Alltag # 104 ( Marie war im Supermarkt…)

Alltag # 104

Marie war im nahegelegenen Supermarkt. Sie hat den Besuch lange hinausgezögert. Sie geht nicht gerne einkaufen. Steht sie in einem Supermarkt, nimmt sie sich jedesmal vor, ihn so schnell wie möglich wieder zu verlassen. Meistens gelingt ihr das aber nicht und sie verliert sich zwischen den Regalen. Denn ständig muss eine Auswahl gegroffen werden. Immer muss etwas irgendetwas anderem vorgezogen werden. Verschiedene Kategorien kämpfen miteinander. Die Menge mit dem Preis. Der Preis mit dem Label. Und umgekehrt. Marie ist jedesmal verblüfft, wie viel Zeit zwischen den Supermarktregalen wohnt. Und wie bereitwillig sie sich in sie hineinfallen lässt. Oft muss sie ihre Gedanken dann gewaltsam weiterziehen, wie über Schleifpapier, damit ihre Hand überhaupt einmal etwas in den Einkaufskorb legt. Aber heute hat sie den Einkauf ohne große Zeitverzögerung hinter sich gebracht. Sie spürt noch immer die Erleichterung darüber. Ein gutes Gefühl. Sie stellt die Einkaufstüten in der Küche ab und geht ins Bad. Dreht den Wasserhahn auf, greift nach der Seife und schiebt sie zwischen den Handflächen hin und her. Sie legt die Seife zurück und verteilt das Wasserseifengemisch zwischen ihren Handflächen, den Fingern und den Fingerzwischenräumen. Marie genießt das glitschige Gleiten von Haut an Haut und wiederholt es noch ein paar Mal, obwohl die Hände schon sauber sind. Denn in letzter Zeit kommt so ein Kontakt nur noch mit Seifenwasser zustande, was sie manchmal – aber nicht immer – bedauert. Sie hält die Gliedmaßen unter den Wasserstrahl, eine dunkelgraue Brühe tropft auf die weiße Keramikoberfläche des Waschbeckens. Sie trocknet sich die Hände ab und geht zurück in die Küche, zu den Tüten. Heute hat sie Eier, Avocados, Butter, Schokolade, Tee, Orangen und Karotten gekauft. Alles, was auf ihrer Einkaufsliste stand, hat sie nach Hause geschleppt. Alles ist gut gegangen. Fast. Nur das mit dem Brot ist nicht so abgelaufen, wie sie das wollte. Marie mag runde Brote. Brote, die einen an übergroße Busen erinnern. Die mit einem knusprigen Rand und einem hellen fluffigen Inneren. Die kauft sie gerne und ein solches wollte sie auch heute kaufen, als sie im Backshop stand. Aber als der Verkäufer sie dann gefragt hatte, was es denn sein dürfe, sagte sie: Das Angebot der Woche. Dabei mag sie keine Kastenbrote. Und das Angebot der Woche ist ein Kastenbrot. Und solche Brote lösen bei ihr keine Glücksgefühl aus. Sie mag die Form nicht. Mag nicht, dass diese Brote seitlich so eingeengt, in eine Form gezwängt werden. Und den Geschmack mag sie dann schon aus Prinzip nicht. Dass ihr der Satz überhaupt so leicht über die Lippen kam, hat sie selbst überrascht. Als sie in der Schlange stand und darauf wartete, bis sie an die Reihe kam, sah sie sich das auf dem Tresen aufgestellte Schild an. Lange. Es hat ihr gefallen, dass ein Brot mit so ausdrucksstarken und wohlwollenden Worten angepriesen wurde. Auch, dass für alle sichtbar war, dass da etwas angepriesen wurde. Und dann war da noch dieses kleine rote »x«. Das Angebot der Woche war günstiger, als die anderen Brote. Und auf einmal dachte sie sich, auch sie müsse sparen und die Gelegenheit nutzen. Manchmal überkam sie die Angst vor einer Altersarmut. Und kleine rote x-se erinnerten sie daran. Und jetzt wird sie vier Tage lang ein rechteckiges Brot essen müssen, weil sie sich vierzig Cent hat sparen wollen. Ein sinnloses Sparen. Der Ärger über den Fehlkauf wird vorbeigehen, das weiß sie. In ein paar Tagen wird sie sich nicht mehr daran erinnern. Auch von dem Brot wird dann nichts mehr übrig sein. Ihr Magen wird alles transformiert haben. Aber etwas anderes wird noch da sein. Das auf dem Tresen aufgestellte Schild hatte bei ihr noch etwas ausgelöst. Eine Wunschvorstellung ist aufgetaucht und hat sie beflügelt. Sie möchte das Schild austauschen und ein anderes hinstellen. Sie will das Angebot der Woche sein. Auf dem Tresen im Backshop sollte ein Schild von ihr stehen. Sie sollte angepriesen werden. Sie will diejenige sein, über die jemand dann sagen kann: Mit Marie habe ich mir soviel sparen können. Seit sie da ist, muss ich nicht mehr alleine frühstücken, habe ich nachts einen warmen weichen Körper neben mir liegen, aufmunternde Worte, wenn ich nicht weiter weiß und leuchtende Augen, in die ich blicken kann. Ich bin so froh, dass ich sie mitgenommen habe. Das ganze Zeug mit der Einsamkeit kann ich mir jetzt sparen.

 

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