Bei Sebastian gibt es zwei Arten von Geschenken. Geschenke, die ihn erwärmen und Geschenke, die ihn kalt lassen. Kann er mit einem Geschenk nichts anfangen, wirft er es ohne zu zögern in einen leeren Umzugskarton. Er behält nichts aus Höflichkeit oder Wohlwollen. Ist der Karton voll, stellt er ihn auf die Straße und die Dinge müssen dann selbst für ihren Umzug in ihr neues Zuhause sorgen.
Sebastian liegt auf dem Sofa. Die Erzählung spricht ihn an. Gerade erfährt er etwas von einem jungen Mann aus Griechenland. Die Autorin, eine New Yorkerin, war aus beruflichen Gründen nach Athen geflogen. Aber das Buch handelt von den Menschen, die ihr dort privat begegnet sind. Im Moment dreht sich alles um das erwachsene Kind einer Freundin der Autorin. Sebastian möchte noch mehr von dem schwierigen Sohn erfahren. Aber da ist auch die Müdigkeit. Seine Augenlider wollen schon nach unten. Lesen entspannt ihn. Oft auch zu gut. Er gibt ihrem Druck aber nicht nach und betrachtet die aneinandergereihten Buchstaben, die ab und zu von Leerstellen unterbrochen werden und dann sacken ihm doch seine Hände samt Buch nach unten. Er erschrickt, blickt auf, fokussiert den letzten Satz und beginnt ihn erneut zu lesen. Der Inhalt dringt nicht mehr bis zu ihm vor. Er gönnt seinen Augen einen kurzen Powernap. Innerlich zählt er bis zehn und reißt sie dann wieder auf. Aber die Buchstaben haben ihre Kontur verloren. Sebastian liest sie verschwommen. Er möchte wieder in Schwung kommen. Er will wissen, wie es mit dem jungen Mann weitergeht. Möchte alles von seiner Wut erfahren und wie er sie in der Öffentlichkeit geschickt versteckt, aber seinen Angehörigen gegenüber ständig zeigt. Nach zweimaligem Lesen des letzten Absatzes, weiß er immer noch nicht, was er da gerade gelesen hat. Er gesteht es sich ein, greift nach dem Teil des Einbandes, den er gerne als Lesezeichen benutzt, schlägt ihn ein und legt das Buch zur Seite. Er wird sich eine Tasse Kaffee machen. Vielleicht auch zwei. Dann wird das mit dem Lesen wieder klappen. Er wird jetzt gleich das Sieb der Espressokanne mit der neuen Kaffeeröstung befüllen. Um in die Küche zu kommen, muss er die Augen öffnen. Aber bevor er aufstehen wird, will er sie noch ein bisschen zu lassen. Er spürt Erleichterung. Spürt wie gut ihm das tut. Aber da ist auch der Wunsch Kaffee zu trinken. Er muss mehr Druck aufbauen. Die Lider gewaltsam hochstemmen. Sobald er steht, wird es gehen. Aber die Dunkelheit hinter den Lidern ist angenehm. Dieses Schwarz fühlt sich warm an. Sebastians Kopf sinkt nach hinten, landet auf der Rückenlehne seines Sofas. Er bemerkt noch, wie ausgezeichnet der Kopf auf diese Rückenlehne passt. Als wären sie füreinander geschaffen. Das nimmt er noch wahr. Dann Leere und Dunkelheit. Wann wird er wieder aufwachen? Ob die Müdigkeit das weiß? Vielleicht weiß sie etwas, was Sebastian nicht weiß. Wer weiß das schon.
