Lebensentwürfe # 43
Sebastian ist gut im Ignorieren. Sein Smartphone hat ihn schon vor ewiger Zeit darauf hingewiesen, dass ein Softwareupdate zur Verfügung steht. Er aber geht dieser Information aus dem Weg. Tut jeden Tag einfach so, als würde er den roten Punkt in der oberen rechten Ecke nicht sehen. Er kann einfach jahrelang genau das nicht tun, was das Gerät von ihm verlangt. Aber inzwischen bricht sein Smartphone selbstständig Gespräche ab, schließt unerwartet geöffnete Apps oder öffnet sie nicht mehr. Deshalb hat er sich für heute, Samstag Vormittag, vorgenommen, nicht die Wohnung sauber zu machen, sondern das Smartphone auf Vordermann zu bringen. Neben ihm steht eine Schale Cantuccini und eine Tasse Cappuccino. Er liegt auf dem Sofa, hat die Beine von sich gestreckt und hält das Telefon startklar in der Hand. Er drückt auf Einstellungen, dann auf Softwareupdate und erfährt, dass der Speicherplatz für das Softwareupdate nicht reicht. Er weiß, dass er mit diesem Telefon schon an die zehntausend Aufnahmen gemacht hat. In den letzten acht Jahren, so lange hat er das Telefon schon, haben sich also bestimmt viele Aufnahmen angesammelt, auf die er gut verzichten kann. Er greift nach einem Cantuccini, tunkt es ein und legt los. Das Löschen geht ihm leicht von der Hand. Fotos von Zugabfahrtszeiten, Screenshots von Kinofilmen, die er sich gerne angesehen hätte, landen schnell im Papierkorb. Auch die ewig gleich langweiligen Fotos von Bäumen, die er während unterschiedlicher Spaziergänge gemacht hatte. Ein Baum in Blüte. Noch ein Baum in Blüte. Ein Busch in Blüte. Eine Ente am Ufer. Ein See mit der Spieglung eines Baums. Ein Schwan. Sebastian drückt auf löschen, löschen, löschen. An nichts davon möchte er noch einmal erinnert werden. Erfreut macht er weiter. Diese Art von Lüftung tut ihm gut. Es fühlt sich an wie ein Ausmisten. Vollgestopfte Regale leeren sich wie von selbst. Vergnügt löscht er massenweise Screenshots von Wanderschuhen, die in eine engere Auswahl gekommen wären, wenn er sich die Fotos noch einmal angeschaut hätte. Er löscht ein Foto von einer Markensonnenbrille und hält inne. Vor ihm ist ein Foto von Annika. Er hat schon lange nicht mehr an sie gedacht. Nun ist die ganze Geschichte wieder da. Schlagartig da. Ihr Gesicht füllt nicht nur den Bildschirm aus, sondern auch wieder sein Herz. Er kann Annika spüren, sie fast schon riechen. Er hat sie immer gerne gerochen. Sie roch nach Wasser und Haut. Nie nach Parfüm. Künstliche Gerüche beunruhigen ihn meistens. Vor allem am Hals oder im Gesicht. Da bekommt er schnell das Gefühl, jemand möchte etwas übertünchen oder nicht preisgeben. Wozu, fragt er sich, sind missglückte Liebesgeschichten gut, wenn sie doch nur wieder zu Ende gehen? Er sieht sich das nächste Foto an. Er hält sie im Arm. Auch bei ihnen war das so. Nicht sie hält ihn im Arm, sondern er sie. Auf dem nächsten Foto grinsen sie beide um die Wette. Ihre Beine und ihre kurzen Hosen sind voller Schlamm. Damals lebte Annika in Stettin. Ob sie das heute noch tut, weiß er nicht. Damals hatte er sie für ein verlängertes Wochenende besucht. An einem dieser Nachmittage gab es Starkregen. Zuerst wollten sie gleich rausgehen. Einfach mal wieder von oben bis unten nass werden. Spüren, wie Haare Wasser aufsaugen. Wie sich all ihre Kleidungstücke bis hin zur Unterhose ein bisschen so fühlen können wie trockenes Brot, dass in eine Suppe getunkt wird. Dann entschieden sie aber, mit dem Rausgehen doch zu warten. Wegen ihrer Leidenschaft für Gerüche. Sie wollten all die Sommerdüfte erschnuppern, die der Regen mit seinen Tropfen