Alltag # 85
Sebastian hört den Türöffner, drückt gegen den Griff und betritt den Hausflur. Er freut sich auf die Stunde. Stichwortartig hat er sich schon aufgeschrieben, was er heute besprechen möchte. Er läuft an ein paar Fahrrädern vorbei und nähert sich der zweiten Tür, wo er gleich noch einmal klingeln wird. Aber die Tür geht schon ganz ohne sein Zutun auf. Seine Therapeutin steht im Türrahmen, lächelt ihn zur Begrüßung an und sagt: »Heute haben wir ein Problem, es gibt eine Doppelbelegung!« Sebastian weiß, dass er sich bei dem Termin nicht geirrt haben kann. Er ist in solchen Dingen korrekt und überprüft immer lieber zweimal, ob er den Termin richtig eingetragen hat, denn sonst müsste er die Stunde trotzdem bezahlen. Er geht ins Vorzimmer und sieht die Doppelbelegung. Sie stellt gerade ihre Tasche neben der Tür ab, die in das Zimmer führt, in dem die Gespräche und Übungen stattfinden. Sie muss also auch eben erst gekommen sein, denkt er. Die Doppelbelegung ist in Sebastians Alter. Sie ist männlich gekleidet, ihre Gesichtszüge sind verhärmt und ihre Haut fahl. Sie geht bestimmt nicht gerne raus. Außerdem sieht sie so aus, als wäre sie bereits seit vielen Jahren auf eine Therapie angewiesen. Die Klienten, denen er sonst hier begegnet, haben meistens eine offene Art und geben ihm sogar mit einem Lächeln zu verstehen, dass sie nun Verbündete seien, da sie nun voneinander wissen, dass sie eine Therapie machen. Aber die Frau, die sich jetzt gegen das Sideboard lehnt, wirkt verschlossen und abweisend. Sebastian fühlt sich unwohl. Er mag es so gar nicht, wenn er in ein Spannungsfeld hinein manövriert wird, das nicht wirklich etwas mit ihm zu tun hat. Seine Therapeutin sagt: »Ich hole mal meinen Kalender!« und geht zum Schreibtisch. Sebastian wirft einen Blick auf die Haare der Frau. Sie sind zerzaust und wirken borstig, fast schon stachelig grob. Es sieht so aus, als würde die Frau sie gerne so tragen, damit jeder verstehen kann, wie es in ihrem Kopf zugeht. Die Therapeutin kommt zurück, blättert in ihrem Kalender, lässt ihn aufgeschlagen in der Hand liegen und sagt: »Tut mir wirklich leid, aber ihr Termin ist erst nächste Woche!« Die Frau stöhnt und sagt: »Ich habe mir das aber anders notiert!«. Die Therapeutin antwortet, sie wisse wirklich nicht, wie es zu diesem Missverständnis kommen konnte. Irgendwie sei da gerade der Wurm drin. Letzte Woche habe sie im Kalender gestanden und sei nicht erschienen und diese Woche stehe sie nicht im Kalender und tauche trotzdem auf! Sebastian liebt schnelle Lösungen und wenn er jetzt die Stunde einfach der Frau überließe, wäre das Problem ruckzuck gelöst. Aus die Maus. Er könnte gehen und mit seinem Geld etwas anderes machen. Wild Kuchen essen und eine Flasche Crémant ausgeben. Sebastian denkt, ich werde jetzt einfach ein Gentleman sein, der die Situation rettet. Er mag es, wenn Menschen höflich und zuvorkommend sind. Bevor er jedoch etwas sagen kann, spricht seine Therapeutin schon wieder: »Nachdem Sie letzte Woche nicht erschienen sind, habe ich Sie doch angerufen und Ihnen mitgeteilt, dass ihr nächster Termin erst wieder in zwei Wochen ist! Kommt Ihnen das nicht doch irgendwie bekannt vor?« Die Frau schüttelt den Kopf. Die Haare bleiben dabei ohne Schwung. Sebastian erträgt es nicht, dass die Frau offenbar schon zum zweiten Mal einen Fehler gemacht hat, an den sie sich nicht erinnert. Außerdem müsste sie jetzt nochmal eine Woche warten um ihren Kummer los zu werden. Den Kummer, der ihr so ins Gesicht geschrieben steht. Die Frau sieht zu Sebastian hinüber. Zum ersten Mal. Direkt in seine Augen. Ihre Blicke sind wie die von jungen Kätzchen, die mit ihren kleinen Zungen Hände lecken möchten. Sebastians Mitgefühl schnellt in die Höhe. Dabei hat er doch schon längst beschlossen, dass es für ihn kein Problem ist, auf seine Stunde zu verzichten. Sebastian überlegt, wie er sich jetzt am besten einmischt. Soll er den Finger heben oder sich räuspern? In seinem Kopf taucht plötzlich ein Bild auf. Es ist ein Foto von ihm. Eine Nahaufnahme von seinem Gesicht. Es wurde mal für einen Familienkalender gemacht, der dann seiner Mutter geschenkt wurde. Darauf lächelt er gutmütig. Darunter hatte einer seiner Neffen mit einem schwarzen Edding einen Daumen hingekritzelt, der nach unten zeigt. Ist er zu nett? Nun wird ihm mulmig und ganz anders zumute. Geht es jetzt nicht vielleicht darum, auszuhalten, dass er gerade an erster Stelle steht und das anzunehmen was ihm zusteht. Sebastian schnauft. Er packt seinen Mut am Kragen, zieht seine Schuhe aus und anschließend ganz langsam seine Jacke. Er hängt sie an den Garderobenständer und kehrt dabei der Frau bewusst den Rücken zu.