Es ist Samstagabend. Sebastian möchte etwas essen, hat aber nichts zu Hause. Seine Vorräte sind aufgebraucht und den Wochenendeinkauf hat er noch nicht gemacht. Zum Supermarkt braucht er elf Minuten. Mit leerem Magen Lebensmittel einzukaufen, ist nicht ratsam. Wegen der vielen Produktangebote und dem gesteigerten Appetit kauft er dann zu viel. So viel, dass er es nicht vor dem Verfallsdatum aufessen kann. Außerdem sind an Samstagen die Schlangen an den Kassen besonders lang und er braucht jetzt schnell etwas zwischen die Kiemen. Zur Tankstelle sind es drei Minuten und dort gibt es keine langen Schlangen. Das ist die Lösung. Sebastian schlüpft in seine Schuhe und lässt die Jacke hängen. Für die kurze Strecke verzichtet er darauf sie mitzunehmen. Die Schiebetür der Tankstelle geht automatisch auf. Sebastian betritt mit einem Stoffbeutel den kühlen Minishop und beschließt, sich eine Brezel, eine Packung Butter und Eier zu kaufen. Vorne an der Theke stellt er fest, dass die Brezeln ausverkauft sind und entscheidet sich um. Er holt sich eine Tiefkühlpizza, bezahlt mit Karte und läuft zurück zur Wohnung. Die samstäglichen Eindrücke in seiner Straße deprimieren ihn. Die verkehrsberuhigte Zone. Die stillen Autos im Parkmodus. Der geschlossene Kindergarten. Die zugezogenen Vorhänge. Das Fehlen von Passanten. Er sperrt seine Wohnungstür auf und nimmt sich vor, gleich Marie anzurufen. Es wäre gut, heute noch etwas zu erleben. Sebastian schaltet den Backofen ein, holt die Pizza aus dem Karton, legt sie in den Ofen, wirft den Karton zum Altpapier, greift nach dem Telefon und zögert. Marie ist für kurzfristige Vorschläge meistens nicht zu haben. Sie plant den Ablauf ihres Wochenendes schon im Voraus. Sebastian überlegt, wie er damit umgehen wird, wenn sie keine Zeit hat. Wird ihm das die Laune verderben? Er fragt sich, wer von seinen Freunden noch nichts vorhaben könnte und nach wie vielen Telefonaten er dann aufgibt. Sebastian stöhnt, weil es durchaus sein könnte, dass alle schon etwas vorhaben, nur er eben nicht. Ihm fällt ein, dass er das auch schon erlebt hat, dass so kurzfristig gar niemand Zeit hatte. Und das möchte er jetzt lieber doch nicht wissen. Sebastian schaltet den Ofen aus. Er will jetzt auch keine Pizza mehr. Er schiebt das noch nicht vollständig aufgetaute Stück zurück in den Karton und bunkert es im Gefrierfach seines Kleinkühlschranks. Er geht zum Regal, gießt sich Schnaps ein und trinkt. Heute, denkt er sich, werde ich nicht herausfinden, wie meine Chancen stehen. Heute ist ein Tag, an dem ich nicht hören möchte, wie beschäftigt alle sind. Sebastian gießt sich noch einen Schnaps ein. Er weiß, bis zum Bett wird er es heute auf alle Fälle noch schaffen.
