Lebensentwürfe # 18
Marie passt auf, dass ihr beim Gehen die zwei großen Löffel nicht aus den vollen Schüsseln kippen. Sie ist mit ihrem Ergebnis zufrieden. Ein Kilo Erdbeeren gewaschen, die Strünke entfernt, geviertelt, einen ganzen Becher Sahne geschlagen, Zucker hinzugefügt und verteilt. Wenn Sandra sagt: »Das schmeckt mir!«, kann Marie an der Art und Weise, wie Sandra das »m« schwingen lässt erkennen, welchen Genuss das Essen noch bei ihr auslöst. Tragen sich die Schallwellen, wie die Wellen eines ins Wasser geworfenen Steins, weit in den Raum hinein, bis über Maries Ohren hinaus, bedeutet das einen hohen Genussfaktor. Ist das »m« aber auch noch bis zum Nachbargrundstück zu hören, ergibt das ganze hundert von hundert Punkten. Marie sieht den Birnbaum an, der auf dem Nachbargrundstück in voller Blüte steht. Er trägt so viele Blüten, dass die grünen Blätter darunter nicht mehr zu sehen sind. Es sieht fast so aus, als würde er ein Kleid aus Zuckerwatte tragen. „Ganz in Weiß“, denkt Marie, und erinnert sich wieder an das Lied von Roy Black. „Es gibt nichts mehr was uns beide trennen kann“. Zum Birnbaum passt das Lied nicht, denkt Marie, und zu Sandra noch viel weniger. Marie geht weiter und erreicht den großen überdachten Stall mit den frei laufenden Hühnern. Noch ein paar Schritte und ich bin wieder bei ihr, denkt sie. Aber dass auch dieser Wunsch nun einer so offensichtlichen Endlichkeit unterworfen ist, bereitet ihr Schluckbeschwerden. Sie sucht nach einem anderen Gedanken. Ihr fällt nur ein: Ich mag sie so sehr. Aber das erleichtert ihr nichts.
Sie sieht beim Weitergehen nach unten und nimmt wahr, dass das Gras bei jedem ihrer Schritte nieder getreten wird. Es hat keine andere Möglichkeit, als das zuzulassen. Trotzdem wird es davon nicht zerstört, denkt Marie. Aber Sandra wird gerade zerstört und wir sprechen schon den ganzen Vormittag darüber. Wir wissen nicht woran genau das liegt. Doch die Neugierde, das Rätsel zu lösen, lässt nicht nach. Weder bei ihr noch bei mir. Als könnte einem ein tieferes Verständnis der Zusammenhänge etwas leichter machen. Einem alles leichter machen. Auch das Sterben.
Marie lächelt Sandra an und überreicht ihr die schönere der beiden Keramikschalen, die weiße. Im Inneren trägt sie blaue Linien, die wegen der Erdbeeren gerade nicht zu sehen sind. Im Zusammenlaufen ergeben sie Blütenblätter. Als Lüftelmalerei würde Marie diese Technik gern bezeichnen, auch wenn sie weiß, dass das nicht die richtige Bezeichnung ist. Aber für Sandra. Die zartblauen Blüten wirken leicht, schwebend, fast durchsichtig, so wie sie. Ein Polster hat sie im Rücken und ein weiteres unter dem Steißbein. Sonst wäre das Liegen nicht mehr erträglich. Die Knochen zeichnen sich schon ab. Ihre Haare frisiert sie nicht mehr. Sich das sparen zu können, erleichtert sie. Als wäre das Frisieren immer schon eine Last gewesen. Eine auf die man jetzt verzichten kann. Gestern hob sie ein Haarbüschel hoch, hielt es Marie entgegen, und sagte stolz: »Das lässt sich jetzt nicht mehr auflösen!« Marie hatte das streichholzschachtelgroße verfilzte Knäuel betrachtet und war erschrocken. Nicht, weil sie darin eine Vernachlässigung gesehen hätte, sondern weil sie nicht wusste, ob Sandra es absichtlich so formuliert hatte. Da war nun diese Sache. Erst vor ein paar Wochen hat sie davon erfahren. Und der Schreck darüber lässt nicht nach. Weder bei Sandra noch bei mir, denkt Marie.
Sandra hält die Schüssel mit beiden Händen: »Ich liebe Erdbeeren mit Sahne«. Sie stellt sie in ihren Schoß und strahlt hinein. Marie schleift ihren Liegestuhl über den Rasen, näher zu Sandra hin. Der Abstand von Liegestuhl zu Liegestuhl soll ihr das Sprechen und Hören nicht unnötig erschweren. Marie setzt sich, greift nach ihrer Schale, die sie auf dem Rasen zwischengeparkt hatte, und schaut zu Sandra hinüber. Sandra sagt: »Hau rein!« Sie trägt die orange Jacke, die Marie so an ihr mag. Sie ist aus Daunen. Man sieht nicht, wie ihr Körper darunter zergeht. Wegschmilzt. Das Fett immer zuerst. Danach die Muskeln. Auch das ist mir ein Rätsel, denkt Marie, wie gut Kleidung als Tarnung eingesetzt werden kann. Für alles Mögliche. Mit der Jacke sieht Sandra normal aus. So wie immer.
Sandras Liegestuhl steht unter dem Apfelbaum. Auch er blüht. Seine Blüten strahlen. Sandras Gesicht auch. Obwohl das in ihrem Stadium absurd erscheint. Alles scheint absurd. Vor allem das Wissen, es könnte jetzt schon das letzte Mal sein, dass wir zusammen tiefrote Erdbeeren mit weißer Sahne essen.