Alltag # 103
Marie wachte mitten in der Nacht auf. Sie hatte geträumt, dass sich neben ihr ein Abgrund befand. Einer der nicht weggehen konnte, der neben ihr fest installiert war. Sich auch weiterhin dauerhaft dort aufhalten würde. Der Abgrund war links von ihr und Marie musste ihn tagein tagaus in Schach halten. Ihre Aufgabe war es immer wieder in den Abgrund hinein zu schauen, um besser feststellen zu können, wo genau sich die Grenze befand, zwischen ihr und dem Abgrund. Wo sie noch auf festem Grund stand und wo der Abgrund begann. Diese Linie musste sie sich ständig neu vergegenwärtigen. Sie durfte sie auf keinen Fall vergessen. Das wäre fatal gewesen. Besonders für Maries Augen war dieses Prozedere auf Dauer äußert anstrengend. Eines von Maries Augen hatte diese permanente Anstrengung so mitgenommen, dass es für sich selbst einen Ausweg gefunden hatte und nur noch bereit war, ein paar Prozent zu sehen. Jetzt musste ihr anderes Auge herhalten und die Aufgabe übernehmen. Ihr rechtes. Marie kam dann auch noch zu Ohren, dass es unterschiedliche Abgründe gibt. Auch gefräßige. Marie wollte unbedingt mehr über ihren Abgrund in Erfahrung bringen. Sie kannte sich mit ihrem noch nicht so gut aus. Sie machte sich auf die Suche nach einem Spezialisten. Sie wollte in Erfahrung bringen, welche Merkmale gefräßige Abgründe hatten und woran sie zu erkennen waren. Wodurch sie sich bestimmen ließen. Marie fand jemanden und erfuhr, dass gefräßige Abgründe einen einfach hinunterziehen können. Einfach so. Dass gefräßige Abgründe keine Grenzen akzeptieren. Sie müssten sich ab und zu einfach jemanden einverleiben, um selbst weitermachen zu können. Um weiter Abgrund sein zu können. Der Spezialist meinte, es wäre sehr wahrscheinlich, dass Ihr Abgrund sie hinunterziehen wird. Einfach mal so, weil es zum Verhalten seiner Gattung gehörte.