Lebensentwürfe # 46
Marie zieht die untere Schublade der Kommode auf. Sie sucht nach der Tragetasche aus Baumwolle. In der Schublade wäre alles übersichtlicher, wenn sie sich die Mühe machen würde, die Gebrauchsgegenstände ordentlich zu sortieren. Sie stopft aber lieber alles hinein. Das bereitet ihr Freude. Anpassungshaltungen einnehmen zu müssen, liegt ihr nicht. Sie hatte zu viele davon. Marie sieht Schals, Mützen, Regenschirme, aufsteckbare Vorder- und Rücklichter für das Fahrrad, einzelne Gummi-Expander und dann den schmalen Träger einer Baumwolltasche. Mit einer Hand zieht sie daran und mit der anderen passt sie auf, dass von der übervollen Schublade nichts auf den Boden fällt. Marie hat verschiedene Brotaufstriche gekauft und drei Packungen Schokoküsse. Diese Dinge will sie mit der Baumwolltasche transportieren. Sie befüllt den Beutel und stellt ihn schon einmal in den Flur. Heute gibt es ein rauschendes Fest. Da will sie hin. Den Termin hat sie schon vor einer Woche in ihren Kalender eingetragen. Sie mag das Gefühl, am Wochenende verplant zu sein. Vor einem Jahr war sie auch schon auf dem Fest. Matthias hat sich vor mehreren Jahren in einem kleinen Dorf ein Sommerhaus gekauft und veranstaltet seitdem jeden Sommer ein Fest. Marie hat die Eindrücke vom letzten Jahr noch vor Augen. Bunte Girlanden hangelten sich von Baum zu Baum. Margeriten und wilde Rosen blühten. Aufgeklappte Bierbänke und Holztische standen unter Apfelbäumen. Schwarze Plastikwannen waren im Schuppen und mit Eiswürfel, Bier- und Weinflaschen befüllt. Marie hatte sich wohlgefühlt. Das gelingt ihr nicht immer. Manchmal kann sie mit Festen nichts anfangen. Weder mit den Menschen, die dort herumstehen noch mit sich selbst. Marie greift nach einer dünnen Jacke und stopft sie ebenfalls in den Beutel. Vielleicht wird es auf dem Land doch kühler sein, als sie jetzt vermutet. Die Abfahrtzeit des Zuges hat sie im Kopf. Gleich nach dem Aufwachen hat sie sich eine passende Zeit ausgesucht. Sie geht ins Bad, putzt sich die Zähne, trägt Lippenstift auf und tupft sich davon auch noch etwas auf die Wangen. Sie freut sich schon auf Menschen, die dicht beieinander stehen werden, weil sie sich mögen und auf das Gefühl, nichts erfüllen zu müssen. Sich einfach dem Abend ergeben zu können. Den Gesprächen. Den kleinen Berührungen, die bei den Begrüßungen stattfinden. Marie schlüpft in die Schuhe, bindet sich die Schnürsenkel zu und sieht auf die Uhr. Sie hat immer noch genügend Zeit, bevor sie los muss. Sie wollte absichtlich so früh fertig sein. Das erhöht ihre Chancen durch die Tür zu kommen. Denn es kann passieren, dass sie vor der Tür stehenbleibt und nicht weiterkommt. Als Jugendliche kam sie oft nur bis zur Haustür. Denn ihre Mutter hatte die Hoheitsgewalt über den Schlüssel. Das hieß, die Haustür blieb zu, wenn ihre Mutter das so wollte. Und sie wollte das oft. Und dann war Maries Welt an der Haustür schon zu Ende. Dann gab es kein: in die große weite Welt hinein. Kein sommerliches Badengehen, kein Freundinnen besuchen gehen, kein Treffen in der Eisdiele. Das Gefühl nicht durch die Tür zu kommen, steckt ihr immer noch in den Knochen. Die Angst, ihre Welt könnte auch heute schon wieder an der Haustür zu Ende sein. Das Gefühl, sie müsse sich zurückhalten. Marie würgt ihre Gedanken ab und sagt sich, heute wird mir der Schritt durch die Tür ganz einfach vorkommen. So einfach, wie wenn man im Buch eine Seite umschlägt. Da überlegt man auch nicht groß, wie man das macht, man macht es einfach. Es läuft ganz automatisch ab. Nichts daran ist unangenehm aufgeladen. Und genauso wird es mir heute mit der Tür gehen. Heute werde ich einfach hingehen, sie öffnen und durchgehen. Das steht zumindest auf meiner Wunschliste ganz oben.