Alltag # 121
Sebastian geht mit ein paar Freunden Essen. Insgesamt sind sie zu sechst. Noch bevor die Speisekarten auf dem Tisch liegen, bestellen sie ein paar Flaschen Mineralwasser. Eine Bedienung bringt die Gläser und legt einen Packen laminierte Speisekarten auf den Tisch. Eine andere bringt die Wasserflaschen. Während einige noch unentschlossen sind, welches Gericht sie bestellen wollen und andere schon intensive Gespräche miteinander führen, bemerkt Sebastian, dass sein Wasserglas schon wieder leer ist. Anscheinend hat er großen Durst. Ihm kommt das nicht ungewöhnlich vor. Es ist Sommer und es ist heiß. Er schraubt den Deckel einer noch nicht angebrochenen Mineralwasserflasche ab und nimmt sich vor, auch die anderen zu fragen, wer von ihnen noch Wasser ein- beziehungsweise nachgeschenkt bekommen möchte. Er legt den Deckel auf das schöne weiße Tischtuch, hebt die Flasche hoch und zögert. Auf einmal denkt er, er würde sich mit dem Nachgießen vielleicht bloß wichtig machen wollen. Er würde die anderen bei ihren Essensüberlegungen stören oder mit seiner Frage nur unnötig in ihre schon bestehenden Gespräche eingreifen. Sebastian kippt die Wasserflasche über seinem Glas und gießt nur sich selbst ein. Außerdem, denkt er, könnte es doch auch sein, dass der eine oder die andere einfach nur ja sagt, ohne es so zu meinen. Ihm passiert das manchmal. Auch heute war ihm das wieder passiert. Am späten Nachmittag ist ihm eine Tasse Kaffee angeboten worden und er hat ja gesagt, obwohl er gar keinen Kaffee trinken wollte. Er wollte es der anderen Person leicht machen. Wollte leicht im Umgang sein. Jetzt muss er deswegen in Kauf nehmen, dass er in der Nacht nicht einschlafen kann. Sein Körper baut Koffein nicht so schnell ab. Sebastian schaut den Luftblasen zu, die in seinem Glas aufsteigen und freut sich auf das prickelnde Gefühl, dass sich gleich auf seiner Zunge ausbreiten wird. Er stellt die Flasche Mineralwasser, die er immer noch in der Hand hält, zurück auf den Tisch, greift nach dem Deckel und schraubt sie wieder zu. Joannes bemerkt das, schüttelt den Kopf und sagt: »Du hättest den anderen jetzt doch auch mal Wasser eingießen können und nicht nur dir selbst!« Sebastian wird rot. Er spürt das Klopfen in seinem Hals. Warum, fragt er sich, traut er sich nicht, mehr mit anderen zu sprechen. Auch jetzt wäre eine Gelegenheit dazu. Sebastian greift erneut nach der Flasche, reicht sie Johannes über den Tisch und bevorzugt es, wieder einmal nichts zu sagen.
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