Alltag # 84
Marie kann es nicht fassen. Ihre Mutter ist tot und sie kann ihr noch immer nicht trauen. Das macht sie fertig. Seit zwei Jahren gibt es diesen Mutterkörper nun schon nicht mehr und dennoch funkt er noch in ihr Leben hinein. Zeigt ihr, wer hier die Hosen anhat und das ist ganz bestimmt nicht Marie. Marie möchte mit der Welt Frieden schließen und tageweise gelingt ihr das auch. Dann ist sie mit allem was kreucht und fleucht und sogar flucht versöhnt. Sobald aber ihre Mutter auftaucht, geht ihr das Gefühl flöten. Maries Mutter hat eine unglaublich starke Ausstrahlung. Mit ihr verhält es sich, wie mit der Radioaktivität und ihrer Halbwertszeit. Es dauert ewig und drei Tage bis diese Strahlen verfallen und keine gesundheitlichen Schäden mehr anrichten. Marie fände es wirklich schön, wenn ihr ein Physiker ausrechnen könnte, wie sich das mit dem Verfallen von menschlichen Ausstrahlungen verhält. Denn ohne so einen Physiker stellt Marie nur immer wieder fest, dass die Ausstrahlung ihrer Mutter noch da ist, in scheinbar gleicher Stärke. Marie hatte gestern wirklich einen schönen Tag. Sie war mit Sebastian Eis essen und hatte danach bei Frau Berger, ihrer Therapeutin, eine gute Stunde. Abends ging sie ganz zufrieden ins Bett. Aber im Stadium des Tiefschlafs, stieg ihre Mutter in ihren Traum hinein, ohne Leiter und ohne Erlaubnis. Marie hätte ihr auch beides nicht gegeben. Im Traum war sie bei Frau Berger, sass gemütlich im Sessel, wollte ihr gerade etwas mitteilen und dann war da auf einmal – out of the blue – auch ihre Mutter. Hatte sich der Mutterkörper einfach mitten in das Zimmer von Frau Berger gebeamt. Der Mutterkörper lächelte die Therapeutin an, nahm sie an der Hand und verließ zusammen mir ihr das Zimmer. Ein paar Minuten später tauchte ein Assistent auf, der auch irgendwie der Liebhaber der Therapeutin war. Marie wollte ihn um Hilfe bitten. Er entgegnete ihr aber, dass er hochsensibel sei, und dass man ihm deswegen nichts Schlimmes schildern dürfe. Schlimmes könne er nicht aushalten. Da müsse er immer weinen und könne damit dann nicht mehr aufhören. Aber falls sie jetzt sprechen müsse, dürfe sie ihm sagen, wie groß sie sei oder welche Lebensmittel sie gerne esse, solche Dinge eben. Die könne er dann auch aufschreiben, wenn sie das wolle. Marie wollte nicht. Gleich im Anschluß sagte er, er müsse sie bitten zu gehen, denn er würde die Praxis jetzt zusperren und außerdem bräuchte sie auch nicht mehr auf Frau Berger zu warten, denn die würde nicht mehr zurück kommen. Weder heute, noch morgen, noch in den nächsten Wochen oder Monaten. Marie blieb die Spucke weg. Der Mutterkörper hatte die Therapeutin dazu gebracht, sie zu verlassen und nun stand sie wieder alleine da. Nachdem sie aufwachte, kam ihr zumindest das irgendwie bekannt vor. Nun ist ihr den ganzen Tag über schon bang und morgen wird das wahrscheinlich auch noch so sein.