Alltag # 120 (Marie und Mann am Sicherungskasten…)

Alltag # 120

Marie steht auf dem Bürgersteig und wirft noch einmal einen Blick auf das Display ihres Telefons. Sie wartet auf den Uber Fahrer. Achmed sei in drei Minuten da, heißt es. Seit zehn Minuten erhält sie nun diese Information. Neben Marie steht ein junger Mann an einem geöffneten Sicherungskasten. Er trägt eine orange Warnweste und flucht. Dass Marie ihm dabei hören kann, scheint ihn nicht zu stören. Marie versucht herauszufinden, was los ist und bemerkt, dass an der nahegelegenen Kreuzung alle Ampeln ausgefallen sind. Das reißt Marie aus ihrer Situation. Das mulmige Gefühl, dass sich bei ihr immer einschleicht, wenn sie weiß, dass sie zu spät kommen wird, verschwindet. Der Mann am Sicherungskasten hat ein ganz anderes Problem als sie. Sie hofft, dass Fahrer Achmed bald ankommt, der Sicherungskastenmann muss Kabel neu zusammenschalten. Und er ist jetzt ganz alleine dafür verantwortlich. Alle rot-grün-Signale der Fußgängerampeln müssen sinnvoll mit den rot-orange-grünen der Verkehrsampeln getaktet werden. Und dabei darf ihm kein Fehler unterlaufen. Das hätte katastrophale Folgen. Fußgänger würden überfahren werden, Autos ineinander krachen. Marie schaut zur Kreuzung hinüber. Auf der Nord-Süd-Seite ist die Straße zweispurig. Auf der Ost-West-Seite vierspurig. Marie zählt. Es sind zwanzig Verkehrsampeln und acht Fußgängerampeln. Der Mann flucht erneut. Bestimmt, denkt Marie, würde er der Situation jetzt gerne entfliehen. Und schon wieder purzeln harsch ausgesprochene Wörter aus seinem Mund. Ihr fällt auf, dass zwei Wörter – abgesehen von Groß- und Kleinschreibung – die exakt gleiche Schreibweise haben. Er flucht und die Flucht. Sie fragt sich, ob man nur flucht, wenn man einer Situation nicht entkommen kann, ob das Fluchen eine Ersatzflucht ist? Sie nimmt sich vor, später noch einmal genauer darüber nachzudenken. Denn jetzt würde sie lieber dem jungen Mann helfen. Ihm irgendwie beistehen oder noch besser ihm die Lösung auf einem Silbertablett servieren. Menschen in Not und sei es auch nur eine kleine Not, erzeugen bei ihr schnell ein Mitgefühl. Marie muss erkennen, dass sie nichts tun kann. Dann stellt sie sich vor, sie könnte jetzt mit Hilfe einer Fernbedienung in ein Märchen hinüber wechseln. Und im Märchen wäre sie das Mädchen mit der Aufgabe, den Mann am Sicherungskasten zu retten. Und natürlich würde sie das schaffen. Wegen ihres über die Grenzen hinaus bekannten Mutes hatte man ihr einen Zauberstab geschenkt, mit dem sie jetzt dem Mann am Sicherungskasten die richtige Lösung hinzaubern kann. Aber dieser junge Mann hat keine Lösung. Schweißperlen laufen ihm die Stirn hinunter. Marie greift in ihre Tasche. Ihre Finger berühren eine Packung Taschentücher. Marie zieht die Packung heraus und bemerkt, wie ein Auto am Straßenrand stehen bleibt. Der Fahrer lässt das Seitenfenster herunterfahren und sagt: Marie? Sie nickt, stopft die Packung zurück in die Tasche, steigt hinten ein und begrüßt den Fahrer. Dass sie jetzt nicht erfahren wird, wie lang es für den Mann am Sicherungskasten noch dauern wird, bis er eine geeignete Lösung gefunden hat, wurmt sie. Bestimmt, denkt sie, sich selbst beschwichtigend, ist die Ampel in einer Stunde wieder repariert. Und bestimmt hat der Mann bis dahin auch selbst eine Möglichkeit gefunden, wie er sich seiner Schweißperlen entledigen kann.

 

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