Lebensentwürfe # 33 (Mia und Marie Ostsee…)

Lebensentwürfe # 33

Mia war bei Marie zu Besuch, aber seit einer Stunde saßen sie im Zug Richtung Norden. Sie wollten ein paar Tage auf einer Miniinsel in der Ostsee verbringen. Sie freuten sich auf Frischluft, warme Sonnenstrahlen, die Weite des Meeres und Imbissbuden, die Fischbrötchen verkaufen. Bismarck. Matjes. Makrele. Brathering. Lachs. Sie wollten alle Sorten probieren und danach eine Rankingliste erstellen. Aber Mia wünschte sich noch ein bisschen mehr. Sie träumte davon, einem Mann begegnen zu können, der sie aus ihrer Ehe reißt. Gestern Abend hatte sie Marie deswegen schon gefragt, ob sie sich noch schnell ein Haarfärbemittel besorgen soll. Sie meinte, es wäre von Vorteil, wenn sie während der nächsten Tage schön aussehen könne. Zumindest so gut, wie sie es auf die Schnelle noch hinbekommen könne. Denn Mia war überzeugt, dass diese Begegnung nicht zustande kommen kann, wenn ihr grauer Haaransatz zu sehen ist. Marie sagte nur, das Schicksal sei nicht so kraftlos, dass es auf ein Haarfärbemittel angewiesen ist, um zuschlagen zu können. Mia ging dann kein Färbemittel holen. Angeblich nur, weil sie Maries Badezimmer für diese Sauerei nicht benutzen wollte. Und dann kam doch alles ganz anders. Zumindest für Marie. Nach einer zweistündigen Fahrt mit der Fähre kamen sie gegen acht Uhr im Hafen an und suchten dann gleich ihr kleines Apartment auf. Sie packten ihre Reisetaschen aus und planten den nächsten Tag. Auf der Insel gab es einen einzigen Bus, einen Elektrobus, der die Insel ein paar Mal am Tag rauf und runter fuhr. Mit ihm wollten sie bis zur Endhaltestelle mitfahren und dann sehen, was sich so ergeben würde. Sie gingen früh schlafen, standen früh auf und gingen als erstes zum Hafen. Marie blieb vor der Bushaltestelle stehen und sah auf den Plan. Als sie die passende Abfahrtszeit entdeckt hatte, stellte sich ein Mann neben sie. Er sprach Marie ohne Umwege an und ohne sie zu grüßen. Er begann einfach mit einem langen Satz. Marie drehte ihren Kopf zu ihm. Er schien von diesem Dorf zu sein. Er war um die dreißig, muskulös, um einiges größer als Marie und blond. Er trug einen zeitlosen Kurzhaarschnitt und eine blaue Latzhose. Marie sah in sein apartes Gesicht. Mit dem rechten Auge konnte er seinen Blick nicht kontrollieren, es kreiste wahllos hin und her, aber mit dem linken konnte er geradeaus sehen. Seine Worte waren schwer verständlich. Manche Silben sprach er sehr gedehnt, andere verschluckte er und manche Worte, die den Satz vervollständigt hätten, ließ er gleich ganz weg. Marie wollte sicher gehen, dass sie ihn verstanden hatte und wiederholte alles mit ihren Worten. Dabei sah sie ihm in das Auge, das stillhalten konnte. »Meinst du, dass jetzt kein Bus kommen wird, weil jetzt auch keine Fähre kommt? Dass hier auf der Insel überhaupt nur dann Busse fahren, wenn auch Fähren ankommen?« Er nickte. »Aber auf dem Busfahrplan steht, dass der nächste Bus in zehn Minuten kommt!« Der Mann schüttelte den Kopf und verschwand. Marie gefiel es, dass er die Informationen des Busfahrplans ignorierte. Er schien seine eigene Logik zu haben und die fand er spannender und Marie fand ihn spannender als den Busfahrplan. Marie schaute zu Mia hinüber und beobachtete sie. Sie fotografierte ein paar alte Fischerboote. Dann tauchte der Mann ohne Namen wieder auf. Aus seinem schwer verständlichen Redefluss konnte Marie entnehmen, dass er sich bei einem Freund nach dem Bus erkundigt hatte, und nun wisse, der Bus würde gleich kommen. Marie könne also hier stehen bleiben. Marie berührte diese Hilfsbereitschaft und sein Umgang mit Widersprüchen. Dass ihm das egal war, wie oft oder wie sehr er sich widersprach, lockerte alles gleich so auf. Er zeigte ihr damit, dass überhaupt und generell alles auch ganz einfach sein kann. Marie war ihm dafür dankbar. Nachdem sie einen langen Spaziergang zu einem Leuchtturm gemacht hatten, erreichten sie gegen Mittag ein Dorf. Als erstes machten sie eine Pause bei einer Eisdiele. Sie holten sich Eiscremebecher und setzten sich auf eine Bank. Marie löffelte kleine Portionen Karameleis auf ihren Holzspatel und Mia Himbeereis auf ihren. Ein wenig später tauchte der Mann ohne Namen wieder auf. Er unterhielt sich an einer Wegkreuzung mit einer jungen Frau und schien Mia und Marie nicht zu bemerken. Die junge Frau und er schienen sich zu kennen. Sie wirkten vertraut. Ein kleines Kätzchen kam an und schlich der Frau um die Fußknöchel. Sie hob es hoch und hielt es vor ihr Gesicht. Der Mann ohne Namen beugte sich vor und küsste das Fell des kleinen Kätzchens. Der Kuss sollte wohl durch das Fell des Kätzchens hindurchfließen und auf der anderen Seite bei der jungen Frau landen. Die junge Frau hatte das Spiel verstanden und drückte ihre Wange in das Fell des Kätzchens. Und dann küsste sie das Fell der Katze auf ihrer Seite und der Mann ohne Namen drückte seine Wange in das Fell der Katze. Danach verabschiedete sich die junge Frau von ihm und sagte mehrmals: »Dann bis Samstag!