Marie läuft entspannt die Treppen im Hausflur hinunter. Sie braucht Brot, Butter, Schnittlauch und Crémant. In einer Stunde kommt eine Freundin vorbei. Das freut sie. Vier Supermärkte stehen ihr zur Auswahl. Sie mag leere Supermärkte und entscheidet sich für den teuersten, der ist am wenigsten frequentiert. Sie läuft über einen Kinderspielplatz und hört wie ein Vater seine Tochter ermutigt, weiter auf dem Seil zu balancieren. Die Tochter lässt sich aber lieber in den Sand fallen und bewirft den Vater damit. Marie biegt um eine Ecke und ist fast da. Der Eingang des Supermarkts ist schon zu sehen und noch jemand. Die Frau. Marie vergisst immer, dass es sie gibt. Jedes Mal ist sie aufs Neue überrascht. Dabei kennt sie sie schon lange. Die Frau sitzt neben dem Eingang auf den kalten Steinplatten, den bodenlangen Rock mit folkloristischem Muster unter die Beine geschlagen. Ein paarmal hat Marie ihr schon ihr ganzes Kleingeld gegeben, was sie bereut. Das Geben selbst ist ihr leicht gefallen. Marie möchte kein Kleingeld haben. Ihre Börse ist so klein, dass es zwischen dem Stoff und den Geld- und Ausweiskarten nie genug Platz für ihre Finger gibt. Sie können sich darin nicht so drehen und wenden, wie sie das gerne hätte. Aber dieser Frau will sie jetzt überhaupt nichts mehr geben. Früher hat sie sie still angelächelt. Aber seit sie ihr das Münzgeld vermacht, sagt die Frau immer: »Guten Tag, wie gehts?« Es ist offensichtlich, dass es Marie besser geht als der Frau. Aber ihr zu sagen: »Besser als Ihnen!«, bringt sie nicht über die Lippen. Sie wünscht sich, der Supermarkt hätte noch einen weiteren Eingang. Oder ein gekipptes Fenster, durch das sie, von der Frau unbemerkt, einsteigen könnte. Es kommt ihr unmenschlich vor, gar nicht auf die Frage zu antworten oder so zu tun, als hätte sie sie nicht gehört. Marie ist vor dem Eingang angekommen und zieht ihre linke Schulter hoch, so, als wäre das ein anerkannter Code als Schutzschild gegen Worte. Die Frau sagt: »Ein Brot, bitte. Bitte!« In ihrer Stimme liegt Verzweiflung. Marie bleibt stehen und nickt der Frau zu. Jemanden ein Grundnahrungsmittel zu verwehren, schafft sie nicht. Am Backshop bestellt sie zwei Ciabattas mit Oliven. Eines für sich und eines für die Frau. Nachdem sie noch die Butter, den Crémant und den Schnittlauch besorgt hat, verlässt sie den Supermarkt und überreicht der Frau die Papiertüte mit dem langen Brot. Dass sie dabei auf sie hinuntersehen muss, ist ihr unangenehm. Die Frau will die Papiertüte mit dem Brot nicht annehmen. Marie ist verdutzt. »Ein klein Brot«, sagt sie, und formt mit ihren Händen die Größe. Ein Brötchen. Marie versteht nicht, warum ein mehr an Brot schlechter ist als ein weniger an Brot und hält ihr nochmals die Tüte hin. Die Frau schüttelt wieder den Kopf. Marie macht Anstalten zu gehen. Da greift die Frau nach der Papiertüte. Widerwillig, das kann Marie an ihren Gesichtszügen ablesen. Marie ist damit nicht einverstanden und lässt die Tüte nicht mehr aus der Hand bis die Frau sie loslässt. Marie öffnet die Geldbörse und schüttet Münzen auf den Handteller der Frau. Die Frau bedankt sich. Marie fragt sich, ob sie sich gerade hat manipulieren lassen und beschließt in Zukunft zu einem von den anderen drei Supermärkten zu gehen.
Sebastian bleibt an der Bordsteinkante einer Kreuzung stehen und ist verdutzt. Keines von den beiden Ampelmännchen leuchtet. Bisher war die Ampel noch nie ausgefallen. Zumindest nicht, wenn er davorstand. Er dreht seinen Kopf. Mitten auf der Kreuzung steht ein Polizist. Einen Arm hält er waagrecht von sich gestreckt und mit dem anderen signalisiert er, dass die Autos fahren dürfen. Noch mehr Menschen bleiben an der Bordsteinkante stehen. Auch sie erkennen schnell, dass heute etwas anders ist. Sebastian weiß, dass die meisten Menschen ihr Verhalten nach den Ampelmännchen richten. Er tut das auch. Aber