Alltag # 34
Heute kein Ausflug der Gefühle. Heute sitzen sie im Kühlschrank. Hoffentlich haltbar.
Sebastian betritt die Bäckerei. Es ist morgens um acht. Stoßzeit. Drei Verkäuferinnen arbeiten hinter der Theke. Vor ihm müssen noch sieben Personen bedient werden. Sebastian möchte unbedingt die S-Bahn um sieben nach noch erwischen. Endlich ist er dran. Die Verkäuferin, die ihn bedient, ist neu. Sie ist in Sebastians Alter, hat ein ebenmäßiges Gesicht, dunkle glatte Haare, ungezupfte Augenbrauen und trägt auf ihrem Unterarm ein Tattoo. Eine schwarze Lilie. Sebastian bestellt bei ihr einen doppelten Espresso. Die Verkäuferin befüllt ein Sieb, streift das überflüssige Kaffeepulver ab, drückt das Kaffeepulver fest und setzt das Sieb ein. Beide, die Verkäuferin und Sebastian beobachten wie ein dünnes schwarzes Rinnsal aus der Tülle des Siebträgers läuft. Die Verkäuferin zieht den Pappbecher unter der Maschine hervor und fragt Sebastian, ob er noch etwas von der warmen geschäumten Milch in seinen Espresso haben möchte. Wie charmant, denkt Sebastian, sie will meinen Espresso aufwerten. Solch großzügiges Verhalten löst bei Sebastian ganz schnell ein Gefühl von Wärme aus. Sebastian lächelt die Verkäuferin an und nickt. Die Verkäuferin hält das Milchgefäss schräg, löffelt extra viel Milchschaum in Sebastians Kaffeebecher und nennt Sebastian den Preis für einen doppelten Espresso. Sebastian legt Kleingeld auf die Theke, sagt: »Stimmt schon!« und greift nach dem Becher. Sebastian tritt ins Freie, geht zum nächsten Straßenbaum und kippt den Espresso Macchiato aus. Die Grashalme verfärben sich braun. Sebastian hasst heiße Milch. Schon alleine bei der Vorstellung, dass die Kapillaren auf seiner Zunge alle Nuancen von Milch wahrnehmen müssen, wird ihm übel. Sebastian überlegt, ob er morgen in eine andere Bäckerei gehen soll. Auch wenn diese dann nicht so direkt auf dem Weg zur S-Bahn liegt.
Sebastian steht auf dem Bahnsteig. Die morgendliche Sonne wärmt sein Gesicht. Neben dem Gleis, auf dem die S-Bahn fährt, die ihn jeden Tag mitnimmt, ihn jeden Tag einsteigen lässt, gibt es ein weiteres Gleis. Meistens passiert auf diesem zweiten Gleis nichts. Ab und an sieht Sebastian dort einen ICE vorbeifahren. Einem ICE schenkt Sebastian keine Aufmerksamkeit. Seine Fenster machen alles so durchschaubar. Aber heute braust mit hoher Geschwindigkeit eine Lock heran. Eine pechschwarze. Luft wird verdrängt, zusammen gepresst und streift als Fahrtwind Sebastians Nase. Der Saum seiner offenen Jacke weht von seinem Körper weg. Sein Hemd wird leicht aufgebläht. Nicht enden wollende rostfarbene Wagons rasen vorbei. Das fensterlose fasziniert Sebastian. Weder ist erkennbar was transportiert wird noch aus welchem Land die Güter stammen. Sebastian versucht ein paar Aufschriften auf den Container zu entziffern. Es gelingt ihm nicht. Der Zug ist zu schnell. Sebastian horcht auf das Geräusch, das die Räder in Verbindung mit den Gleisen machen. Das so typische Rattern. Sebastian lässt den metallischen Sound in jede Pore seines Körpers eindringen. Wenn er könnte würde er die Töne auffangen, in Behälter packen und mitnehmen. So sehr liebt er diesen Ton. Ein Ton des Ungebundenseins. Ein Transportzug mit Gütern braucht nicht stehenzubleiben. Er muss weder hier anhalten noch im nächsten Bahnhof. Noch nicht einmal in der nächsten oder übernächsten Stadt. Er rauscht einfach vorbei. An allem.
Es gibt Menschen die tragen und Menschen die lasten. Bei Marie gehört der Nachbar, der so oft im Hinterhof herumsteht, definitiv zu denen die lasten.
Wenn ich keine Lust mehr auf ‚aber‘ habe, dann sage ich ‚und‘.
Der Tag ist schön. Die Luft ist mild. Ich sitze am Ufer auf einer Parkbank, betrachte ein weißes Segelboot, wie es sich elegant fortbewegt, nur vom Wind angetrieben. Das macht mich glücklich. Ich kann schöne Dinge beobachten und muss nicht dabei sein.
Ich versuche mich immer noch in mein Leben einzuleben. Als wäre das Leben ein Job, den ich angenommen habe. Ich will mehr Geld, Gold, Glanz.
Neunzehn Uhr. Maries Telefon piept. Eine SMS. Sebastian will wissen ob Marie mitkommen wolle, Freunde von ihm zeigen den Film über das schwer erziehbare Kind. Um zwanzig Uhr gehe es los. Marie sieht sich auf You Tube den Trailer an. Der Film lässt Marie kalt. Sebastian zu sehen nicht. Marie versucht sich mehr dafür zu interessieren, was Sebastian interessiert. Es gelingt ihr nicht.
Heute fühlt sich das Leben gut an. So, als würde das, was in einem angelegt ist, auch aufgehen.
Sebastian wirft Annas Zahnbürste weg. Seit Monaten steht sie unbenutzt neben seiner. Die Zahnbürste konnte er jeden Tag sehen. Anna nicht mehr.
Sebastian hält ein DIN-A-4 Kuvert in der Hand. Sein Vater hat ihm etwas geschickt. Das Kuvert ist in der Mitte ausgebeult. Sebastian schneidet das Klebeband mit einem Cutter auf und zieht aus dem mit Luftpolsterfolie ausgekleidetem Umschlag ein kleines Päckchen heraus. Etwas wurde in Papiertücher eingewickelt und dann in einen Gefrierbeutel mit Schiebeverschluss gelegt. Sebastian sieht an manchen Stellen Gold durchschimmern. Er greift nach der beigelegten Klappkarte. Auf der Vorderseite ist ein Aquarell zu sehen. Eine Landschaft mit einem blühenden Kirschbaum. Am oberen Rand wurde noch ein Wort hin gedruckt. In den Himmel hinein. Frühling steht da. Sebastian öffnet die Karte und liest: Ich war beim Zahnarzt. Das sind meine alten Goldkronen. Ich kann sie nicht mehr brauchen. Vielleicht hast du Verwendung dafür.