Alltag # 90
Ein Teil der S-Bahnstrecke ist gesperrt. Marie biegt um die Ecke und entdeckt fünfzig Meter vor sich ein provisorisch aufgestelltes Bushaltestellenschild. Das Schild sieht wackelig aus. Der Stab mit dem grün-gelben Schild wurde am Rand des Bürgersteigs einfach in einen breiten Block gesteckt. Diese Konstruktion wird für eine Woche dort stehen bleiben, dann wird das Schild wieder weggetragen. Marie nähert sich dem Werk. Allein. Sonst steht da niemand. Ein Ersatzbus ist gerade eben erst abgefahren. Marie muss jetzt auf den nächsten warten und ihr Verhältnis zum Warten ist angespannt. Auf etwas warten zu müssen strapaziert ihre Nerven. Sie hat dann das Gefühl, dass sich die Zeit seitlich ausdehnt, statt wie sonst nach vorne zu rasen. Marie erreicht die Haltestelle und starrt in die Richtung, aus der der Bus kommen wird. Sie hofft, dass ihre Augen den Bus magnetisch herbeiziehen können. Aber an ihr fahren nur stinkende Autos und Motorräder vorbei. Marie spürt, wie sich Groll gegen die Verkehrsbetriebe aufbaut. Es ärgert sie, dass sie jetzt so ausgeliefert ist. Und nicht einmal ein Bushäuschen gibt es hier. Darin zu sitzen, hätte sie etwas beruhigt. Auch nimmt sie es persönlich, dass sie an der Haltestelle immer noch die einzige ist, die dem Warten ausgesetzt ist. Niemand sonst leistet ihr dabei Gesellschaft. Marie steht gerne mit allem Möglichen auf Kriegsfuß. In ihrem Leben gibt es ein graues Loch. Ein Mangel plagt sie. Aber damit will sie sich jetzt nicht beschäftigen. Sie kehrt der Fahrbahn den Rücken zu und sieht zu den Wohnblöcken hinüber, die sich hinter dem Gehsteig auftürmen. Die Architektur begeistert sie nicht, ebenso wenig die Passanten, die auf dem Gehsteig an ihr vorbeilaufen. Aber zwischen den Häusern und dem Bürgersteig entdeckt sie eine meterlange Hecke. Das Grün erfrischt ihre Augen und das muntert sie auf. Dass die Hecke ihr Grünsein so schamlos zur Schau stellt, beeindruckt sie. Die Hecke will sich nicht vor der Welt verstecken. Sie geht zu ihr hinüber und sieht sie sich genauer an. Die kleinen Blätter haben eine ovale Form, ihre Oberseite ist glänzend, die Unterseite etwas heller und matter. Wahrscheinlich ist das Buchsbaum, denkt sie, und hofft, mit dem Begriff ins Schwarze getroffen zu haben. Sie möchte nicht achtlos alles über einen Kamm scheren, nur weil sie gerade keine anderen Gattungsbegriffe für Hecken parat hat. Die Hecke zeigt sich, denkt Marie. Alle dürfen alles sehen. Sie ist einfach bemerkenswert offen. Marie dagegen zieht es vor, vieles von sich im Verborgenen zu lassen. Marie streckt die Hand aus und berührt ein paar von den eiförmigen Miniblättern. Sie fühlen sich robust und glatt an. Aus den Augenwinkeln sieht sie, dass sich ein Bus nähert und als sie den Kopf wendet, erkennt sie, dass es ihrer ist. Der Fahrer blinkt bereits und drosselt die Geschwindigkeit. Schnell streckt Marie die Hand aus und streift nun über so viele Blätter, wie sie erwischen kann. Sie streichelt der Hecke mehrmals über den Kopf oder über das, was sie bei einer Buchsbaumhecke für den Kopf hält. Als Dankeschön. Während sie einsteigt und nach einem freien Sitzplatz Ausschau hält, bemerkt sie, dass sich die angenehmen Berührungen der kleinen Blätter in ihren Körper eingebrannt haben. Mit der gleichen Intensität, wie das sonst meist nur unangenehme Dinge fertig bringen.