Alltag # 45
Dieser Tag wird ein guter Tag. Ich weiß nur noch nicht, wann er für mich anfängt!
Heute war Sonntag. Sebastian lag im Bett. Vor ein paar Minuten war er aufgewacht. Sein Körper fühlte sich ausgeschlafen an. Er öffnete die Augen und sah Richtung Fenster. Der Vorhang war noch zugezogen. Im Zimmer breitete sich trübes Licht aus, das hieß, es war bewölkt. Grau bewölkt. Er hätte den Vorhang gerne zur Seite gerissen aber sein Arm war dafür nicht lang genug. Dazu hätte er schon aufstehen müssen. Sebastian hatte aber noch nicht das Gefühl, für den Tag bereit zu sein. Auf seinem Nachttisch stapelten sich Bücher. Zuoberst lag eines, indem eine Frau berichtet, wie ihr von einem Bären die Hälfte ihres Gesichts herausgerissen worden war und wie sich ihr Leben danach verändert hatte. Sebastian hatte sich vorgenommen, noch diese Woche mit dem Buch zu beginnen. Doch jetzt war es schon wieder Sonntag und auch heute ließ er es auf dem Nachttisch liegen. Und all die anderen auch. Er wollte weder etwas von der Welt dieser Frau erfahren noch von anderen Welten. Es war ihm aber auch nicht danach, noch länger im Bett herumzulungern. Sebastian rutschte auf der Matratze mit dem Po nach unten, streckte ein Bein unter der Decke hervor und versuchte mit seinen Zehen den Vorhang zu erreichen. Es gelang ihm nicht. Sebastian rutschte zurück zu den Kopfkissen. In ein paar Stunden war er mit Hannes und Johann zu einem Spaziergang verabredet. Dass hatten sie vorgestern abgemacht. Er griff nach seinem auf dem Nachttisch liegenden Telefon und teilte Hannes und Johann mit, dass er nicht mitkommen werde. Die Vorstellung, durch ein Naturschutzgebiet zu wandern, beflügelte ihn nicht. Sebastian stapelte seine Kopfkissen übereinander, legte sich auf die Seite, winkelte seine Knie unter der Bettdecke an und blickte zur Tür, die er immer schloß, wenn er zu Bett ging. Das tat er auch dann, wenn sonst niemand in der Wohnung war, denn auch er fühlte sich wie ein Naturschutzgebiet. Sein Telefon klingelte. Er ließ es klingeln. Zuhören war ihm zu anstrengend und etwas ins Telefon zu sprechen, wollte er schon gar nicht. Sebastian sah auf die Uhr. Jede Minute zog sich hin. Er stöhnte. Die Zeit dehnte sich viel mehr seitlich aus, als dass sie zielstrebig auf den Mittag zuschoß. Gerne hätte er jetzt eine Fernbedienung in der Hand gehabt. Eine, mit der er seine Lebenszeit manipulieren könnte. Er wollte seine Zeit schon mal bis zum heutigen Abend vorspulen, bis zehn oder elf Uhr, bis wieder Einschlafenszeit war. Sebastian drückte seinen linken Fuß gegen die rechte Wade. Seine Fußsohle war warm, auch seine Wade. Trotz dieser spürbaren Wärme würde heute weder im Aufstehen noch im Liegenbleiben Frieden einkehren. Eigentlich kannte er das schon. Eigentlich wusste er über diesen Zustand Bescheid. So lief es immer ab, wenn sein Vater bei ihm zu Besuch war. Hinterher war er jedesmal so müde, so todmüde, dass er sich gleich ins Bett warf. Was er auch gestern getan hatte, noch ohne sich vorher die Zähne zu putzen. Nach einer Begegnung mit seinem Vater, war der nächste Tag verpfuscht. Dann lief nichts mehr so, wie er es ursprünglich geplant hatte. Es war jedes mal das Gleiche. Sein Körper, mit dem er durch das Leben segelte, war dann nicht mehr steuerbar. Er hatte nichts mehr im Griff. Sein Körper trieb einfach ab, wie ein Boot ohne Segel, ohne Ruder, ohne Motor. Als er gestern seinen Vater an der Wohnungstür begrüßte, hatte er sofort das traurige Gefühl, nichts zu sagen zu haben. Und wenn, könnte er sowieso nur Themen wie das Wetter, die Politik oder technische Neuerungen ansprechen. Sobald sein Vater anwesend war, fühlte sich Sebastian wie ein Haustier. Eines, dem der Befehl gegeben worden war, stillzuhalten. Wie viele Stunden würde es dieses Mal dauern, bis er diesen Kälteeinbruch wieder überstanden hatte.
Saskia reißt eine Tüte Erdnussflips auf. Alle Flips werden in ihrem Magen landen. Sie weiß, dass sie da alle reinpassen. Bevor sie sich den ersten in den Mund schiebt, denke sie noch, danach wird etwas leichter sein. Das wird dann aber nur die Verpackung sein.
Meine Mutter drückt mir fünfzig Euro in die Hand und sagt: »Damit Du mit mir zufrieden bist!«
Das Gefühl, S. will kurz mal vorbeikommen, stresst.
