Wünsche # 30
Marie fährt aufs Land zu Hannah. Hannah wohnt neuerdings da und wollte unbedingt, dass Marie sie für ein paar Tage besuchen kommt. Seit zwei Stunden sitzt sie schon im Zug. Der Kaffeebecher ist leer. Das Schokocroissant aufgegessen. Die leere braune Papiertüte liegt vor ihr auf dem Tisch. Gleich am Anfang hat sie eine Nachricht an Sebastian geschickt und danach hat sie das Telefon ausgeschaltet, um die Aussicht ungestört genießen zu können. Auch hat sie ihren Laptop zuhause gelassen. Nur keine Arbeit mitnehmen. Sich keinen Druck machen. Mit gutem Gewissen Zeit haben für das Nichtstun. Marie will einfach mal in den Himmel starren. Pflanzen beschnuppern, Erde riechen, Bäume anfassen und mit der Hand über Büsche streichen. Auch will sie Ameisen bestaunen und Wildschweine beobachten. Marie hofft, dass sie im Wald welche zu sehen bekommt. Sie weiß nicht, ob es dafür eine Saison gibt, ob Wildschweine nur in bestimmten Jahreszeiten ausschwärmen, so herumstrolchen, dass man sie sehen kann. Ich werde mit allem zufrieden sein, denkt Marie, ich will mir einfach nur ansehen, was sich in der Natur so tut, sich dort mit spielerischer Leichtigkeit durchsetzt. Das werden tolle Tage werden, denkt Marie. Meine Augen werden sich entspannen, mein Schultergürtel und auch mein Unterkiefer. Denn mit Hanna gibt es mehr zu lachen als mit mir alleine vor dem Fernseher. Marie sieht auf den kleinen Monitor, der am Ende des Zugabteils hängt. Die nächste Haltestelle ist bereits ihre. Marie greift nach der Reisetasche mit dem Kulturbeutel, der Wechselkleidung und den Geschenken für Hannah. Ein Roller mit ätherischen Ölen für das Handgelenk, eine Flasche Limoncello und ein großes Stück Parmesan, das sie sich selbst nie leisten würde. Der Zug hält. Marie steigt aus. Hannah ist noch nirgends zu sehen. Marie setzt sie sich auf eine Bank vor dem Hauptgebäude des Bahnhofs. Sie riecht die Landluft, spürt das langsamere Tempo, sieht die Bäckerei, die neben dem Bahnhof liegt und zu der gleichen Kette gehört, in der sie ihr Croissant gekauft hat. Im Terrassenbereich stehen braune Tische und braune Stühle. Alles aus Plastik. Die Terrasse ist mit einem dunkelbraunen Jägerzaun begrenzt. Ebenfalls aus Plastik. Ebenfalls Massenware. Im Hintergrund eine Neubausiedlung. Die Gartenzäune sind ebenfalls braun. Ein Haus gleicht dem anderen. Vor jedem Haus parken Autos. Menschen sind nicht zu sehen. Auch keine Bäume. Maries Hoffnung auf Wildschweine schwindet. Sie greift in die Jackentasche und schaltet ihr Telefon wieder ein.
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