachdem wir uns so lange nicht gesehen haben! Klaus fährt dich gerne nach Hause. Basta!« Beate zieht sie Richtung Parkplatz und Marie gibt ihr Widerstreben auf. »Stell dir vor«, sagt Beate, »ich komme gerade aus Paris. Ich habe dort zehn wundervolle Tage mit meinem Geliebten verbracht. Weißt du, diese Tage waren für uns eine Art Testlauf. In einem gemeinsamen Urlaub kann man am besten herausfinden, ob man gut zusammen passt. Und nun finden wir, dass das Aussicht auf was Festes hat. Ich bin so aufgeregt. Sobald wir dich nach Hause gebracht haben, werde ich Klaus sagen, dass ich die Scheidung einreiche und morgen zieh ich dann erst einmal zu einer Freundin nach Hamburg.« Marie sieht in Beates fröhliches Gesicht und registriert ihren Lippenstift. Er ist perfekt aufgetragen. Nicht einmal der kleinste abstehende Hautfetzen ist zu sehen. Wie immer. Beate zwinkert Marie zu und steuert einen dunkelblauen Audi an. Klaus steigt aus, begrüßt Marie erfreut und schnappt sich dann Beates großen Koffer. Beate macht ebenfalls einen Schritt auf den Kofferraum zu, um ihre Duty-Free Tüte zu verstauen. Beates und Klaus’ Hand kommen sich nahe. Für einen kurzen Moment glaubt Marie, dass gleich ihre Eheringe gegeneinander stoßen und dann aufplatzen, weil sie es auch schon wissen. Auf Maries Unterarmen stellen sich Haare auf. Beate lässt Klaus wissen, dass sie Marie nach Hause fahren werden. Klaus nickt und sagt: »Das machen wir doch gerne, gib mir deine Tasche, ich verstaue sie auch im Kofferraum!« Nachdem Klaus den Kofferraumdeckel zugeschlagen hat, streichelt er Beate sanft über den Rücken. Marie wird rot. Es ist ihr sehr unangenehm, Komplizin zu sein. Klaus geht seitlich am Auto entlang und öffnet Beate die Beifahrertür. Marie öffnet sich selbst die Tür und steigt hinten ein. Während Klaus zur Fahrertür geht, muss sie ununterbrochen daran denken, was ihm heute noch bevorsteht. Sie würde ihm gerne helfen. Klaus steigt ein, schnallt sich an, fährt los, und fragt Beate, wie es in Paris war. Marie starrt auf das Display ihres Telefons und hätte jetzt gerne ihre Kopfhörer da. Die könnte sie sich aufsetzen. Sich einfach die Ohren zuhalten dürfen nur Kinder.

 

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Lebensentwürfe # 29 (Die Therapeutin, warum sagen Sie nichts …)

Lebensentwürfe # 29

Die Therapeutin wendet ihren Blick von Sebastian ab, sieht auf die Uhr und sagt: »Die Stunde ist in ein paar Minuten schon wieder zu Ende, davor möchte ich aber noch eine Übung mit Ihnen machen, bitte legen Sie sich auf das Sofa!« Sebastian nickt. Er sitzt auf einem quadratischen Polster, das auf dem Boden liegt. Er stützt sich mit den Händen seitlich auf dem Boden ab, steht auf und geht Richtung Sofa. Er will der Aufforderung seiner Therapeutin nachkommen. Das Sofa steht an der Wand neben der Tür. Kurz davor bleibt er stehen und zupft seinen Hosenbund zurecht. Die Hose war ihm beim Aufstehen etwas nach unten gerutscht. Dann legt er sich auf den Rücken und seine Arme seitlich neben den Körper. Er wartet. Seine Therapeutin schweigt. Das wundert ihn. Er schweigt auch. Nach einer Minute sagt sie, er habe überhaupt nicht nachgefragt, worum es bei der Übung gehe. Er liefere sich ihr einfach aus. Auch Sebastian fällt jetzt auf, dass er sich sofort ergeben hat, so, als sei es einfach seine Pflicht zu gehorchen. »Warum«, sagt seine Therapeutin, »fragen Sie nicht nach, um sich abzusichern?« Sebastian kann ihr das nicht beantworten, aber er kennt das Gefühl. Das Gefühl etwas befolgen zu müssen, egal wie schlimm es dann für ihn ausgehen könnte. Die Therapeutin sagt: »Sie haben sich wie ein Schlachtpferd verhalten. Wie fühlen Sie sich denn jetzt?« Sebastian sagt: »Ich liege angespannt da und versuche mich zu entspannen.« Die Therapeutin antwortet: »Sie brauchen sich nicht zu entspannen. Nehmen Sie nur wahr, dass Sie angespannt daliegen, in Erwartung dessen, was nun auf Sie zukommt. Denn Sie wissen ja immer noch nicht, was gleich auf Sie zukommen wird.« Sebastian spürt eine Erleichterung. Er darf angespannt bleiben. Zumindest das gelingt ihm gut.

 

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