Alltag # 57 ( Radiergummi Karteikarte…)

Alltag # 57

Ich greife nach dem Radiergummi und wusle einen Satz von der Karteikarte. Er ist unnötig. Eine Spur von warm geriebenem Gummi verbreitet sich in der Luft. Nach mehrmaligem Reiben ist die Karteikarte wieder leer und auf ihr sind nur noch zartblaue Linien zu sehen. Sie wurden auf das Papier gedruckt, um der Karte Struktur zu geben. Eine, die ich meistens nicht berücksichtige. Die Hilfestellung zu übersehen macht mir mehr Freude als sie zu benutzen. Neben der Karteikarte liegen gräulich eingefärbte Gummibrösel. Ich schätze so fünfzig bis hundert. Nun haben die Brösel den Satz und verbergen ihn vor der Welt. Und sie werden diesen Satz nicht wieder hergeben. Dieser Satz kommt nie mehr aus ihnen heraus. Unter keinen Umständen kann er zurück aufs Papier kriechen. Dabei können die Brösel den Satz weder verdauen noch ausscheiden, noch sich an ihn erinnern. Nur ich kann das. Ich könnte ihn sofort wieder aufschreiben. Das würde ich aber nur tun, um ihn gleich wieder zu verwerfen. Denn es liegt ganz bei mir. Wieder einmal nur an mir, zu entscheiden, was Bestand haben wird und was nicht.

 

Alltag # 58 ( Schnecken text..)

Alltag # 58

Marie trug schon mal das Tablett auf die Terrasse, stellte es auf dem Stuhl ab und räumte die darauf abgestellten Dinge auf den großen Tisch mit der Glasplatte. Teller, Besteck, einen vollen Brotkorb, gekochte Eier, Gläser, die Karaffe mit dem frisch gepressten Orangensaft, in dem ein paar Eiswürfel schwammen, Butter, Salz und Servietten. Sie lehnte das Tablett gegen die Hauswand und warf einen Blick in Hannahs bezaubernden Garten. Betrachtete einzelne Bäume, knuddelige Büsche, Hannahs Kräuterbeet und rief dann durch die offene Terrassentür: »Brauchst du noch Hilfe?« »Nein«, sagte Hannah, »ich komme auch gleich, ich gehe nur noch kurz ins Bad!« Marie setzte sich in den Lehnstuhl aus Rattan und sah, wie eine rotbraune Nacktschnecke an ihr vorbei kroch. Marie verfolgte die weißlich transparente, leicht glänzende Schleimspur. Sie führte bis zum Garten zurück. Marie verstand nicht, was die Schnecke auf der Terrasse wollte. Sie kroch über trockene Holzbretter Richtung weiß verputze Hauswand. Marie fragte sich, ob die Schnecke sich dabei was gedacht haben könnte. Hier oben gab es aber nichts außer ein paar Stühlen, den großen Tisch, den kleinen Tisch und die Hauswand. Noch war es zwar schattig hier, aber nur, weil die Sonne noch vor dem Haus stand. In drei Stunden, wenn sie es übers Dach geschafft hat, wird es hier oben so heiß, dass man sich die Fußsohlen auf dem dunklen Holzboden versengt, wenn man barfuß rüber läuft. Hier wird die Schnecke austrocknen, dachte Marie, oder wegen eines Sonnenstichs ohnmächtig werden. Marie fragte sich, ob sie etwas übersah. Da ihr aber nichts einfiel, was Sinn ergeben hätte, stand sie auf, ging zur Schnecke hinüber, packte sie am Rücken und setzte sie im noch leicht feuchten Gras ab. Marie wischte sich die Hand am Rock ab, setzte sich wieder hin und war mit sich und der Welt zufrieden. Wenn nur alle Hilfsaktionen so einfach wären, dachte sie, und griff nach der Karaffe, um schon mal für Hannah und sich Orangensaft einzugießen. Marie nahm einen Schluck, genoß die kühle Flüssigkeit und den säuerlichen Geschmack, der sie wach machte, und blickte zurück in den Garten. Eine Elster landete. Genau an der Stelle, wo sie die Schnecke abgesetzt hatte. Sie pickte nach etwas. Die Schnecke landete in ihrem Schnabel und die Elster flog mit ihr auf und davon. Das Ganze hatte nicht länger als eine Sekunde gedauert. Marie wusste nicht, was sie nun denken sollte. Hannah kam auf die Terrasse. In ihrer Hand der Espressokocher. Ohne zu wissen, welche Machenschaften der Natur sich hier gerade abgespielt hatten, setzte sie sich in den zweiten bequemen Korbstuhl und verteilte lächelnd Kaffee auf zwei Tassen.

 

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Alltag # 59 (Kaffee läuft aus der Maschine …)

Alltag # 59

Gerade erst hat der Kaffee angefangen aus der Maschine zu laufen und schon gibt es eine Person in seiner Nähe, die über ihn bestimmen wird. Das war bei mir und meiner Mutter nicht anders.

