Lebensentwürfe # 34
Auf einer kleinen griechischen Insel befindet sich am Rand eines Dorfes ein großes Haus mit vielen Zimmern. Eine Frau aus Holland hat es gemietet und ein spirituelles Zentrum daraus gemacht. Einen Ort für Touristen. Dort werden außer Übernachtungen auch Kurse und geführte Tagesausflüge angeboten. Das Zentrum ist von Mai bis Oktober geöffnet und dann sechs Monate lang geschlossen. Über den Winter wohnt niemand dort. Auch die Chefin kehrt dann nach Holland zurück. Sie betreibt das Zentrum schon seit vielen Jahren. Eine ihrer Hausregeln ist das Verbot, während des Aufenthalts wilde Katzen zu füttern. Die Chefin weiss, dass deren Überlebenschancen gegen null gehen, sobald das Zentrum winterfest gemacht worden ist. Denn nicht nur das Zentrum macht die Schotten dicht, sondern auch alle Cafés, alle Restaurants, alle Geschäfte und auch der einzige Supermarkt in der Gegend. Ohne Zugang zur nächsten Stadt ist man aufgeschmissen. Deshalb stehen dann auch die meisten Häuser leer.
Fast immer halten sich ihre Gäste an diese Regel. Nur dieses Jahr setzte sich eine Frau darüber hinweg. Sie hatte Mitleid mit einem jungen abgemagerten Kätzchen und gab ihr jeden Tag Milch und manchmal auch Fisch. Sie stellte die Schüssel so geschickt auf, dass die Chefin es nicht mitbekam. Als sie eine Woche später abreiste, übernahm ein anderer Gast die Fütterung. Und so kam es, dass das kleine Kätzchen groß und stark und anschmiegsam wurde. Und dann dämmerte es auch der Chefin, denn die Katze hielt sich fast nur noch auf der Terrasse auf. Dort ließ sie sich gerne streicheln, auch von mehreren Gästen gleichzeitig. Und so wurde die Katze doch noch zur offiziellen Hauskatze des Zentrums. Weitere Touristen kamen und gingen aber sie blieb und ließ sich weiter füttern und streicheln. Aber dann nahte der besagte Zeitpunkt, von dem die Chefin schon früh gewarnt hatte. Es war Ende Oktober und in drei Tagen würde das Haus in seinen jährlichen Winterschlaf fallen. Nun sorgten sich die verbliebenen Gäste um die Katze. Sie wollten sicherstellen, dass sie überlebt. Eine Besucherin hätte sie gerne nach London mitgenommen. Aber sie lebte dort mit ihrem Bruder zusammen und der hatte eine Katzenhaarallergie. Eine andere Frau rief in Tierheimen an und fand heraus, dass sie alle überfüllt waren und keine Katzen mehr aufnahmen. Auch keine Hunde mehr. Eine andere Besucherin schlug vor, die Katze mit nach Deutschland zu nehmen und in ihrem Bekannten- und Freundeskreis herumzufragen. Aber ihr Mann war dagegen. Er wollte nicht, dass seine Frau so viel Verantwortung übernimmt. Sie sei doch gerade deswegen in das Zentrum gekommen, um sich mal weniger aufzubürden. Ein anderer Mann bot an, in Dänemark einen Tierarzt anzurufen, mit dem er befreundet war, er könnte herausfinden wie schlecht die Überlebenschancen der Katze wirklich sind. Sein Vorschlag wurde als albern abgetan. Viel Zeit blieb ihnen nicht mehr. Am nächsten Tag beschlossen sie, Geld für die Katze zu sammeln. Sie waren überzeugt, dass das zu etwas führen wird. Dass das die ersehnte Lösung ist. Es kamen zweihundertvierzig Euro zusammen. Aber keiner wusste so recht, wie das Geld eingesetzt werden sollte, um die Katze zu retten. Um das herauszufinden, versammelten sie sich auf der Terrasse. Während sie miteinander beratschlagten, kam ein Hund auf das Gelände. Sie kannten ihn. Meistens lag er auf dem Parkplatz vor dem angesagten Café. Jeder von ihnen wusste, dass ein junges Ehepaar aus London ihn auf der Insel ausgesetzt hatte, dass sie einfach ohne ihn zurückgeflogen waren. Seither streunte er herum und machte immer einen friedlichen Eindruck. Deswegen dachten sie sich auch nichts weiter. Die Katze schon. Sie machte einen Buckel und fauchte. Der Hund lief ihr entgegen, sprang sie an und biss mehrmals zu. Eine Frau lief entsetzt hin und verjagte den Hund. Die Katze schüttelte sich mehrmals und ging weiter. Kein Blut war zu sehen. Alle waren beruhigt. Zehn Minuten später lag sie tot auf der Terrasse. An der Stelle, an der sie jeden Tag ihre Mahlzeiten eingenommen hat. Die Gäste begruben sie gemeinsam unter einem Baum. Danach griffen sie in den Spendentopf und holten sich das Geld zurück, dass sie hineingeworfen hatten.