Alltag # 119
Sebastian bleibt an der Bordsteinkante einer Kreuzung stehen und ist verdutzt. Keines von den beiden Ampelmännchen leuchtet. Bisher war die Ampel noch nie ausgefallen. Zumindest nicht, wenn er davorstand. Er dreht seinen Kopf. Mitten auf der Kreuzung steht ein Polizist. Einen Arm hält er waagrecht von sich gestreckt und mit dem anderen signalisiert er, dass die Autos fahren dürfen. Noch mehr Menschen bleiben an der Bordsteinkante stehen. Auch sie erkennen schnell, dass heute etwas anders ist. Sebastian weiß, dass die meisten Menschen ihr Verhalten nach den Ampelmännchen richten. Er tut das auch. Aber nicht immer. Steht die Ampel auf Rot und die Straße ist leer, bleibt er nicht stehen. Dann missachtet er die Vorschrift und stapft los. Er mag sich keiner Maschine unterwerfen. Er will selbst entscheiden, wann er geht. Schließlich hat die Ampel keine Augen in ihrem Ampelkörper, er aber schon. Er kann sich umsehen und den Verkehr einschätzen. Sind die Autos weit genug von der Kreuzung entfernt, überquert er die Straße auch bei Rot. Er kippt ja auch kein Salz in seinen Tee, nur weil ein Salzstreuer auf dem Tisch steht. Und ihm ist es dann auch egal, wer ihn dabei sieht. Auch wenn Mütter mit Kindern an der Kreuzung stehen, marschiert er los. Die Kinder können ruhig sehen, dass es zu jedem Verhalten auch Alternativen gibt, keine Gleichschaltung notwendig ist. Bei ihm war das schon als Jugendlicher so. Deswegen musste er bei seiner Chemielehrerin, die auch seine Klassenlehrerin war, oft Strafreferate halten. Erwischte sie ihn dabei, wie er auf dem Weg zur Schule, sich um keine Regel scherte, musste er zwei Minuten lang vor der gesamten Klasse Verkehrsregeln aufsagen. Kurzreferate über Verkehrsregeln zu halten, machte ihm nichts aus. Sein Verhalten änderte er deswegen nicht. Sich frei zu fühlen war ihm wichtiger. Sich wenigstens für einen kurzen Moment selbstbestimmt zu fühlen. Einmal nicht von etwas gegängelt zu werden. Auch heute sehnt er sich noch nach Minuten und Stunden, in denen er sich vollkommen frei fühlen kann. Dass die vor ihm stehende Ampel jetzt keine Signale mehr übermitteln kann, freut ihn. Das ist ein Anfang, denkt er. Das Blinken, das Aufleuchten, diese ständigen Hinweise haben jetzt ein Ende. Dinge, die man kennt, zeigen sich gerade anders. Ein warmes Gefühl breitet sich in seinem Körper aus. Sein Brustkorb dehnt sich aus. Und ihm kommt es so vor, als ob in seinem Rücken auch ein paar Wirbel aufatmen. Sebastian geht los. Der Polizist bläst Luft durch seine Trillerpfeife und Sebastian schmunzelt.