 

Alltag # 52 ( Sebastian und die Pfütze…)

Alltag # 52

Vor einer Minute hatte Sebastian an der Gegensprechanlage den Hörer abgenommen und die Stimme der Paketbotin gehört. Sie klang sanft und fröhlich beschwingt. Er hatte auf den Knopf gedrückt und das Summen des Türöffners gehört. Doch die Tür ging nicht auf. Auch bei wiederholtem Drücken nicht. Sebastian lief die Treppen hinunter und war wütend auf sich. Er hatte die Wohnung mit Hausschuhen verlassen. Er war immer wütend auf sich, wenn er es nicht geschafft hatte, zwei unterschiedliche Bedürfnisse miteinander in Einklang zu bringen. Er konnte es nicht ausstehen, wenn er jemanden zumuten musste, auf ihn zu warten. Er wollte sich aber auch seine Sneaker anziehen, was Zeit in Anspruch genommen hätte. An jedem anderen Tag genoß Sebastian es, die vier Stockwerke rauf und runter zu laufen. Für ihn war das ein Konditionstraining, das ihm gut tat. Aber heute kam keine Freude an seinem Treppentraining auf. Denn schon als er am Morgen zum Bäcker gegangen war, hatte er die Pfütze gesehen und vor allem gerochen. Im Moment roch es noch nach Fett. Nach ranzigem abgestandenem Frittierfett aus der Wohnung im ersten Stock, aber gleich wird seine Nase den anderen Geruch wahrnehmen. Und da war er auch schon, der Uringeruch. Sebastian erreichte das Erdgeschoß, bog um die Ecke und sah sie wieder, die gelbe Lache, die sich direkt vor der Haustür ausbreitete. Sebastian konnte nur Vermutungen anstellen warum sie genau da gelandet war. Er dachte, dass entweder irgendein Mieter mit dieser Aktion der Menschheit etwas heimzahlen wollte, oder dass jemand nachts nicht aufstehen wollte, um mit dem Hund Gassi zu gehen. Nichts davon konnte er überprüfen. Und die Mieter vom Haus, die er kannte, wussten auch nicht, von wem die Pfützen stammen. Man wusste nur, dass man sie zwei bis dreimal im Monat zu ertragen hatte. Obwohl die Hausverwaltung diesbezüglich schon mehrere Schreiben erhalten hatte, unternahm sie nichts. Und da auch diese Lache wieder niemand wegwischen wird, wird sie ganz langsam im Laufe der nächsten Tage austrocknen, bis nur noch die weißen Ränder an sie erinnern. Und die verschwanden erst dann, wenn die wöchentliche Hausreinigung kam. Sebastian stöhnte. Die heutige Lache kam ihm noch weitläufiger vor als frühere. Die Gummisohlen seiner Sneaker hätte er abwaschen können, doch die Sohlen seiner Hausschuhe bestanden nur aus einer dünnen Filzschicht, die jederzeit bereit war jegliche Art von Flüssigkeit aufzusaugen. Sebastian näherte sich der Haustür auf Zehenspitzen. Er wollte der Lache wenig Gelegenheiten für Berührungen bieten. Hinter der Glasscheibe, die in die Haustür eingelassen war, sah er die Konturen der Paketbotin. Er biß die Zähne zusammen, stieg so gut es ging über die Pfütze, drückte die Klinke nach unten und verlor die Balance.

 

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Alltag # 53 (Marie und die Socken ..)

Alltag # 53

Marie greift mit der Hand an ihre Füße. Beide sind kalt. So kalt wie Gemüse aus dem Kühlschrank. Marie sorgt sich wegen ihrer kalten Füße und denkt an Socken. Sie liegen im Schrank. Fein säuberlich zusammengefaltet in einem Karton. Nach der Aufräummethode von Marie Kondo. Marie weiß, dass Strümpfe die Kälte aus ihren Füssen vertreiben können. Sobald sie in Stoff eingepackt sind, können die Füße die Wärme wieder für sich behalten und müssen sie nicht weiter an die Umgebung abgeben. So einfach ist das, denkt Marie, und ruft nach ihren Socken. Genau genommen nach den dunkelblau melierten. Sie ist sich sicher, die Socken hören sie, auch wenn die Schranktür zu ist. Marie hat ihre Lautstärke angepasst. Die Socken rühren sich jedoch nicht. Sie drücken die Schranktür nicht auf. Und Marie tut das auch nicht. Im Moment will keiner auf sein passives Dasein verzichten.

 

Alltag # 51 ( Marie knirscht mit den Zähnen..)

