Alltag # 88
Sebastian steht in seinem Schlafzimmer mit einem um die Hüfte gewickelten Handtuch. Er kommt gerade aus der Dusche, öffnet die Tür zum Kleiderschrank und lässt das Handtuch auf den Boden gleiten. Das erstaunt ihn. Normalerweise nimmt er es ab und legt es sorgfältig auf den Hocker, der ihm als Kleiderablage dient, um es später zum Trocknen an einen Haken zu hängen. Er vermutet, dass er das gerade wegen Anna getan hat. Anna hatte öfters von ihm verlangt, dass er sein um die Hüfte geschlungenes Handtuch vor ihren Augen auf den Boden fallen lassen soll. Und weil er wusste, wo Anna dann hinsehen würde, hatte das bei ihm gleich eine Schwellung bewirkt, noch bevor er das Handtuch überhaupt geöffnet hatte. Jetzt ist sein Handtuch aber einfach nur auf den Boden gefallen und sein Geschlechtsteil ist schlaff geblieben. Er hebt das Handtuch wieder auf und dabei fällt ihm der Kerzenständer ein. Er geistert schon seit Tagen in seinem Kopf herum. Sobald er mit dem Ankleiden fertig ist, wird er nach ihm sehen. Er will das mit dem Kerzenständer nicht noch länger auf die lange Bank schieben. Sebastian knöpft sein Hemd zu, lässt die beiden oberen Knöpfe auf, schlüpft in die Hose, zieht den Reißverschluss zu, macht sich barfuss auf den Weg ins Sofazimmer, stellt sich mittig vor das wandhohe Bücherregal, stemmt seine Arme in die Hüften und zwingt sich, den Kerzenständer anzusehen. Den hat ihm Anna irgendwann aus Italien mitgebracht. Von einer Insel, die bekannt ist für ihre Glasherstellung. Anna hat ihm den Kerzenständer in der Zeit geschenkt, als sie noch ein Paar waren. Als er noch dachte, dass das mit ihnen ewig so weiter gehen würde. In der Zeit, als er sich noch völlig sicher war, es würde ausreichen, dass er das so will. Als Anna ihm damals das Geschenk überreichte hatte, hatte er sich bis über beide Ohren gefreut. So sehr, dass er sogar kurz auf der Stelle auf- und abgehüpft ist. Wie kindisch er manchmal bei ihr werden konnte. Damals hatte Sebastian das teuere Ding als Sinnbild von Annas Zuneigung gesehen und wollte genau deshalb, dass der Kerzenständer in seiner Wohnung einen besonderen Platz bekommt. Seine Wahl fiel auf das Bücherregal. Dort konnte das schöne Objekt am besten zur Augenweide werden. Vom Sofa aus konnte er liegend gut seine Augen Richtung Bücherregal wandern lassen, um den Kerzenständer zu bewundern. Und eigentlich betrachtete er ab da nur noch ihn. Die anderen Gegenstände, die auch noch im Regal stehen, interessierten ihn dann nicht mehr. Er liebte das byzantinische Blau und das schöne Design mit den verschiedenen miteinander korrespondierenden geometrischen Formen. Ein Kreis, ein Oval, zwei Kreise, etwas Elliptisches und ein Zylinder. Es freute ihn, dass er so ein kostbares Mitbringsel wert war. Benutzen wollte er ihn aber nicht. Diesem Kerzenständer blieb es untersagt, seiner Bestimmung nachzukommen: Er durfte keine Kerze in sich spüren und keine an ihm herunterlaufenden heißen Wachstropfen. Sebastian wischt mit zwei Fingern Staub vom blau leuchtenden Glas. Seit der Trennung von Anna erträgt er es nicht den Kerzenständer anzusehen. Es ist zu schmerzhaft. Einmal stellte er sich vor, der Kerzenständer sei ein völlig neutraler Gegenstand, so, als käme er zum Beispiel aus dem Ausverkauf von einem insolvent gegangenem Kaufhaus. Aber es blieb bei dem Gedankenspiel. Sebastian streckt seine Hand aus, umfasst den Kerzenständer und zieht ihn aus dem Regal. Er schaut auf die leere Stelle und spürt die Kälte vom Glas auf seinen Fingerspitzen. Sebastian dreht sich zur Tür und macht sich mit dem Kerzenständer in der Hand auf den Weg zur Küche. Gleich wird er ihm entweder versehentlich aus der Hand rutschen, oder er landet, wenn er Glück hat, doch noch auf der Straße. Dort könnte ihn jemand mit nach Hause nehmen. Er bekäme noch eine Chance. Jemand anderes könnte zu ihm sagen: Du bist aber schön.
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