Wünsche # 64 ( Marie im Hotel …)

Wünsche # 64

Marie wird aus dem Schlaf gerissen. Etwas ist zu Boden gefallen. Wie kann etwas hinunterfallen, fragt sie sich, wo sie doch allein in ihrem Hotelzimmer mit Balkon ist. Sie knipst das Licht an. Alles okay. Auf den Balkon sehen kann sie nicht. Die blickdichten Vorhänge verhindern das. Jede Nacht muss sie diese schweren Vorhänge zuziehen, sonst bliebe es taghell im Zimmer. Die Balkone werden nachts angestrahlt und dagegen helfen nur die Vorhänge. Der Wunsch, bei offener Balkontür zu schlafen, mit einer Brise Meeresluft im Zimmer, bleibt deswegen unerfüllt. Für heute Nacht ist ein Sturm angekündigt worden. Windböen: 48 km/h. Wind: 28 kmh/h. Diese Daten hat ihr das Telefondisplay noch ins Zimmer gestrahlt, bevor es dann dunkel und still wurde. Marie schlägt die Bettdecke zurück, sie will raus auf den Balkon. Der Sturm ist da. Ihre Haare werden heftig durcheinander geweht. Sie weiß, was sie aus dem Schlaf gerissen hat. Der Aschenbecher fehlt. Heute Nachmittag stand er noch auf dem wackligen Tisch. Marie tastet mit einem Fuß unter dem Tisch nach ihm. Er ist da und ist heil geblieben. Sie wird ihn unter dem Tisch liegen lassen. Dort ist er gut beschützt und sie sieht nicht gerne Aschenbecher an. Sie erinnern sie an früher. An die Partys, die nie enden wollten, wegen der ungestillten Wünsche und Sehnsüchte, die die Feierenden so lange wach und beieinander hielten. Marie geht bis zur Balkonbrüstung vor, schiebt ihre flatternden Haare aus dem Gesicht und sieht dem Sturm bei der Verrichtung seiner Sturmarbeit zu. Er rüttelt an den Palmen, die Palmwedel schlagen um sich. Kein guter Zeitpunkt für eine Haarsprayreklame. Drei Wetter Taft. Schon als Kind empfand Marie diese Reklame merkwürdig. Die Vorstellung Haare vor Sonne, Regen und Wind schützen zu müssen, kam ihr vor, als müssten Zähne vor Kaubewegungen geschützt werden oder ein Magen vor Essen. Marie fragt sich, ob diese Angst, eine Frisur könnte vom Wetter vernichtet werden, schon vor dieser Werbung da war. Ihre Mutter hatte sie jedenfalls. In ihrem Badezimmerschrank stand er, der Schutz in goldenen Dosen. Der klebrige Duft von damals steigt ihr in die Nase und sie sieht die versteiften Haare ihrer Mutter wieder vor sich. Es war verboten sie nach einer Haarspraybehandlung anzufassen. Ein Reklameschild für Bootsausflüge wird umgerissen und liegt zusammengeklappt auf dem Gehsteig. Der Sturm hebt Maries Stimmung. Stühle werden umgeworfen und arrangieren sich neu. Einer liegt auf dem Rücken und streckt alle viere von sich, während ein anderer sich über ihn beugt. Aus einer gelben Tonne erhebt sich eine riesige Plastikfolie und fliegt durch die Luft. Am Stamm einer Palme hält sie sich fest und zittert am Rand. Der Sturm ist der Punk unter den Wetterzuständen, denkt Marie. Ein Reisebus bleibt stehen, drei Müllcontainer blockieren die Fahrbahn. Der Fahrer steigt aus und versucht die Abfallbehälter an den Straßenrand zu zerren. Aber sobald er zurück Richtung Bustür geht, rollen die Container wieder auf die Straße. Der Fahrer versucht es erneut. Aber er schafft es nicht. Der Busfahrer macht einen netten Eindruck. Marie beschließt, mit dem Aufzug nach unten zu fahren und ihm zu helfen. Sie fragt sich, ob er sich wundern wird, wenn sie gleich in Unterhose und Schlaf-Shirt vor ihm stehen wird. Die elektrisch gesteuerte Hoteltür geht auf. Marie tritt auf die Straße und wird vom Busfahrer gar nicht bemerkt. Auch wird sie nicht mehr gebraucht. Aus einem Polizeiauto sind zwei Polizisten gestiegen und haben das Problem gelöst. Der Busfahrer sitzt schon wieder im Bus, winkt den Polizisten zu und überrollt etwas später einen auf der Straße liegenden Badeanzug. Neonfarben. Das Polizeiauto biegt ab. Marie geht zu dem Badeanzug, hebt ihn hoch und zeigt ihn dem immer kleiner werdenden Bus. Dann überlegt sie, ob sie den Badeanzug behalten soll. Als Trophäe, als etwas das sie bei einem Sturm erobert hat. Der beinverlängernde Schnitt gefällt ihr nicht. Sie lässt ihn wieder auf die Straße fallen. Kaum auf dem Boden gelandet, trägt ihn der Wind weiter fort. Es fängt zu regnen an. Große Tropfen schlagen Marie ins Gesicht. Ihr Schlaf-Shirt ist schnell vom Regen durchtränkt. Sie macht sich auf den Rückweg. Ihr ist kalt. Die kleine Palme vorm Supermarkt hat ihren Übertopf verloren und rollt über die Straße. Ein vergessenes Sektglas wird von einem Tisch geblasen. Marie friert. Unter der heißen Dusche pustet sie den Wasserstrahl an die Duschwand und stellt sich vor, wie sie als Sturm wohl wäre. Auf dem Weg zum Bett überlegt sie, was sie alles aus den Angeln heben würde und welche Neuordnungen wichtig wären. Im Bett ist alles klar. Veränderungen müssen her. Und das macht ihr jetzt gar keine Angst. Im Gegenteil, damit kann sie gut einschlafen.

 

 

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