Wünsche # 36
Sebastian sitzt auf dem Sofa und versucht vergebens, sich über nichts mehr Gedanken zu machen. Vor allem nicht mehr über das, was er gerade zu Anna am Telefon gesagt hat. Sebastian gießt sich Rotwein ein, trinkt das halb gefüllte Glas zügig aus und wirft sich gegen das Rückenpolster seines Sofas. Er ist fassungslos. Der Schreck hat sich noch nicht wieder gelegt. Er kann immer noch nicht verstehen, wieso er gerade ja gesagt hat. Ja, ich komme mit. Ja, wir können zusammen hinfliegen. Ja, du kannst die Flüge für uns beide buchen. Ja, ich kann aus dem Wochenende ein langes Wochenende machen. In Sebastians Körper macht sich Wut breit. Er kann sie bis in seine Fingerkuppen spüren. Sie fühlen sich heiß an. Sebastian greift nach dem Buch, in dem er vor Annas Anruf gelesen hat und schleudert es auf den Boden. Das beruhigt ihn nicht. Drei Stunden mit Anna, denkt Sebastian, das geht. Vier Stunden gehen auch. Und von mir aus auch einmal im Jahr ein Tagesausflug. Aber drei Tage hintereinander, das fühlt sich so an, als wäre ich gerade strafversetzt worden. Er greift nach der Rotweinflasche. Und jetzt fällt ihm auch noch das Geburtstagsgeschenk ein, das Anna ihm vor einem Jahr gebracht hat. Annas Augen hatten schon vor der Übergabe gestrahlt, so sicher war sie sich, dass sie mit diesem Geschenk Sebastians Geschmack treffen würde. Und sie hatte ihn getroffen. Die Designertasche, die man auch als Rucksack verwenden kann, war ganz nach seinem Geschmack. Hot shit eben. Ein Volltreffer. Schon als er das Geschenk aus dem Seidenpapier heraus blitzen sah, hatte er versucht, seine Freude darüber zu verbergen. Es gelang ihm aber nicht. Und das hatte ihn geärgert. Er gönnte Anna diese Genugtuung nicht. Am liebsten hätte er zu ihr gesagt, sie solle die teure Tasche wieder mitnehmen, denn so etwas Wertvolles dürften ihm nur nahestehende Menschen schenken. Und Anna rechnete er nicht mehr dazu. Auch passte es ihm nicht, dass Anna jedem erzählt hatte, wie gut sie mit der Tasche seinen Geschmack getroffen hat. Alle wussten Bescheid. Sogar sein Bruder. Was sollte das, wollte sie damit eine neue Nähe suggerieren? Sebastian verscheucht den Gedanken. Er hebt das Buch von Eva Illouz vom Boden auf, biegt die eingeknickten Ecken wieder gerade und legt es auf den Sofatisch. Sein Magen streikt. Er hat den Rotwein zu schnell hinunter gestürzt. Der Schließmuskel seines Magens hat sich geöffnet und jetzt schwappt Magensäure in die Speiseröhre. Eklig ist das, denkt Sebastian, und Annas Großzügigkeit ist es auch. Erst die Designertasche und jetzt auch noch Flüge. Ihre Art zu geben ist eine Belästigung. Sebastian starrt den Titel des Buches an: „Das Glücksdiktat“. Er nimmt das Telefon in die Hand und sucht nach Annas Nummer. Er zögert: Ausgerechnet Venedig. Ich liebe Venedig. Und dann noch die Biennale. Ich liebe die Biennale. Und Anna. Und Anna?