nicht immer. Steht die Ampel auf Rot und die Straße ist leer, bleibt er nicht stehen. Dann missachtet er die Vorschrift und stapft los. Er mag sich keiner Maschine unterwerfen. Er will selbst entscheiden, wann er geht. Schließlich hat die Ampel keine Augen in ihrem Ampelkörper, er aber schon. Er kann sich umsehen und den Verkehr einschätzen. Sind die Autos weit genug von der Kreuzung entfernt, überquert er die Straße auch bei Rot. Er kippt ja auch kein Salz in seinen Tee, nur weil ein Salzstreuer auf dem Tisch steht. Und ihm ist es dann auch egal, wer ihn dabei sieht. Auch wenn Mütter mit Kindern an der Kreuzung stehen, marschiert er los. Die Kinder können ruhig sehen, dass es zu jedem Verhalten auch Alternativen gibt, keine Gleichschaltung notwendig ist. Bei ihm war das schon als Jugendlicher so. Deswegen musste er bei seiner Chemielehrerin, die auch seine Klassenlehrerin war, oft Strafreferate halten. Erwischte sie ihn dabei, wie er auf dem Weg zur Schule, sich um keine Regel scherte, musste er zwei Minuten lang vor der gesamten Klasse Verkehrsregeln aufsagen. Kurzreferate über Verkehrsregeln zu halten, machte ihm nichts aus. Sein Verhalten änderte er deswegen nicht. Sich frei zu fühlen war ihm wichtiger. Sich wenigstens für einen kurzen Moment selbstbestimmt zu fühlen. Einmal nicht von etwas gegängelt zu werden. Auch heute sehnt er sich noch nach Minuten und Stunden, in denen er sich vollkommen frei fühlen kann. Dass die vor ihm stehende Ampel jetzt keine Signale mehr übermitteln kann, freut ihn. Das ist ein Anfang, denkt er. Das Blinken, das Aufleuchten, diese ständigen Hinweise haben jetzt ein Ende. Dinge, die man kennt, zeigen sich gerade anders. Ein warmes Gefühl breitet sich in seinem Körper aus. Sein Brustkorb dehnt sich aus. Und ihm kommt es so vor, als ob in seinem Rücken auch ein paar Wirbel aufatmen. Sebastian geht los. Der Polizist bläst Luft durch seine Trillerpfeife und Sebastian schmunzelt.
Marie steht auf dem Bürgersteig und wirft noch einmal einen Blick auf das Display ihres Telefons. Sie wartet auf den Uber Fahrer. Achmed sei in drei Minuten da, heißt es. Seit zehn Minuten erhält sie nun diese Information. Neben Marie steht ein junger Mann an einem geöffneten Sicherungskasten. Er trägt eine orange Warnweste und flucht. Dass Marie ihm dabei hören kann, scheint ihn nicht zu stören. Marie versucht herauszufinden, was los ist und bemerkt, dass an der nahegelegenen Kreuzung alle Ampeln ausgefallen sind. Das reißt Marie aus ihrer Situation. Das mulmige Gefühl, dass sich bei ihr immer einschleicht, wenn sie weiß, dass sie zu spät kommen wird, verschwindet. Der Mann am Sicherungskasten hat ein ganz anderes Problem als sie. Sie hofft, dass Fahrer Achmed bald ankommt, der Sicherungskastenmann muss Kabel neu zusammenschalten. Und er ist jetzt ganz alleine dafür verantwortlich. Alle rot-grün-Signale der Fußgängerampeln müssen sinnvoll mit den rot-orange-grünen der Verkehrsampeln getaktet werden. Und dabei darf ihm kein Fehler unterlaufen. Das hätte katastrophale Folgen. Fußgänger würden überfahren werden, Autos ineinander krachen. Marie schaut zur Kreuzung hinüber. Auf der Nord-Süd-Seite ist die Straße zweispurig. Auf der Ost-West-Seite vierspurig. Marie zählt. Es sind zwanzig Verkehrsampeln und acht Fußgängerampeln. Der Mann flucht erneut. Bestimmt, denkt Marie, würde er der Situation jetzt gerne entfliehen. Und schon wieder purzeln harsch ausgesprochene Wörter aus seinem Mund. Ihr fällt auf, dass zwei Wörter – abgesehen von Groß- und Kleinschreibung – die exakt gleiche Schreibweise haben. Er flucht und die Flucht. Sie fragt sich, ob man nur flucht, wenn man einer Situation nicht entkommen kann, ob das Fluchen eine Ersatzflucht ist? Sie nimmt sich vor, später noch einmal genauer darüber nachzudenken. Denn jetzt würde sie lieber dem jungen Mann helfen. Ihm irgendwie beistehen oder noch besser