auf Blumen und Gewächse freischüttelt. Der Himmel hatte in so kurzer Zeit so viel Wasser entlassen, dass der Boden die Feuchtigkeit nicht vollständig hat aufnehmen können. Auf einem leicht abwärts führenden Weg sind sie beide hintereinander ausgerutscht und im Schlamm gelandet. Er wischt weiter. Das nächste Foto zeigt Annika neben einer blauen Vespa. Das war ein paar Wochen später. Annika ist braungebrannt. Sie haben beide viel Sonne getankt. Fuhren an Strände und an Seen. Während der Fahrt hatte sie ihre Oberschenkel immer fest gegen seine gepresst. Er wischt weiter. Ein Selfie mit Fisch. Das war ein Monat später. Er hat auf dem Wochenmarkt Fisch gekauft und hält ihn zusammen mit seinem Gesicht vor die Kamera. Der Fisch war für das Geburtstagsessen gedacht. Er legt das Telefon zur Seite. Mehr Fotos von dieser Zeit erträgt er jetzt nicht. Damals hat er sich gewünscht, seinen Geburtstag bei und mit ihr zu feiern. Und dann wollte sie wissen, auf welcher Straße er sich gerade befindet. Er war unterwegs, um Lebensmittel für das Geburtstagsessen zu kaufen, das wusste sie. Sie hatte ihn nur angerufen, um ihn zu fragen, wo er jetzt gerade sei. Einfach so. Ihm kam das albern vor, da er nicht in der Nähe eines Straßenschilds stand, kein polnisch konnte, und sich von ihr auch nicht kontrollieren lassen wollte. Er hatte erst vor zehn Minuten ihr Haus verlassen. Also hat er es ihr nicht gesagt. Danach weigerte sie sich, mit ihm seinen Geburtstag zu feiern, ließ ihn allein in ihrer Wohnung zurück und fuhr zu ihrer Schwester. Ihre Geschenke hatte sie ihm dagelassen, ihre Zeit und ihren Körper nicht. Damals war er zornig. Fuhr nach Hause und warf dann gleich die Seife weg, die sie ihm zum Geburtstag geschenkt und auch die Socken, die sie für ihn gestrickt hatte. Er stöhnt auf. Töne in den Raum hinein zu entlassen hilft ihm nicht nur beim Sex. Jetzt hilft es ihm auch dabei, seinen Unmut in den Raum zu tragen. Wenigstens kommen jetzt Laute heraus, denkt er. Die, die er damals nicht herausbekommen hat. Er hatte den ganzen Unmut einfach für sich behalten. Immer noch glaubt er daran, dass ihm etwas erspart bleibt, wenn er nichts tut. Er hat einfach seine Stacheln aufgestellt und ist dabei geblieben. Ist fünf Jahre lang still geblieben. Komplett verstummt. Hat ihr gegenüber keinen Ton mehr von sich gegeben. Wieder ein Abbruch, den er nicht hat überbrücken können. Sebastian bemerkt, dass noch mehr Töne aus ihm heraus wollen. Er lässt sie zu. Es sind dunkle Töne. Sie erschrecken ihn. Da ist etwas, das aus seiner Seele will. Er nimmt das Telefon doch wieder in die Hand und versucht die Aufnahmen von Annika zu löschen. Er schafft es nicht. Nicht jetzt. Er legt das Telefon wieder zur Seite, greift nach dem Henkel seiner Kaffeetasse und nimmt einen Schluck. Heute wird er mit dem Löschen nicht weiterkommen, das spürt er. Auch andere Fotos mag er nun nicht mehr löschen. Das Löschen hat jetzt eine andere Bedeutung bekommen. Es kommt ihm vor, als würde er seinem Leben dadurch noch mehr Löcher zufügen. Das will er nicht. Er versucht seine Schultern zu entspannen, schaut aus dem Fenster und betrachtet den großen Baum. Jedes Jahr treibt er aufs Neue Blätter aus sich heraus. Lauter kleine Geburten sind das. Hunderte. Tausende. Zehntausende. Sebastian lässt seinen Blick bei den Blättern verweilen. Der Anblick der Blätter beruhigt ihn. Sie schenken ihm etwas. Zeigen ihm, was sie können. Sie können Löcher füllen. Luftlöcher. Jedes Jahr aufs Neue. Schön sieht das aus. Nun greift Sebastian doch noch einmal nach dem Telefon und schießt ein paar Fotos von dem Baum.