Lebensentwürfe # 44
Marie hat schon oft versucht, sich von ihrer Mutter zu trennen. Gelungen ist ihr das bisher noch nicht. Als ihre Mutter noch einen Körper hatte – Marie ist überzeugt, dass es ihre Mutter auch noch ohne Körper gibt – kam sie mit diesem Körper öfter Mal angereist, um Marie in der Großstadt zu besuchen. Stand der Mutterkörper dann vor ihrer Tür, ließ Marie ihn jedesmal herein. Deshalb steht auch immer noch auf ihrem Wunschzettel: mehr Distanz zur Mutter haben. Marie hat sich nie an den Kontakt mit ihrer Mutter gewöhnen können. Ihre Mutter hatte die Fähigkeit, Dinge gut klarzustellen. Da kannte ihre Mutter kein Pardon. Wenn es sein musste, hat sie zum Beispiel einfach mal so Maries Lieblingskleidungsstücke verbrannt, damit die Machtverhältnisse wieder eindeutig sind. Marie war dabei, als ihre Mutter starb. Sie hat mit eigenen Augen gesehen, wie leblos der Mutterkörper geworden ist. Seit der Körper ihrer Mutter tot ist, kann Marie mit Sicherheit sagen, dass der Spuk vorbei ist, aber das Mutterprogramm läuft auch ohne Updates weiter. Früher fühlte sich Marie in Anwesenheit ihrer Mutter verloren. Jetzt fühlt sie sich in der Welt verloren. Letzte Woche hat Maries Therapeutin zu ihr gesagt, Marie solle eine Übung machen. Die Therapeutin unterstützt Marie in dem Wunsch, Prägungen abzuschütteln. Marie soll sich hinlegen, die Augen schließen und sich vorstellen, wie sie ihre Mutter los wird. Dabei dürfe sie nichts unversucht lassen. Sie könne Waffen verwenden, Zauberer herbeiwünschen, Menschen bestechen. Alles was sich gut anfühle, dürfe sie tun. Es gäbe keine Schuld. Es ginge auch nicht um Moral. Nur darum, sich Erleichterung zu verschaffen. Marie hat zugestimmt, die Übung zu machen. Aber in den letzten Tagen war ihr nie danach. Heute ist es anders. Heute hat sie die nötige Kraft. Marie legt sich auf das Sofa, deckt sich zu, schließt die Augen und besorgt ihrer Mutter gleich mal eine andere Tochter. Noch besser: gleich mehrere andere Töchter. Ihre Mutter darf sie alle verschleißen. Und sobald sie verschliessen sind, bekommt sie neue. Aber ihre Mutter lässt sich nicht auf die anderen Töchter ein. Spielt das Spiel nicht mit. Energetisch tut sich nichts. Marie beschließt, dass ihre Mutter ab jetzt immer glücklich sein kann. Dass ihr nun alle Wünsche erfüllt werden, damit sie so glücklich wie noch nie sein kann. Marie spürt keine Veränderung. Nur, dass ihre Mutter auch nicht am Glücklichsein interessiert ist. Sie bleibt unglücklich. Marie schickt ihre Mutter zu Jesus, zu dem sie immer gebetet hat. Er soll ihre Mutter behandeln. Maries Mutter lässt Jesus Wirkmöglichkeiten nicht zu. Jesus kann nicht weiter helfen. Angestrengt überlegt Marie weiter. Sie hat eine weitere Idee. Sie lässt ihre Mutter schrumpfen, sie vor ihren Augen kleiner werden. Kleiner und kleiner und noch kleiner. Nun ist Maries Mutter ein Kirschkern. Marie atmet auf. Erleichterung tritt ein. Marie steckt die Mutter in die Hosentasche. Jetzt kann sie jeden Tag sehen, dass ihre Mutter nur ein geschrumpftes Etwas ist. Die Erleichterung bleibt nicht. Marie legt die Kirschkernmutter in eine Gefriertruhe. Aber das reicht auch nicht. Marie zaubert eine Maschine herbei. Der Kirschkern wird zu Staub zermalmt. Marie schüttet das Pulver in ein kleines Tütchen aus Pergamentpapier und wirft es ins Feuer. Marie atmet auf. Aber nicht für lange. Auch die Erleichterung bleibt nicht. Hat keinen dauerhaften Bestand. Marie beschließt abzuhauen. Die Erde zu verlassen. Sie will nicht mehr auf dem Planeten wohnen, auf dem auch ihre Mutter geboren worden ist. Marie schnippt sich mit den Fingern ein Raumfahrtzeug herbei. Marie möchte nicht alleine umziehen. Drei nette Wesen tauchen auf. Super starke Frauen, die kugelrund, weich und warm sind und nach Brot duften. Marie stellt zweihundert schwer bewaffnete Soldaten auf, die den Start sichern. Die Soldaten kontrollieren den Luftraum. Ihnen entgeht nichts. Mögliche Angriffe würden sie erkennen. Marie reicht das aber noch nicht. Sie legt den gesamten Flugverkehr lahm und schaltet dann auch noch den Strom ab. Sie möchte, dass es während ihrer Flucht auf der ganzen Welt keinen Strom gibt. Ihr Raumschiff soll nicht noch kurzfristig von Militärjets abgeschoßen werden können. Marie beschließt auch, dass ihre Mutter nie etwas über ihren neuen Heimatplaneten erfahren wird. Die Flucht gelingt. Marie erholt sich gut. Auf dem neuen Planeten gibt es schöne Moose, Tiere, Wälder, Flüsse und die drei Frauen, mit denen sie kuscheln und sich gut unterhalten kann. Aber nach einer gewissen Zeit spürt sie, dass ihre Mutter immer noch in ihren Zellen verankert ist. Dort einfach weiter wohnen geblieben ist. Immer noch gehören Maries Zellen nicht ausschließlich ihr. Zusätzlich erfährt Marie, dass ihre Mutter erneut inkarniert und auf der Suche nach Marie ist. Marie weiß, dass ihre Mutter durch die Zellen irgendwann eine Verbindung zu ihr herstellen kann. Egal wie weit Marie weg ist. Ihr altes Dilemma. Marie zaubert sich einen riesigen Magneten herbei. Er soll die Energie ihrer Mutter aus ihren Zellen ziehen. Und hinter dem Magneten wird sich ein schwarzes Loch befinden, dort wird die Mutterenergie hinein fallen und transformiert werden. Dann wird Marie auch von ihrer Mutter nicht mehr zu finden sein. Marie zaubert sich Schamanen herbei. Drei an der Zahl. Sie sollen sie bei dem Entzug begleiten. Den Schamanen macht der Prozess Angst. Sie halten das Vorhaben für zu gefährlich. Sie wissen nicht, ob Marie das, ohne Schaden zu nehmen, überleben kann. Sie wissen nicht, was genau dann aus Maries Zellen wird. Ob die Zellen noch ganz sein werden. Marie möchte die Übung abbrechen. Sie spürt eine große Erschöpfung und ein Verlangen nach Tee. Sie schlägt die Augen auf und streift sich die Haare aus dem Gesicht. Sie hat am Kopf geschwitzt. Eine Tasse Pfefferminztee mit Zitrone wird ihr jetzt gut tun. Etwas Harmloses, Gutmütiges.