ihm die Lösung auf einem Silbertablett servieren. Menschen in Not und sei es auch nur eine kleine Not, erzeugen bei ihr schnell ein Mitgefühl. Marie muss erkennen, dass sie nichts tun kann. Dann stellt sie sich vor, sie könnte jetzt mit Hilfe einer Fernbedienung in ein Märchen hinüber wechseln. Und im Märchen wäre sie das Mädchen mit der Aufgabe, den Mann am Sicherungskasten zu retten. Und natürlich würde sie das schaffen. Wegen ihres über die Grenzen hinaus bekannten Mutes hatte man ihr einen Zauberstab geschenkt, mit dem sie jetzt dem Mann am Sicherungskasten die richtige Lösung hinzaubern kann. Aber dieser junge Mann hat keine Lösung. Schweißperlen laufen ihm die Stirn hinunter. Marie greift in ihre Tasche. Ihre Finger berühren eine Packung Taschentücher. Marie zieht die Packung heraus und bemerkt, wie ein Auto am Straßenrand stehen bleibt. Der Fahrer lässt das Seitenfenster herunterfahren und sagt: Marie? Sie nickt, stopft die Packung zurück in die Tasche, steigt hinten ein und begrüßt den Fahrer. Dass sie jetzt nicht erfahren wird, wie lang es für den Mann am Sicherungskasten noch dauern wird, bis er eine geeignete Lösung gefunden hat, wurmt sie. Bestimmt, denkt sie, sich selbst beschwichtigend, ist die Ampel in einer Stunde wieder repariert. Und bestimmt hat der Mann bis dahin auch selbst eine Möglichkeit gefunden, wie er sich seiner Schweißperlen entledigen kann.
Sebastian geht mit ein paar Freunden Essen. Insgesamt sind sie zu sechst. Noch bevor die Speisekarten auf dem Tisch liegen, bestellen sie ein paar Flaschen Mineralwasser. Eine Bedienung bringt die Gläser und legt einen Packen laminierte Speisekarten auf den Tisch. Eine andere bringt die Wasserflaschen. Während einige noch unentschlossen sind, welches Gericht sie bestellen wollen und andere schon intensive Gespräche miteinander führen, bemerkt Sebastian, dass sein Wasserglas schon wieder leer ist. Anscheinend hat er großen Durst. Ihm kommt das nicht ungewöhnlich vor. Es ist Sommer und es ist heiß. Er schraubt den Deckel einer noch nicht angebrochenen Mineralwasserflasche ab und nimmt sich vor, auch die anderen zu fragen, wer von ihnen noch Wasser ein- beziehungsweise nachgeschenkt bekommen möchte. Er legt den Deckel auf das schöne weiße Tischtuch, hebt die Flasche hoch und zögert. Auf einmal denkt er, er würde sich mit dem Nachgießen vielleicht bloß wichtig machen wollen. Er würde die anderen bei ihren Essensüberlegungen stören oder mit seiner Frage nur unnötig in ihre schon bestehenden Gespräche eingreifen. Sebastian kippt die Wasserflasche über seinem Glas und gießt nur sich selbst ein. Außerdem, denkt er, könnte es doch auch sein, dass der eine oder die andere einfach nur ja sagt, ohne es so zu meinen. Ihm passiert das manchmal. Auch heute war ihm das wieder passiert. Am späten Nachmittag ist ihm eine Tasse Kaffee angeboten worden und er hat ja gesagt, obwohl er gar keinen Kaffee trinken wollte. Er wollte es der anderen Person leicht machen. Wollte leicht im Umgang sein. Jetzt muss er deswegen in Kauf nehmen, dass er in der Nacht nicht einschlafen kann. Sein Körper baut Koffein nicht so schnell ab. Sebastian schaut den Luftblasen zu, die in seinem Glas aufsteigen und freut sich auf das prickelnde Gefühl, dass sich gleich auf seiner Zunge ausbreiten wird. Er stellt die Flasche Mineralwasser, die er immer noch in der Hand hält, zurück auf den Tisch, greift nach dem Deckel und schraubt sie wieder zu. Joannes bemerkt das, schüttelt den Kopf und sagt: »Du hättest den anderen jetzt doch auch mal Wasser eingießen können und nicht nur dir selbst!« Sebastian wird rot. Er spürt das Klopfen in seinem Hals. Warum, fragt er sich, traut er sich nicht, mehr mit anderen zu sprechen. Auch jetzt wäre eine Gelegenheit dazu. Sebastian greift erneut nach der Flasche, reicht sie Johannes über den Tisch und bevorzugt es, wieder einmal nichts zu sagen.