Das Gefühl, L. möchte, dass es mir noch viel öfter gut geht, beruhigt.
Das Gefühl, D. möchte mich nicht mehr so oft sehen, verunsichert.
Das Gefühl, T. wird sich nicht mehr bei mir melden, tröstet.
Das Gefühl, B. will nur Raum haben um von sich zu erzählen, belastet.
Das Gefühl, G. will bei der Begrüßung lange in meiner Umarmung bleiben, beglückt.
Sebastian hatte Marie am Samstag angerufen. Und heute war Mittwoch. Im Grunde war das nicht weiter tragisch, dass Marie sich bei ihm nicht zurückgemeldet hatte. Sebastian wusste, dass das nichts heißen musste und dass es mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit auch nichts hieß. Rein gar nichts. Auch hatte er keine Nachricht hinterlassen, die Maries Rückruf erforderlich gemacht hätte. Und nun war da seit Samstag diese leichte Anspannung in ihm. Eine, die er nicht ablegen konnte. Egal was er tat, begleitete sie ihn. War immer zu spüren. Das nervte ihn. Kleidung, dachte er, kann man jederzeit ablegen. Bei dem Stil, den man für sich gefunden hat, verhält es sich schon anders. Und bei Haut ist es vollkommen unmöglich. Zumindest, wenn man dabei noch überleben will. Sebastian drückte auf das grüne Icon mit dem weißen Telefonhörer, scrollte mit dem Zeigefinger die Telefonliste durch und fand die Zeile, nach der er gesucht hatte. Links war das Zeichen für ausgehende Anrufe, in der Mitte stand Maries Name und rechts das Wort Samstag. Er hatte den Beweis schwarz auf weiß vor sich. Diesen Zeitpunkt hat es gegeben. Weder hatte er sich das eingebildet, noch hatte ihn sein Erinnerungsvermögen getäuscht. Sebastian machte einen Screenshot, verstaute das Telefon in der Hosentasche und schob den Stuhl bis an die Kante des Schreibtisches. Der Termin beim Steuerberater war zwar erst in zwei Stunden, dennoch wollte er das Büro jetzt schon verlassen. Vor dem Aufzug stehend drückte er die Taste mit dem nach unten zeigenden Dreieck. Sie leuchtete rot auf. Sebastian warf einen Blick auf seine Schuhspitzen. Sie waren eingestaubt. Er spürte, wie eine Anklage in ihm hochsteigen wollte. Inzwischen gelang es ihm aber schon ganz gut, solche Gedanken abzuschmettern und zum Schweigen zu bringen. Er ging durch die Drehtür und sah in den Himmel. Er war dunkelblau. So wie er das aus Neapel kannte. Eine Farbe, die in dieser Stadt nicht so oft ausgeliefert wurde. Heute hatten die Sonnenstrahlen also freie Bahn und wurden nicht vom Grau des Himmels ausgebremst. Das gefiel ihm. Sebastian überquerte die Hauptstrasse mitsamt den Trambahnschienen. Er wollte die gesamte Strecke zu Fuß gehen. Die genaue Anzahl der Meter, die er noch bis zum Büro des Steuerberaters laufen musste, hätte er sich von seinem Telefon ausrechnen lassen können. Und auch, wie lange es dauert sie zu Fuß zu gehen. Ihm war aber nicht nach einer Vorwegnahme. Darüber brauchte er keine präzise Auskunft. Die Zeit, die noch vor ihm lag, verunsicherte ihn nicht. Bei Marie verunsicherte ihn die Zeit dagegen schon. Da wollte er Klarheit haben. Eine möglichst exakte Angabe. Sebastian blieb vor einen Designerladen stehen. Im Schaufenster stand ein Tisch mit einem neonfarbenen Gestell. Er hatte kein Bedürfnis etwas zu kaufen, sah sich Neuheiten aber gerne an. Sebastian ging weiter und bedauerte, dass er Marie nicht zwingen konnte, ihm mitzuteilen, wann sie sich bei ihm zurück melden wird. Sie höflich danach fragen, wollte er nicht. Er befürchtete verschroben auf sie zu wirken. Dabei benötigte er unbedingt diese Zeitangabe, wäre sie auch noch so absurd. Auch wenn Marie ihm mitteilte, dass sie sich erst wieder bei ihm melden würde, wenn sie das Glas mit den selbsteingelegten Mirabellen aufgegessen hat. Selbst das würde ihn entlasten. Sebastian seufzte. Dass er ihren Rückruf weder erraten noch berechnen konnte, blieb eine verfluchte Zumutung.
Paula erzählt mir, was sie alles in der vergangenen Woche erlebt und getan hat. Ihre Woche war mit einer Erlebnis- und Empfindungsdichte gespickt, die in meinem Leben weder in den letzten Tagen, noch in den letzten Monaten vorgekommen ist.
Sich dem Zeitvertreib hingeben, festzuhalten, wo man überall nicht hineinpasst. Zum Beispiel in eine Dachrinne.
Ich greife nach der Gießkanne und mache einen Fleck auf die Tischdecke. Die trockene Tischdecke soll jeden Tag eine Nassstelle haben, um einer Austrocknung vorzubeugen.