« Einen Tag später erfuhren Mia und Marie, was es mit diesem Samstag auf sich hatte. Sie waren in einem anderen Dorf auf der Suche nach Fischbrötchen und waren aus Versehen in ein verlassenes Industriegebiet geraten, als plötzlich der Mann ohne Namen mit dem Fahrrad auf sie zukam. Er musste sie schon vorher beobachtet haben. Denn sonst schien es niemanden hierher zu verschlagen. Er bremste, blieb abrupt vor ihnen stehen und lud sie ganz unvermittelt zu einer Party ein. Am Samstagabend gäbe es ein Fest im Dorf. Es berührte Marie, dass er sein Interesse so offen vor sie hinlegte, wie eine Katze jemandem eine Maus vor die Füße legte. Es kam ihr so vor, als könne der Mann bei ihr einen Glücksschalter bedienen, jederzeit alles leichter und heller machen. Sonst käme hier wahrscheinlich niemand auf die Idee zwei Touristinnen auf ein Dorffest einzuladen. Man hält hier die Touristen eher auf Distanz, es sei denn man kann mit ihnen Geld verdienen. Aber dem Mann ohne Namen waren solche Konventionen schnuppe. Marie erfreute sich mehr an ihm, als an der schönen Landschaft. Heidekraut, Fichten, Kiefern und der weiße Strand waren für sie zweitrangig. Er wollte sie dabei haben und das war großartig. Punkt. Mia und Marie bedauerten, dass sie für diesen Tag schon ihre Rückfahrt gebucht hatten. Viel lieber hätten sie ihm zugesagt. Hätten mit ihm das Tanzbein geschwungen. Der Mann radelte danach grußlos weg. Aber schon eine Stunde später sahen sie ihn wieder. Er kam die Hauptstraße entlang und stoppte vor dem Restaurant, in dem sie gerade Kaffee und Kuchen zu sich nahmen. Als er die paar Stufen, die zur Terrasse führten, hoch eilte, winkte ihm Marie erfreut zu. Er aber warf ihr keinen Blick zu und sagte nur: »Dich habe ich heute schon gesehen. Du interessierst mich jetzt gar nicht.« Seine Worte lösten bei Marie Heiterkeit aus. Sie musste lachen. Am Abend sahen sie den Mann ohne Namen dann noch einmal in dem Dorf, in dem sie wohnten, am Hafen. Er fuhr mit einem Motorboot aufs Meer hinaus und warf die Fischreste von einem Restaurant ins Wasser. An ihrem letzten Abend gingen sie deswegen noch einmal zum Hafen. Sie hofften, sie könnten mit ihm ein wenig aufs Meer hinausfahren. Als sie ankamen, war er schon da. Sie setzten sich auf eine Bank und der Mann ohne Namen fuhr mit dem Fahrrad herum. Marie grüßte ihn jedes Mal, wenn er bei ihnen vorbeikam. Das erste Mal schüttelte er bloß den Kopf und rief: »Nein, nein, nein!«. Und das zweite Mal, sagte er: »Ja, ja, ja.« und kam ein paar Minuten später zu Fuß in ihre Richtung gelaufen. Er blieb dann aber bei einem fest installierten Mülleimer stehen und tat so, als müsste er dort etwas kontrollieren oder vielleicht kontrollierte er dort auch wirklich etwas. Als Marie sich sicher war, dass er sie hören konnte, fragte sie ihn, ob sie heute mit ihm und dem Boot ein wenig aufs Meer hinausfahren könnten. Das würde sie sehr freuen. Der Mann ohne Namen kam näher, setzte sich neben Marie auf die Armlehne der Bank, sah Marie eindringlich an und sagte: »Aber warum hast du das denn nicht schon früher gesagt!« Seine Stimme war sanft. Alles war gut zu verstehen. Keine Silbe war verschluckt oder ausgelassen worden. »Du warst also heute schon draußen!«, fragte Marie. Er nickte. »Na dann«, sagte Marie, »machen wir das im nächsten Jahr!«. Der Mann ohne Namen verdrehte die Augen, eigentlich nur eines, das andere drehte sich ja schon von alleine und sagte: »Ich habe doch keine Ahnung, wo ich nächstes Jahr bin!« Marie fragte nach, ob er sich denn oft in dem anderen Dorf aufhalten würde, wo sie ihn bei dem Restaurant gesehen hatten. Ja, sagte er, er würde jeden Tag dorthin radeln, dort seien seine Chancen jemanden zu finden viel höher als hier.
Dieser Mann ohne Namen hat sich in Marie hinein geschlichen und wohnt jetzt bei ihr. Jede Erinnerung an ihn fühlt sich gut an. Ungefähr so, wie wenn sie ihre Hand auf einen warmen Laib Brot legt. Marie hätte sich eine letzte Begegnung gewünscht. Aber der Mann ohne Namen kam nicht zum Hafen, als ihre Fähre abfuhr. Das Leben ist so eigenartig, denkt Marie, manchmal spielt es einem etwas zu und dann liegt es nur an einem selbst, ob man mitspielt oder nicht.

 

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