Die Schwämme, die Sebastian in seinem Haushalt benutzt, durchlaufen immer drei Stadien. Zuerst verwendet er sie nur in der Küche. Für den Abwasch, die Arbeitsoberflächen und den Küchentisch. Sobald sie anfangen zu riechen, sind sie für das Bad zuständig. Und wenn die harte Unterseite des Schaumstoffs dann anfängt zerfranst auszusehen, entsorgt er sie. Der Schwamm, den er jetzt in der Hand hält, ist schon in der zweiten Phase. Sebastian drückt Scheuermilch auf die Seite mit dem Hartvlies und beugt sich über das Waschbecken. Er wählt den größten eingetrockneten Zahnpasta Klecks und schrubbt mit den rauen Fasern über die kleine Erhebung. Nach ein paar Wischbewegungen beendet er den Vorgang. Die Anhaftung ist aufgelöst. Beim nächsten Minihaufen geht er wieder so vor. Greift mit dem Schwamm ein und löst die Verbindung auf. Über all diese Verbindungen weiß Sebastian so gut wie gar nichts. Außer, dass sie schon seit vielen Tagen existieren. Vielleicht, so fragt er sich, haben sich die Zahnpasta und die Keramik darüber gefreut, zueinander gefunden zu haben. Denn diese Kleckse wurden nicht in den Abfluss hineingetrieben, keiner von ihnen wurde hinuntergespült und so musste die allglatte Oberfläche des Waschbeckens, an der sonst alles abprallt, einmal nicht allein zurückbleiben. Vielleicht sind das alles glückliche Verbindungen, die er da gerade auflöst. Er weiß es nicht. Sebastian weiß nur, dass zwei Dinge zusammengefunden haben. Und dass alleine das schon ein Kunststück ist. Er drückt den Schwamm auf eine andere Stelle im Becken und stört den nächsten Zusammenhalt. Peu á peu verschwinden so alle Kleckse. Nach wenigen Minuten findet Sebastian keinen mehr. Um aber wirklich sicher zu sein, dass er nichts übersehen hat, inspiziert er das Becken noch einmal. Sein Blick gleitet langsam von oben nach unten und von links nach rechts. Zufrieden stellt er fest: Es gibt keine Unebenheiten mehr. Er drückt den Schwamm unter dem laufenden Wasser aus und wischt die Scheuermilchrückstände mit frischem Wasser von der Keramikoberfläche. Danach reibt er die Keramikoberfläche noch mit einem Tuch trocken und betrachtet das Ergebnis. Das Waschbecken ist strahlend weiß und makellos. Der neu eingetretene Glanz beglückt ihn. Es hebt seine Stimmung, wenn an einer Stelle etwas perfekt ist. Trotzdem wird er heute nicht mehr machen. Es liegt ihm fern, das ganze Bad zu putzen, so zu werden wie seine Mutter. Seine Mutter hat viel vom einwandfreien Erscheinungsbild der Oberflächen gehalten. Seine Mutter war auch Jahr ein Jahr aus für das Erscheinungsbild der Oberflächen zuständig. Sebastian konnte nie genau sagen, ob seine Mutter sich mit den schönen reinlichen Oberflächen über vieles nur hinwegtäuschen oder auch hinwegtrösten wollte.