Alltag # 72
Marie zieht den Wasserkocher von der Basisstation und gießt kochend heißes Wasser in die Teetasse, in der bereits ein Beutel Kräutertee hängt. Marie liebt es, wenn sie dabei zusehen kann, wie Flüssigkeit ein Gefäß verlässt, um in einem anderen anzukommen. Würde noch mehr Tee in ihren Körper passen, würde sie noch viel öfter Tee trinken, so fasziniert ist sie vom Wechsel der Aufenthaltsorte, vom Umzug, den sie erzwingen kann. Sie wird nie müde, dabei zuzusehen. Teeschütterin wäre ein idealer Beruf für sie. Würde das in Berlin irgendwo ankommen, würde sie sich damit selbstständig machen. Gerne würde sie diesem Bedürfnis mehr Platz einräumen. In ihrem Alltag ist das mit dem Schütten jedesmal so schnell vorbei. So wie jetzt auch. Die Tasse ist schon voll, bis zum Rand. Mehr geht nicht. Marie stellt den Wasserkocher zurück auf die Basisstation und trägt die Tasse zum Tisch. Wasser ist so unglaublich anpassungsfähig, denkt sie. Bis in den letzen Winkel hat es sich in die Tasse geschmiegt, hat keine Stelle ausgelassen, hat sich nicht gesperrt oder herum gezickt, hat einfach den Hohlraum ausgefüllt und den Platz eingenommen, der von mir zur Verfügung gestellt wird. Aber Marie ist nicht nur von der Flexibilität und der Wendigkeit des Wassers angetan, sondern auch von dem Gefäß, das da vor ihr auf dem Tisch steht. Eine mit roten Punkten betupfte Teetasse. Sie ist dankbar, dass jemand irgendwann so einen Gegenstand erfunden hat. Das muss man erst einmal hinbekommen. Denn jedes Gefäß hat von Geburt an diese Offenheit. Gefäße nehmen alles auf, was ihnen angeboten oder zugemutet wird. Heißes, Kaltes, Süßes, Klebriges, Alkoholisches oder was es sonst noch so an Flüssigkeiten gibt. Gefäße halten geduldig Inhalte an Ort und Stelle fest, damit auch ja nichts davon verloren geht. Aber noch interessanter findet Marie die Tatsache, dass Gefäße nicht zusammen brechen, wenn ihnen der Inhalt dann wieder geraubt wird. Gefäße akzeptieren das leere Dasein genauso wie das gefüllte. Und auch ihr Trinkgefäß muss die Flüssigkeit wieder hergeben. Ihr geben. Wie schön das doch ist, dass die Teetasse so gut loslassen kann und nichts für sich behalten will. Und all das geschieht so ganz ohne Geschrei. Marie empfindet das so angenehm, dass ihr keine Teetasse droht. Keine von ihnen hat je gebrüllt: Die Flüssigkeit gehört zu mir! Ohne sie bin ich nichts! Oder: Ich will den Kräutertee nicht hergeben und schon gar nicht dir, du Stück Mensch! Die Teetasse sucht sich nicht aus, wem sie etwas gibt. Sie gibt einfach. So einem Prozess beiwohnen zu können, ergreift Marie jedesmal aufs Neue.
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