Alltag # 17 (Gerhard…)

Alltag # 17

Erinnere ich mich an Gerhard, geschieht das von selbst, ganz ohne mein Zutun. Ich ermahne mich nicht. Benötige keine Notizen oder Daten. Das was sich mir eingeprägt hat, verlässt mich nicht. Über die Jahre tauchen die Erinnerungen zwar weniger oft auf, doch die Intensität bleibt. Dachte ich zu Anfang jeden Tag an ihn, ist es inzwischen nur noch einmal alle zwei Monate. Gestern blitzen wieder ein paar Bilder auf. Zwischen Schwammausdrücken und Geschirrtuchaufhängen. Gerhard und ich aßen zu Mittag irgendwo im Prenzlauer Berg. Wir saßen uns gegenüber. Er hatte seine dichten Haare nach hinten gekämmt, trug einen hellen Norwegerpullover, eine Brille die mich an Foucault erinnerte und sagte: »Meine kleine Tochter liebt meinen Bauch. Nach dem Aufwachen, wenn ich noch im Pyjama bin, spielt sie mit ihm. Bläst hinein und freut sich über die Töne die sie durch das Blasen auf die zusammengedrückten Fettrollen erzeugen kann. Ich finde meinen Bauch nicht so toll. Deswegen jogge ich jetzt.« Und gleich danach fiel mir unser letzter Abend ein. An dem Tag wollte ich zum Theatertreffen. Wollte mir ein Stück ansehen, das schon seit mehreren Tagen ausverkauft war. Wenn man noch Karten ergattern wollte, musste man mindestens zwei Stunden vorher an der Abendkasse anstehen. Gerhard meinte, dass er selbst keine Zeit habe, sich um Karten zu kümmern, aber mitkommen wolle er, denn er habe in der Zeitung gelesen, dass das Stück hervorragend sei. Ich hatte keine Lust Gerhards Laufmädel zu sein, verkündete aber dennoch, dass ich mich auch alleine anstellen würde. Gerhard freute sich. »Super«, sagte er. Er war zufrieden mit mir. Ich jedoch nicht mit ihm. Ich konnte es nicht ausstehen ohne Gesprächspartner Schlange stehen zu müssen. Für eine Änderung war es jedoch zu spät. Unmöglich Gerhard nun einzureden, dass er nun doch nur kommen könne, wenn auch er mit anstehen würde.    
Restkarten zu bekommen schüttet bei mir Adrenalin aus. Bei Gerhard tat es das auch oder er ließ sich von mir anstecken. Euphorisch saßen wir in der ersten Reihe und knufften uns, soviel überschwängliche Energie hatten wir abzubauen. Nach einer Stunde war uns langweilig. Das Stück dauerte noch weitere zwei. Wieder im Freien, zündete er sich eine Zigarette an, und sagte, dass es ihm um seine verlorene Zeit leid tue, und dass das noch untertrieben sei. Er ärgere sich grün und blau, dass er nicht gegangen sei. Er hasse es, Zeit zu verplempern. Und wie viel schöner es gewesen wäre, mit mir ein Bier trinken zu gehen. »Dann lass uns doch jetzt noch an die Bar gehen.« Nein, meinte Gerhard, er hätte jetzt schon zu viel Lebenszeit verplempert, er wolle lieber nach Hause und weiter an seinem Film arbeiten. Wir könnten uns ja in den nächsten Tagen wieder treffen. Ich fand das doof, weil ich nicht so unbefriedigt nach Hause gehen wollte. Gerhard schlug vor, noch gemeinsam zur U-Bahn zu laufen. Zum Abschied küssten wir uns auf die Wangen. Zwei Wochen später, bekam ich einen Anruf von einer mir unbekannten Nummer. Ein gemeinsamer Freund sagte mir, Gerhard sei gestern von einem Parkhaus gesprungen. Der Parkwächter habe ihn auf dem Monitor der Überwachungskamera gesehen und habe sich nichts dabei gedacht. Gerhard habe da gestanden, am Rand, habe sich eine Zigarette angezündet, sie geraucht und sei dann gesprungen. Ich weiß nicht, wer es seiner Tochter mitgeteilt hat.

Alltag # 12 (Sebastain erinnert sich an Anna…)

Alltag # 12

Sebastian denkt wieder und wieder und wieder an Anna. Er denkt vorallem an die schöne Zeit, die sie als Paar zusammen verbracht haben und ärgert sich. Andere können das doch auch, hält er sich vor, Erinnerungen zusammenknüllen und wegwerfen. So, als gehörten sie zum Altpapier. Als seien das alles nur Berichte, die man getrost der Vergangenheit überantworten kann. Aber er schafft das nicht, alle die Erinnerungen einfach dahin zu bringen, wo sie hingehören. In die Zeit, die bereits untergegangen ist.

Alltag # 13 (Marie und Fahrrad im Hinterhof…)

Alltag # 13

Noch vor ein paar Wochen verließ Marie, wenn sie ihr Fahrrad brauchte, einfach ihre Wohnung und ging in den Hinterhof hinunter. Ohne sich groß Gedanken zu machen, ging sie zu den Fahrradständern, öffnete das Bügelschloss, verstaute es im Korb und schob ihr Fahrrad aus dem Hinterhof. Diese Unbeschwertheit gibt es nicht mehr. Ist perdu. Nun verhält es sich so, dass Marie, bevor sie die Wohnung verlassen will, sich zuerst ans Küchenfenster stellt und in den Hof hinuntersieht. Die Lage checkt. Sie will herausfinden wer sich gerade im Hof aufhält. Und wenn dort der Mann steht, der sie immer in ein Gespräch verwickelt, geht sie nicht hinunter. Dann wartet sie solange, bis er nicht mehr dort steht oder nimmt die U-Bahn.