Alltag # 51

Marie knirscht nachts mit den Zähnen. Der Zahnarzt hat ihr eine Schiene verschrieben. Dass ihr Kiefer durch eine Vorrichtung in eine Form gepresst werden soll, findet Marie unerträglich. Marie hat die transparente Schiene in eine Schachtel gelegt und lässt sie dort liegen, im Dunkeln ohne Aussicht auf Tageslicht. Marie knirscht nun weiter mit den Zähnen. So können die Zähne an etwas arbeiten. Dinge von einer ihr unbekannten Liste abarbeiten. Marie ist das lieber, als der totale Stillstand, den ihre Zähne in der Schiene erleben würden.

 

Alltag # 48 ( Regen Regenschirme Frühstücken…)

Alltag # 48

Es ist Vormittag neun Uhr und es regnet. Marie geht in die Küche und öffnet die Kühlschranktür. Eine gähnende Leere schlägt ihr entgegen. Das Glas Bärlauchpesto und die halb volle Tube Tomatenmark spenden ihr keinen Trost. Marie geht zur Spüle, öffnet die darunter liegende Schiebetür und greift nach der Einkaufstasche. Ein Stoffbeutel, der zusammengeknüllt in einem Eimer liegt. Zusammen mit ihm verlässt sie das Zimmer und erinnert sich daran, dass es ja regnet. Marie blickt zum Wandschrank am Ende des Flurs. Im untersten Fach liegen Regenschirme. Zwei davon sind kaputt. Bei einem ist der wasserabweisende Stoff an zwei Stellen nicht mehr mit den Enden der Speichen verbunden. Nun schiebt sich der Bezug nach oben. Fast bis zur Mitte hin. Beim zweiten Schirm sind während eines Unwetters ein paar Metallstreben nach oben geknickt. Der lässt sich nicht mehr automatisch öffnen, geschweige denn schließen. Und außerdem bietet er so nur noch Schutz für eine Körperhälfte. Entweder schützt er die linke Schulter oder die rechte, je nachdem wie man ihn in der Hand hält. Aber solange er noch einen Teil von Maries Körper trocken halten kann, will sie ihn nicht wegwerfen. Auch hat sie vor, beide wieder auf Vordermann zu bringen. Dass das möglich ist, hat sie schon im Internet herausgefunden. Und der letzte Schirm hat einen gräßlichen Bezugsstoff. Sein Anblick schmerzt Marie jedesmal aufs Neue. Aber ansonsten ist er kerngesund.
Es fehlen hauptsächlich Frühstücksdinge, denkt Marie: Haferflocken, Obst, Brot, Butter, Joghurt, Milch. Marie stellt sich vor, den hässlichen Schirm im Wandschrank zu lassen und nichts zu frühstücken oder in ein paar Minuten Kaffee ohne Milch zu trinken und Marmelade aus der Hand zu schlecken, wie ein Hund. Maries Stimmungsbarometer klettert nicht einmal fünf Prozent nach oben. Marie zieht das Telefon aus der Hosentasche. Laut App regnet es gerade zu hundert Prozent und das soll auch die nächsten Stunden noch so bleiben. Marie geht an ihren Halbschuhen vorbei Richtung Küchenfenster. Sie will überprüfen, ob die Vorhersage auch mit dem übereinstimmt, wie das Wetter tatsächlich ist. Marie wirft einen Blick in den Hinterhof. Die Regentropfen hämmern so stark gegen die Glasscheiben, als wollten sie lauthals um Einlass bitten. Marie lässt sie draußen, setzt sich an den Küchentisch, hängt den Einkaufsbeutel über die Stuhllehne und erinnert sich an die Zeit, in der ihr Verhältnis zum herunterfallenden Wasser noch anders war. Als Jugendliche fuhr sie ab und zu mit dem Fahrrad zur Schule und manchmal wurde sie dabei vom Regen überrascht. Sie mochte es, wenn der Regen ihre Kleidung schwer machte. Wenn ihre Hose, ihre Bluse, ihr T-Shirt, ihre Socken an Gewicht zunahmen. Wenn die Kleidungsstücke zudringlich wurden, ja sogar aufdringlich, war das für Marie eine willkommene Abwechslung zum restlichen, so streng regulierten Alltag. Aber dann kam das mit Tschernobyl und seitdem hat Marie immer Schirme im Haus. Immer gleich mehrere. Auch Marie hat die Regeln, die damals erlassen wurden befolgt. Auch sie hat es vermieden bei Regen das Haus zu verlassen. Dass man damals im Radio den Regen so schlecht machte, hinterließ bei ihr jedoch Spuren. Dabei war es gar nicht die Schuld des Regens. Dennoch ist ihre Freude am Klatschnaßwerden nicht wieder zurückgekommen. Marie greift erneut nach ihrem Telefon. Sie wird sich Lebensmittel ins Haus liefern lassen. Dafür ist jetzt genau der richtige Zeitpunkt, sagt sie sich.

 

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Alltag # 49 ( Sich mit Verlangen vollzustopfen macht…)

Alltag # 49

Sich mit Verlangen voll zu stopfen, macht wenigstens nicht dick.